Das Jahr 1923 macht auf dem Büchermarkt Furore. Das mag zum einen an der „Jubiläumitis“ (Marco Demantowsky) liegen, die uns mit einem 100-Jahre-Schlepptau immer neue Anlässe bietet, Aufmerksamkeit und Kaufverhalten zu stimulieren. Zum anderen bündelt dieses Jahr wohl wie kein anderes die Stereotypen von der Weimarer Republik, die medial derzeit en vogue sind: Babylon Berlin, Grusel und Faszination, Tanz auf dem Vulkan. Und in der Tat entsprechen eine Reihe von Neuerscheinungen zum Jahr 1923 exakt diesen Erwartungen, indem sie – frei nach der so erfolgreichen Vorlage von Florian Illies‘ „1913“ – wie im Zeitraffer kurze Episoden, biografische Abrisse, Ereignisse aus der Welt der Kultur präsentieren, meist sogar mit der chronologischen Struktur des Kalenders, um ein Zeitbild dieses Jahres einzufangen.1 Es ist aber auch eine erstaunliche Vielzahl von geschichtswissenschaftlichen Büchern erschienen, die den Anspruch erheben, im Jahr 1923 gewissermaßen den Nukleus der Ambivalenz der Weimarer Republik zu erkennen, eben nicht als Menetekel ihres Scheiterns, sondern auch als Möglichkeit, der Krise zu entkommen.2
Die wirtschaftshistorische Grundlage, die Geschichte der Inflation in Deutschland zwischen 1914 und 1923, bietet Sebastian Teupe, der Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bayreuth lehrt und mit einer transatlantischen Studie zur „Geldillusion“ des Goldstandards von Mitte des 19. Jahrhundert bis in die 1920er-Jahre habilitiert. In seinem klugen Buch, das er ausdrücklich als Überblick versteht, zeichnet er Ursachen und Wirkungen der Geldentwertung seit dem Ersten Weltkrieg nach und betont die Multikausalität des Geschehens. Neben der bis heute keineswegs elaborierten wirtschaftswissenschaftlichen Kompetenz, das Phänomen Inflation zu erklären und die Politik entsprechend zu beraten, gab (und gibt) es handfeste nationale Interessen des Staates wie der Unternehmer, eine lockere Geldpolitik zu betreiben, um Schulden leichter abzubauen. Und selbstredend spielte auch damals die internationale Finanzpolitik eine gewichtige Rolle, eben nicht nur die alliierten Reparationsforderungen, sondern ebenso die Kapitalmärkte, die das Vertrauen in die Stabilität der deutschen Währung verloren. Entsprechend verteilten sich Gewinner und Verlierer der Hyperinflation, unter der vor allem diejenigen zu leiden hatten, die auf Geldzahlungen angewiesen waren und über keine oder nur wenige Sachwerte verfügten. Die vielfältigen, verflochtenen Wirkungsweisen der Inflation in Deutschland verdeutlicht Teupe in einem anschaulichen Kapitel, in dem er den (fiktiven) Weg eines 100.000-Mark-Scheins von der Reichsdruckerei in Berlin bis nach Bayern über etliche Stationen hin verfolgt. Recht klar wird mit seinem Buch, wie stark die unterschiedlichen, widersprüchlichen Krisennarrative zur Hyperinflation sowohl die Wirtschaftspolitik in der späten Weimarer Republik und im Nationalsozialismus beeinflussten und bis in die Diskussionen der Gegenwart reichen.
Die Jahresanalysen der Historiker Jones, Longerich, Reichel und Ullrich ähneln sich zwar im grundlegenden Narrativ, das von der Vielfältigkeit und Tiefe der Krisen des Jahres 1923 handelt, aber auch von deren erfolgreicher Bewältigung, doch sie unterscheiden sich durchaus mit jeweils eigenen Akzenten. So stellt der international renommierte Holocaust-Historiker und Hitler-, Himmler-, Goebbels-Biograph Peter Longerich sein Buch ganz unter den Begriff der Krise, allerdings nicht in dem ambivalenten Sinn, wie ihn Rüdiger Graf für die Weimarer Republik entfaltet hat, für den Krise auch eine Zukunftsorientierung enthält3, sondern in einem engen, zugespitzten Verständnis: als Erschütterung in einem begrenzten Zeitraum mit beschleunigten, häufig dramatischen Entscheidungen, als ein systemisch existenziell bedrohendes Phänomen, das so auch von den Zeitgenoss:innen wahrgenommen wird.
Longerichs Vierphasenmodell beginnt mit den strukturellen Konflikten, die den Ausgangspunkt der Krise 1923 darstellen, also die tiefe Spaltung der Gesellschaft mit jeweils gegensätzlichen politischen Teilkulturen, die Gewaltbereitschaft zahlreicher Gruppen, die geringe Zahl an überzeugten Demokraten, der Konflikt zwischen Reich und den Ländern, der Nationalismus und die Bürde des Versailler Vertrages sowie ökonomisch die Schwäche der Industrieproduktion und die seit dem Weltkrieg bereits grassierende Inflation. In der zweiten Phase, dem Vorraum der Krise, spitzten sich diese Faktoren durch die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets und die wirtschaftlich desaströse Politik des „passiven Widerstands“ zu, den Reichskanzler Cuno – so Longerichs Kritik – fahrlässig einleitete, vor allem auf Drängen des Großindustriellen Hugo Stinnes, der sich durch das Scheitern der Besatzung eine Revision des Versailler Vertrages erhoffte. Die dritte Phase umfasste die eigentliche Krise, „die Phase äußerster Anspannung, in der die Erwartung vorherrschte, die überhandnehmenden Konflikte würden sich kurzfristig in einer finalen Auseinandersetzung entladen“ (S. 10), sei es eine Hungerkatastrophe, das Auseinanderfallen des Reiches, Bürgerkrieg oder Diktatur. Und schließlich die vierte Phase, die nach den missglückten Putsch- und Staatsstreichversuchen im Herbst 1923 einerseits und dem Gelingen einer Währungsreform durch Gustav Stresemann andererseits eine allmähliche Stabilisierung der Lage eintrat. So akkurat die Voraussetzungen und Dynamiken der deutschen Krise beschrieben sind, recht überzeugen mag das Vierphasenmodell nicht. Was Phase Zwei, den Vorraum der Krise, von der vorangegangenen und nachfolgenden Phase kategorial unterscheidet, ist nicht klar, und da gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Krisen durchaus differente Ursachen, Auslöser und Verläufe haben können, löst sich auch der Verallgemeinerungsanspruch des Modells nicht ein.
Longerichs Schwerpunkt liegt auf der Politik, vor allem auf den vielfältigen Bestrebungen der Rechten, die Republik zu stürzen. Während der allgemeine Blick meist allein auf den Hitler-Ludendorff-Putsch im November gerichtet ist, schildert Longerich ausführlich den engagiert betriebenen und nur knapp verhinderten Versuch von Reichswehrchef General Hans von Seeckt in Verein mit Industriellen und rechten Politikern, die Regierung Stresemann durch ein „Direktorium“ zu ersetzen, das, auf das Militär gestützt, jenseits der Verfassung regieren sollte. Was, vor allem durch die Überwindung der Währungskrise, im Herbst 1923 noch abzuwehren gelang, führte dann im Winter 1932/33 im nächsten Anlauf zur Diktatur.
Für Peter Reichel, bis 2007 Professor für Historische Grundlagen der Politik an der Universität Hamburg und bekannt durch Bücher wie „Der schöne Schein des Dritten Reiches“ (1991) oder „Vergangenheitsbewältigung in Deutschland“ (2001), ist Hans von Seeckt hingegen mehr Teil der Lösung als Teil des Problems. Dass Ebert ihm noch in der Nacht zum 9. November 1923 die vollziehende Gewalt übertrug, stellte in Reichels Blick eine schnelle und kluge Handlung dar, weil damit der General auf die Seite der Republik gebracht und die Gefahr einer Rechtsdiktatur, wenn auch nicht gebannt, so doch minimiert wurde.
Reichels Buch ist explizit eine politische Geschichte. Im Kapitel „Gefahr von außen“ behandelt er die Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges im Ruhrgebiet und dessen Besetzung 1923, gefolgt von „Gefahr von innen“ mit dem Schwerpunkt Bayern, beginnend mit der Räterepublik und deren gewaltsamen Niederschlagung 1919 über die „Ordnungszelle Bayern“, die sich stets vom Reich distanzierte und Verfassungskonflikte provoziert bis hin zum Hitler-Ludendorff-Putsch im November 1923. Im dritten Teil „Rettung der Republik?“ geht Reichel vor allem mit den Sozialdemokraten, mit Ausnahme von Friedrich Ebert, ins Gericht, die der dramatischen Lage im Herbst 1923 nicht gerecht geworden seien und entgegen aller politischen Vernunft die Regierung Stresemann verlassen und das Misstrauensvotum gegen ihn im November unterstützt hätten. Als die SPD diese „Dummheit“ im März 1930 wiederholt habe, „beschleunigte sie durch die Preisgabe der parlamentarischen Demokratie die Selbstzerstörung Weimars – und vereinfachte die Machtübertragung auf Hitler drei Jahre später“ (S. 167) – eine eigenwillige Interpretation, denn wenn es eine politische Kraft gab, die sich für den Erhalt der parlamentarischen Demokratie eingesetzt hat, dann zweifellos die Sozialdemokratie. Reichel übersieht auch den starken Unmut an der sozialdemokratischen Basis über das nur zögerliche Verhalten der Regierung Stresemann, im Verfassungskonflikt gegen Bayern einzuschreiten, während gegen die legal gebildeten, linken Regierungen in Sachsen und Thüringen die Reichswehr eingesetzt wurde. In einzelnen Bezirken der SPD wurden sogar Stimmen laut, Ebert, der die Politik Stresemanns unterstützte, aus der Partei auszuschließen.
Weniger die Kommandohöhen der Politik als die Vorgänge an der gesellschaftlichen Basis interessieren wiederum Mark Jones, Assistant Professor am University College in Dublin und hierzulande bekannt geworden durch sein Buch „Am Anfang war Gewalt“ (2017), mit dem er die Geschichtsschreibung zur Revolution 1918/19 aufwirbelte, weil er die gewaltsame Geburt der Weimarer Republik in den Blick nahm. Auch in seinem neuen Buch stellt er wieder die Gewalt in den Mittelpunkt. „Die hier erzählte Geschichte“, so der Autor, „handelt von dem, was wir entdecken, wenn wir das Mikroskop schärfer stellen, um individuelle Konflikte in den Fokus nehmen.“ (S. 12) In der Tat versammelt Jones eine Vielzahl von einzelnen Gewaltgeschichten: das Mordattentat auf Walther Rathenau 1922, Übergriffe der französischen und belgischen Soldaten während der Ruhrbesetzung sowie Widerstands- und Sabotageakte, denen auf beiden Seiten zahlreiche Menschen zum Opfer fielen, sexuelle Gewalt gegen deutsche Frauen, aber auch deren öffentliche Demütigung durch junge, deutsche Männer, wenn diese ihnen unterstellten, sich mit Besatzungssoldaten eingelassen zu haben, und nicht zuletzt antisemitische Ausschreitungen überall in Deutschland in der politisch aufgeladenen und polarisierten Atmosphäre diesen Jahres. Die Hyperinflation habe eine „Kultur des Hasses“ (S. 202) geschaffen. Allerdings betont auch Jones, dass die Weimarer Republik sowohl die Saat, die zur Vernichtungsgewalt des NS-Regimes führte, als auch die Möglichkeit, sich in ein demokratisches, friedliches Europa zu integrieren, in sich trug und zur Jahreswende 1923/24 keineswegs entschieden war, welche Richtung die Republik nehmen würde. Allerdings, resümiert Jones, so unvollkommen der Sieg der Demokraten 1923 gewesen sein mag, so sei er doch ihr wohl größter Erfolg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen, und die Deutschen heute hätten allen Grund, den 100. Jahrestag zu feiern – ohne allerdings die Lehre der Geschichte zu vergessen: dass die Demokratie gegen Gewalt und diskriminierende Rede geschützt werden müsse.
Das ist ein etwas altväterlicher Schluss, vor allem wenn der Untertitel des Buches „Ein deutsches Trauma“ heißt. Ganz ohne Nachwirkungen waren die Erfahrungen von Gewalt, Verarmung und existentieller Unsicherheit nicht. „Unser bewusstes Leben begann in einer Zeit beklemmender Ungewissheit“, schrieb Klaus Mann, Jahrgang 1906, zurückblickend über das Lebensgefühl seiner Generation. „Da um uns herum alles barst und schwankte, woran hätten wir uns halten, nach welchem Gesetz uns orientieren sollen? Die Zivilisation, deren Bekanntschaft wir in den zwanziger Jahren machten, schien ohne Balance, ohne Ziel, ohne Lebenswillen, reif zum Ruin, bereit zum Untergang.“4
Gewissermaßen eine Synthese der verschiedenen, bislang behandelten Ansätze bietet Volker Ullrich. Der promovierte Historiker und langjährige ZEIT-Redakteur durchmisst das Jahr 1923 ebenfalls entlang der bekannten Themen von der Ruhrbesetzung über Hyperinflation, Diktaturgefahr, Oktoberaufstand der KPD in Hamburg, Hitler-Ludendorff-Putsch in München, Separatismus im Rheinland und Währungsstabilisierung. Jedes der Themen wird in seinem im Vergleich umfangreichsten Buch profund dargestellt, obwohl Ullrich eingangs bedauert, dass er wegen der Pandemiebeschränkungen auf Archivrecherchen verzichten musste. Was sein Buch auszeichnet, sind neben zeitgenössischen Briefen die eingeflochtenen Tagebuchaufzeichnungen unter anderem von Harry Graf Kessler, Victor Klemperer, Hedwig Pringsheim, Betty Scholem, Thea Sternheim und nicht zuletzt Erich Mühsam, dessen ausführliche und lesenswerte Tagebücher der engagierte Berliner Verbrecher-Verlag herausgebracht hat. Dadurch gewinnt Ullrichs Buch, dessen politische Ebene wie die anderen weitgehend die der Kabinette bildet, eine zusätzliche, anschauliche und systematische Alltagsdimension, mit der die Erfahrungen, Hoffnungen, Befürchtungen der Gesellschaft zu Worte kommen.
Ein eigenes Kapitel widmet Ullrich der „Kultur im Schatten der Krise“. Darin blättert er noch einmal den Aufstieg des Kinos auf und verbindet die Filmnotizen sehr schön mit den Tagebucheintragungen des passionierten Kinogängers Victor Klemperer. Obwohl Ullrich darauf verweist, dass der größte Filmerfolg der Ufa 1922/23 der vierteilige, preußenselige „Fridericus Rex“ mit Otto Gebühr in der Hauptrolle war, bleibt sein Blick doch auf die kulturelle Moderne gerichtet, auf Max Reinhardt, Georg Kaiser, Bertolt Brecht, Ernst Toller, Franz Kafka, Walter Gropius etc. Die Provinz, die Heimatdichtung, das Volkstheater, die Naturlyrik, Landschaftsmalerei und Abreißkalender, die mindestens ebenso stark die Kultur Weimardeutschlands prägten wie die urbane Avantgarde, geraten – wieder einmal – an den Rand.
Alle vier Bücher von Jones, Longerich, Reichel und Ullrich offenbaren ein grundsätzliches Problem der Narration. Denn die Fokussierung auf ein Jahr, in dem sich so viel parallel ereignet, lässt sich kaum in die Form einer linearen Erzählung, die ein Buch darstellt, bringen. Gerade bei der spannenden Erzählweise Ullrichs wünscht man sich als Leser:in, dass die verschiedenen Stränge parallel geschildert werden, gewissermaßen wie ein Bild, auf dem mit einem Blick die Gesamtheit erfasst werden kann. Doch ein Buch ist kein Bild, und so müssen die Kapitel, auch wenn der Plot aller hier genannten Bücher auf die dramatische politische Zuspitzung im Herbst 1923 zielt, immer wieder neu ausholen. Zudem sind sie damit mit dem Problem der Zeit konfrontiert, die dynamisch oder retardierend, gestaucht oder gedehnt, fließend oder zerrissen, – in keinem Fall einheitlich oder gleichförmig verläuft, wie schon Reinhart Koselleck den Historiker:innen ins Stammbuch geschrieben hat und wie in jüngster Zeit Achim Landwehr fortdenkt, was in der Erzählweise dieser Bände keinen Niederschlag findet. Vielleicht ermuntern die eingangs erwähnten, konventionell konzeptualisierten feuilletonistischen „Jahresbücher“, die zweifellos vor allem einer Marktlogik folgen, dazu, auch wissenschaftlich neue, kreative historische Erzählformen zu finden, weit stärker als bisher mit visuellem Material oder mit digitalen Elementen zu arbeiten, um die strenge lineare Narration zu durchbrechen und mit hybriden Hypertexten zu experimentieren.
Wenngleich nicht in methodischer Hinsicht, so scheint doch die Möglichkeit der inhaltlichen Spannbreite in dem von Nicolai Hannig und Detlev Mares herausgegebenen Sammelband auf, der von seiner Struktur her keine durchkomponierte Erzählung benötigt, sondern in seinen Beiträgen unterschiedliche Perspektiven einnehmen kann. Neben den bekannten Themen untersucht Eva-Maria Roelevink zum Beispiel das Jahr 1923 anhand von Hans Falladas Roman „Wolf unter Wölfen“, und Julia Paulus behandelt die geschlechterpolitischen Diskurse dieser Zeit – ein Manko, das bei den hier rezensierten Monographien auffällt, in denen kaum reflektiert wird, dass die Kabinettspolitik sämtlich von Männern gemacht wurde. Und mehrere Beiträge richten ihren Blick über Deutschland hinaus, behandeln das Jahr 1923 in der Ukraine, der Türkei und Japan, wo sich am 1. September ein verheerendes Erdbeben nahe Tokyo ereignete, das über 100.000 Menschen das Leben kostete und einen tiefen Einschnitt in der japanischen Geschichte bildete. In solchen transnationalen Beiträgen ist zu erkennen, welches Potential in einer solchen Horizonterweiterung steckt, wie ja schon Bücher von Adam Tooze oder Jörn Leonhard zeigten.5
Einig sind sich alle Autorinnen und Autoren – wobei die Zahl der Männer deutlich überwiegt, was möglicherweise mit dem vielfach traditionell politikgeschichtlichen Blickwinkel zu tun hat, in dem vor allem Historiker geübt sind –, dass 1923 eben kein ausschließliches Katastrophenjahr war, sondern die Republik unter Beweis stellte, dass sie eine schwere politische, ökonomische wie gesellschaftliche Krise zu meistern in der Lage war. Insofern stimmen diese Bände auch mit der neueren Historiographie zur Weimarer Republik überein, diese nicht von ihrem Scheitern her zu betrachten, sondern von den Aufbrüchen und Möglichkeiten her.6 So sehr indes alle Autor:innen zu Recht betonen, dass vom Jahr 1923 keine zwangsläufige Linie zu 1933 gezogen werden könne, so wäre doch zu hinterfragen, inwieweit das Krisenmanagement, das Ebert und Scheidemann gelang, auch gesellschaftliche Tiefenwirkung zeitigte. Martin Geyers grundlegende, bis heute unumgängliche Erfahrungsgeschichte der Inflationszeit offenbart, dass die sozialen und mentalen Verwerfungen den Zusammenhalt der Gesellschaft, das soziale Vertrauen nachhaltig zerstörten.7 Warten wir also ab, was die kommenden 100-Jahre-Bücher zu Tage fördern werden.
Anmerkungen:
1 Christian Bommarius, Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923, München 2022; Jutta Hoffritz, Totentanz. 1923 und seine Folgen, Hamburg 2022; Peter Süß, 1923. Endstation. Alles einsteigen!, Berlin 2022.
2 Das Buch von Ralf Georg Reuth, 1923. Kampf um die Republik, München 2023, konnte nicht mehr einbezogen werden.
3 Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008; vgl. die Rezension von Ulrich Sieg, in: H-Soz-Kult, 30.10.2008, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-11205 (19.08.2023).
4 Klaus Mann, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Frankfurt am Main 1952 (engl. Originalausg. 1942), S. 120.
5 Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015; siehe das H-Soz-Kult-Review-Symposium, Okt./Nov. 2015, https://www.hsozkult.de/text/id/texte-2859 (19.08.2023); Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018; siehe die Rezension von Daniel Brückenhaus, in: H-Soz-Kult, 29.08.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27431 (19.08.2023).
6 Vgl. Nadine Rossol / Benjamin Ziemann (Hrsg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021; siehe den Rezensionsessay von Florian Greiner, Weimar überall. Zur Hochkonjunktur der ersten deutschen Demokratie, in: H-Soz-Kult, 19.12.2022, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-113111 (19.08.2023).
7 Martin H. Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne. München 1914–1924, Göttingen 1998; siehe die Rezension von Cornelia Rauh, in: H-Soz-Kult, 02.08.1998, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-5576 (19.08.2023).