Cover
Titel
Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931


Autor(en)
Tooze, Adam
Erschienen
München 2015: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
719 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Graf, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Wie schon die englischsprachige Originalausgabe, „The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order, 1916-1919“, ist auch die deutsche Übersetzung von Adam Toozes neuem Buch nach ihrem Erscheinen breit und positiv bis enthusiastisch rezensiert worden. Mark Mazower sieht „The Deluge“ als „bold and persuasive reinterpretation of how the US rose to global pre-eminence“, für Anselm Doering-Manteuffel ist „Sintflut“ „ein großer Wurf“, der aus der Literaturflut zum Ersten Weltkrieg herausragt, Martin H. Geyer lobt die „erfrischende, gelegentlich provozierende“ Interpretation der Entstehung der liberalen Weltordnung, die jeder lesen müsse, der verstehen wolle, wie die USA zu der Übermacht wurden, die sie heute sind, und für Eckart Conze schließlich stößt Tooze „neue Tore“ auf und erhellt die „Entstehung der Welt, in der wir noch heute leben“.1

All diese Lobeshymnen sind vollkommen berechtigt. Im Unterschied zu den vielen anderen Forschungssynthesen, welche die Geschichte eines Landes, einer Region oder der Welt in einer Epoche darstellen sollen, zeichnet sich „Sintflut“ durch eine pointierte und provokante These, eine innovative Periodisierung sowie eine klare und stringente Gedankenführung aus, deren Bezug auf die Kernthese auch auf 640 Seiten immer deutlich bleibt. Im Unterschied zu Globalgeschichten, die Ereignisse in verschiedenen Weltregionen nebeneinander stellen, sind Toozes Sprünge von den USA nach Europa (v.a. Großbritannien, Deutschland und Frankreich), in den Mittleren Osten, nach Russland, China und Japan immer durch tatsächliche wirtschaftliche Verbindungen, politische Verhandlungen, Einflussnahmen oder Wahrnehmungen motiviert und damit nachvollziehbar. Darüber hinaus offeriert Tooze mit „Sintflut“ tatsächlich eine Form der Geschichtsschreibung, die Orientierung in der Gegenwart liefern kann, indem er die Entstehung der US-amerikanischen Dominanz, die auch die gegenwärtige Weltordnung kennzeichnet, am Ende des Ersten Weltkriegs lokalisiert, ohne dabei jedoch in präsentistische Fallen zu tappen. Anders als der Titel suggeriert, geht es Tooze dabei allerdings vor allem um die Jahre von 1916, als die Produktion in den Vereinigten Staaten die des Britischen Empire überholte, bis zum Dawes-Plan 1924; auf die folgenden sieben Jahre verwendet er nur knapp 60 Seiten.

Auch wenn ich die positive Einschätzung von Toozes Buch im anglo-amerikanischen Raum und in Deutschland grundsätzlich teile, erscheinen mir doch zwei Punkte bedenkenswert, die in der bisherigen Diskussion kaum Niederschlag gefunden haben. Zum einen gilt es, den eigentlichen provokativen Charakter seiner These über die Herausbildung der US-amerikanischen Hegemonie deutlicher zu konturieren. Ungeheuer kenntnisreich und mit großem Gespür für aussagekräftige Details beschreibt Tooze die Dominanz der Vereinigten Staaten am Ende des Ersten Weltkriegs, die eben nicht nur die Ablösung Großbritanniens als Hegemonialmacht, sondern eine Dominanz neuen Typs bedeutet habe (S. 266). Denn um das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg zu besiegen, hatten die Länder der Entente Schulden bei den USA angehäuft, die sie nun durch und durch von Washington und der Wall Street abhängig machten. Die luzide Darstellung dieser wirtschafts- und finanzgeschichtlichen Zusammenhänge sind die stärksten Passagen des Buches, an denen auch sein Kernargument hängt. Ein Bild Stanley Hoffmanns zitierend, sieht Tooze die Staatengemeinschaft als „Chain Gang“, als Kolonne von Häftlingen, die mit Ketten aneinander gebunden sind, alle von verschiedener Statur, aber mehr oder weniger gewalttätig, manche mit multiplen Persönlichkeiten, die miteinander im Konflikt liegen, aber auch aufeinander angewiesen sind, wenn sie etwas erreichen wollen (S. 42f.). Anders als während des Kalten Krieges angenommen, als man den Beginn des Konflikts zwischen den USA und der Sowjetunion ans Ende des Ersten Weltkriegs zurückverlegte, habe die Welt nach 1919 aber wesentlich mehr mit jener nach 1989 gemein gehabt, welche die USA als einzige verbleibende Supermacht dominierten (S. 20). Dabei habe sich die amerikanische Dominanz schon in der zeitgenössischen Wahrnehmung auf drei Elemente gestützt: moralische Autorität, militärische Macht und wirtschaftliche Überlegenheit (S. 17).

Aus heutiger Perspektive erscheint diese These zunächst so überzeugend wie letztlich unkontrovers. Mehr noch: Indem Tooze den Nationalismus und Rassismus Woodrow Wilsons darstellt und argumentiert, dass der US-amerikanische Anti-Imperialismus auf dem Glauben basiert habe, sich mit weicheren Mitteln durchsetzen zu können, insofern US-amerikanische Firmen bei der Anwendung des Prinzips der „open door“ die Oberhand behalten würden, bedient er heute gängige Auffassungen über die Funktionsweise der US-amerikanischen Machtentfaltung im 20. Jahrhundert. Provokant wird die These eigentlich erst, wenn man sich Toozes Gewährsmänner anschaut, welche die neuartige Dominanz der USA schon zeitgenössisch erkannten: Winston Churchill, Adolf Hitler und Leo Trotzki. Aus Toozes primär wirtschafts- und machtpolitischer Perspektive verblassen 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges die ideologischen Konflikte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nationalsozialismus und Kommunismus werden genauso wie der italienische und der japanische Faschismus zu politischen Bewegungen, die sich gegen die Festschreibung der US-amerikanischen Hegemonie mit den Mitteln des internationalen Liberalismus richteten. Denn die Festlegung des Status Quo sei nach dem Ersten Weltkrieg schließlich auch gelungen, wie zum Beispiel mit dem Washingtoner Flottenabkommen, dem Vertrag von Locarno, dem Briand-Kellogg Pakt und den Reparationsregelungen, bei denen die USA standhaft einen Erlass der alliierten Kriegsschulden ablehnten. Die immer wieder behauptete Schwäche der liberalen Demokratie in der Zwischenkriegszeit relativiert Tooze also, indem er ihre tatsächliche Stärke herausarbeitet (S. 27). In letzter Konsequenz erscheinen dann allerdings der deutsche und japanische Expansionismus der 1930er-Jahre nicht als Folge bestimmter Ideologien, sondern vielmehr als die Versuche eines Verlierers und eines Siegers des Ersten Weltkriegs, aus der weltpolitischen Zweitrangigkeit gegenüber den dominanten Vereinigten Staaten auszubrechen. Auch wenn diese Position, dass es sich um einen machtpolitischen Konflikt handelte, dem ideologische Faktoren nachgeordnet waren, nicht ganz neu ist, dürfte sie doch auch unter Berücksichtigung gegenwärtiger Konfliktlagen einiges Diskussionspotenzial bergen.

Der zweite Aspekt, der in den bisherigen Rezensionen kaum behandelt wurde, betrifft die Art der Geschichtsschreibung, für die Adam Tooze sich in Sintflut entschieden hat. Inhaltlich bietet Tooze viel Überraschendes, indem er ältere und neuere Deutungsmuster korrigiert und sich beispielsweise genauso gegen eine rein negative Lesart der Friedensverträge und Reparationsverhandlungen wendet wie auch gegen Erez Manelas These des „Wilsonian Moment“, in dem nationale Bewegungen weltweit durch Wilsons Rhetorik angestachelt worden seien. Zugleich handelt es sich aber methodisch um eine Form der Geschichtsschreibung, die von den hierzulande wie im anglo-amerikanischen Raum in den letzten Jahrzehnten ausgiebig geführten Theorie- und Methodendebatten gänzlich unberührt zu sein scheint. Die Dynamik der Erzählung und der Sog, den ihre Lektüre im Unterschied zu vielen anderen Gesamtdarstellungen erzeugt, resultiert aus einer gewaltigen Komplexitätsreduktion, die aber an keiner Stelle des Buches als solche thematisiert wird. Bei Tooze machen Männer unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen Geschichte, indem sie gegeneinander Krieg führen oder miteinander verhandeln. Abgesehen von der nuancierten Schilderung der Ablehnung der Pariser Friedensordnung in den Vereinigten Staaten dominiert durchgehend die Ebene der Außenpolitik, und innenpolitische Konstellationen und Probleme tauchen allenfalls am Rande auf.

Nun ist es sicher wohlfeil, einem Buch vorzuwerfen, was in ihm alles nicht thematisiert wird, und einer Geschichte des Beginns der US-amerikanischen Dominanz im 20. Jahrhundert etwa, dass in ihr auf 640 Seiten nur fünf Frauen erwähnt werden. Problematischer erscheint mir dagegen, dass Tooze in seiner Darstellung die Grenzen des eigenen Ansatzes nicht diskutiert, sondern vielmehr davon auszugehen scheint, die tatsächlich treibenden Kräfte der Geschichte zu bestimmen. Das führt immer wieder dazu, dass er erklärt, wie etwas eigentlich zu bewerten sei, um dann zwar zu konstatieren, dass die Zeitgenossen es anders gesehen haben, diese Sichtweisen aber kaum zu erklären. So habe Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg beim Blick auf die Landkarte angesichts des Zusammenbruchs der osteuropäischen Reiche eigentlich größer gewirkt als zuvor (S. 338), Versailles sei im Vergleich zum Ende des Zweiten Weltkriegs gar nicht so dramatisch gewesen (39ff.), und der Young-Plan habe die Reparationsfrage entschärft, „indem er das Zahlungssystem entpolitisierte“ (S. 609). Tooze scheint immer sehr genau zu wissen, was die historischen Akteure befürchteten oder intendierten, und verwendet deutlich mehr intellektuelle Kraft auf die Bestimmung ökonomischer, militärischer oder politischer Konstellationen als auf die Untersuchung von deren zeitgenössischer Wahrnehmung und Erfahrung. Weil aber historische Situationen erst in den Deutungen durch die Zeitgenossen handlungswirksam werden, wäre es hier gewinnbringend, auch deren multiple Ausdeutung und Ausdeutbarkeit genauer zu rekonstruieren. Damit gerieten allerdings der Fluss der Erzählung und der Schwung der Argumentation zwangsläufig ins Stocken, so dass Toozes Erzählung sich weniger sintflutartig als vielmehr wie ein weit verzweigtes Flussdelta entfaltet hätte. Man kann also aus guten Gründen auch darüber glücklich sein, dass er das nicht getan hat.

Anmerkung der Redaktion: Eine Übersicht über das Review-Symposium zu Adam Tooze: Sintflut finden Sie hier: <http://www.hsozkult.de/text/id/texte-2859>.

Anmerkung:
1 Mark Mazower, The Deluge, in: The Guardian, 19.6.2014; Anselm Doering-Manteuffel, Adam Tooze: The Deluge, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10, <http://www.sehepunkte.de/2014/10/25158.html> (15.10.2014); Martin H. Geyer, Ohne Sieger, in: Süddeutsche Zeitung, 25.5.2015; Eckart Conze, Wie die USA zur Weltmacht aufstiegen, in: Süddeutsche Zeitung, 25.5.2015.

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