Rituale im Mittelalter Lust und Last eines Forschungsdesigns

Rituale im Mittelalter Lust und Last eines Forschungsdesigns

Organisatoren
Sonderforschungsbereich 619 „Ritualdynamik“, Historisches Seminar der Universität Heidelberg
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.07.2004 - 03.07.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Gerald Schwedler, Universität Heidelberg

Am 2. und 3. Juli veranstalteten der Heidelberger Sonderforschungsbereich 619 „Ritualdynamik“ und das Historische Seminar der Universität Heidelberg gemeinsam die Tagung „Rituale im Mittelalter - Lust und Last eines Forschungsdesigns“.

Philippe Buc (Stanford University) arbeitete in diesem Sommersemester als Gastprofessor des SFB 619 „Ritualdynamik“ am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Sein Buch „The Dangers of Ritual“ (Princeton 2001) und seine kritische Beurteilung mancher Aspekte der Ritualforschung boten den Anlass, auf einer von ihm in Zusammenarbeit mit Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter veranstalteten Tagung die Diskussion zum Forschungsparadigma „Rituale“ voranzutreiben.
Philippe Buc übernahm auch den Eröffnungsvortrag, bei dem er pointiert noch einmal seine Position zusammenfasste: Die heutige „Ritualforschung“ kann nicht umhin, den Begriff „Ritual“ selbst zu benutzen, der aber ein moderner Forschungsbegriff ist. Damit werden Modelle und Konzepte der Moderne auf die untersuchten Handlungen im Mittelalter übertragen, die das vorläufige Ergebnis eines Diskurses der jeweiligen Forschergeneration sind. Dies beginnt bereits bei der Modellbildung und der Auseinandersetzung mit Zeremonien und Ritualen in der Reformationszeit, in der mit katholischen, gemäßigt protestantischen und calvinistisch geprägten Entwürfen versucht wurde, den jeweiligen Deutungsanspruch durch Begriffsbildung und -belegung deutlich zu machen. Dies fand weder mit den soziologischen Distinktionen im Ansatz von Emile Dürkheim noch in den ethnologischen und anthropologischen Theorien ein abschließendes Ergebnis: Ritual ist und bleibt ein „gefährliches“ Deutungsmodell. Hinzu kommt, dass die Kenntnisse über Rituale nahezu ausschließlich aus Texten stammen, die zum einen die Symbolsprache des Mittelalters reduzieren und andererseits die Handlungen bereits selbst interpretieren. So betont Buc mit Nachdruck, dass vor der Untersuchung der Funktionsweise eines Rituals das intentionale „Funktionieren“ des überliefernden Textes untersucht werden muss.

Mayke de Jong (Utrecht) nahm Stellung zu der in den Vereinigten Staaten sehr scharf geführten Debatte zwischen Philippe Buc und Geoffrey Koziol.1 Sie kommentierte einige der Argumente, die gegen Bucs Buch „The Dangers of Ritual“ angeführt wurden: Er ignoriere die Leistung von Kulturhistorikern, er spreche nicht von „order and community“ als eine der Leistungen von Ritualen und er trage eine nicht angebrachte Auseinandersetzung mit ethnologischen und soziologischen Ansätzen auf dem Rücken der Ritualforschung aus. Zusammenfassend stellte Frau de Jong fest, dass in der Mediävistik unabhängig vom gegenwärtigen Forschungsparadigma das Kernproblem nicht die Frage sei, wie es eigentlich gewesen sei, sondern was man in den Quellen suche: Gesellschaftsstrukturen oder Argumentationsstrukturen in Texten. In der angeregten Diskussion der Teilnehmer wurde deutlich, dass Rituale im Sinne von Machtritualen nicht allein politisch bzw. als performative Handlung oder allein als Argument in Texten zu erklären sind. Durch die Versuche, hierin eine Lösung zu finden, habe aber die mittelalterliche Ritualforschung in Deutschland neues Terrain betreten, wobei jedoch die Wendepunkte und Epochengrenzen, die die politische Geschichtsschreibung als solche festgelegt hatte, fortgeführt wurden.

Steffen Patzold (Hamburg) ging in seinem Vortrag dem Verhältnis von Ritual und Text nach, also dem Zusammenhang von Beschriebenem, Überliefertem und Interpretationshorizont. Zunächst erklärte er den Ritualbegriff als eine Handlung, die innerhalb eines bestimmten Rahmens bestimmten Regelmäßigkeiten folgt und die eine bestimmte transformierende Kraft besitzt, abhängig von der bewussten oder unbewussten Zustimmung der Teilnehmer über die Regeln. Dieser Ritualbegriff sei jedoch funktional zu unterscheiden, nämlich in seiner Anwendung im sakralen/profanen Bereich, zweitens in seiner unterschiedlichen regionalen Verwendung und drittens nach seiner sozial differenzierten gruppenspezifischen Anwendung (Königtum, Adel, Bürgertum). Erst wenn Rituale derart untergliedert seien, könne man deren Vielfalt besser erkennen und gegebenenfalls auch in Herrschertreffen analoge Verhaltensweisen erkennen wie in Ordalien oder Krönungen. Die bedeutende Frage nach Texttypen, die über mittelalterliche Rituale Auskunft geben, führt zurück zur Unterscheidung von Überrest und Tradition nach Droysen/Bernheim, also von solchen Texten, die mit einer Ritualaussage argumentieren und anderen, die ein Ritual beiläufig erwähnen. So hob Patzold die Frage nach der Interpretierbarkeit von Ritualen bzw. Texten über Rituale und der Historizität von Interpretation hervor: Wer untersucht unter welchen Umständen welche Absichten und Intentionen von welchen Ritualen.

Matthias Becher (Bonn) referierte in einem zweiten, historisch und exemplarisch angelegten Teil der Tagung über das chronologisch früheste Thema, nämlich Ritual und Zeremoniell unter Merowingern und Karolingern. So legte er pointiert dar, dass die rituellen und zeremoniellen Handlungen bei Krönungen und Hoftagen der letzten Merowinger der schon faktisch ausgeübten Macht der Karolinger gegenüberstanden. Die Art und Weise des merowingischen Krönungszeremoniells werde jedoch durch die wenigen erhaltenen Quellen der Karolingerzeit nicht tendenzfrei wiedergegeben. Geht man von diesem Befund aus, so können keine Aussagen zum legitimatorischen Gehalt von Ritualen der späten Merowingerzeit und dem Beginn der Karolingerherrschaft gemacht werden. Demnach seien Forschungsaussagen, dass der merowingische bzw. frühkarolingische Ritus bei Krönungen spätantik sei, oder dass es einen ungebrochenen Erhebungsbrauch bzw. Inthronisierungszeremoniell gebe (Reinhard Schneider), zu relativieren.

Dem Ritual als (zusätzlichem) Argument widmete sich Hanna Vollrath (Bochum) in ihrem Vortrag zum Beckett-Streit. Dieser biete die Möglichkeit, die Tragweite und die Funktionsweise symbolischer Gesten in einem bis zum Tode des einen Kontrahenten ausgetragenen Konfliktes zu untersuchen. In den Viten von Thomas Beckett wurde darauf hingewiesen, dass er vor seiner Rückkehr aus dem Exil in Frankreich in einer feierlichen Begegnung vor König Heinrich II. vom Pferd gestiegen war und sich verneigt habe, der König beim Erzbischof den Stratordienst geleistet habe. Daraufhin wurde der Friedenskuss ausgetauscht. In keiner der Quellen zum Beckett-Streit sei jedoch die Argumentation zu finden, ein Mord sei nach einem gegebenen Friedenskuss frevelhafter. So sei nach Vollrath das Ritual kein machtvolles Verhaltensinstrument, sondern eher dem Bereich der nichtbegrifflichen Sprache zuzurechnen, da es eine sinnliche und damit eindringlichere Erfahrung darstellte (Marc Bloch).

Jean-Marie Moeglin (Paris) untersuchte an zwei Beispielen die Funktionsweise von profanen Sühneritualen (Harnschaar), nämlich dem öffentlichen Tragen eines Sattels von Ludwig II. im Jahre 866 sowie dieselbe Ehrenstrafe ausgeführt von Bürgern von Calais auf Geheiß Edwards III. von England im Jahre 1347. Aus der Kontinuität des symbolischen Bildes, das er auch mit anderen Beispielen belegte, könne man jedoch nicht auf die Kontinuität der Funktion schließen. Denn das Ritual kann im Sinne einer Sühne zur Reintegration in eine Gruppe genutzt werden, also dem kirchlichen Rechtsdenken entsprechen, wenn die Wiederherstellung des Friedens wesentlicher war als die Bestrafung. Andererseits konnte die Handlung auch als symbolisches Kampfmittel in einem Konflikt eingesetzt werden, um politische Ziele durchzusetzen. Da aber diese Handlungen performativ und damit nicht von Dauer waren, konnten sie keinen Titel oder Status zuschreiben, sondern lediglich den Ehrverlust wieder ausgleichen.

Gerd Althoff (Münster) rundete mit seinen Überlegungen zur Ritualforschung die Tagung ab. Einen Gegensatz zwischen seinen eigenen Aussagen und den Ansätzen Philippe Bucs, wie er des Öfteren behauptet werde, konnte er nicht erkennen, war doch ein gemeinsamer Ausgangspunkt die sozial bestimmte und bestimmende feste Regelhaftigkeit von Ritualen mit hohem Geltungsanspruch. Beide stimmten darin überein, dass eine solche Handlung nicht ohne Konsequenzen übergangen werden konnte. Die damit implizierte Betonung der Deutung eines Rituals beinhaltet ebenso Deutungskonflikte wie Mehrdeutigkeit. Letztere kann aber nicht als Kern eines Rituals angesehen werden, da dies ebensowenig wie die Postulierung der Bedeutungslosigkeit von Ritualen einen Erklärungsgewinn birgt. Da der Mediävist die untersuchten Rituale nicht teilnehmend beobachten kann, sollte bei der Bewertung symbolischer und ritueller Handlungen stets die den schriftlichen Quellen zugrunde liegende Wirkungsabsicht berücksichtigt bleiben. Literarische Ordnungs- und Stilisierungsmuster der mittelalterlichen Quellen lassen einen unverstellten Blick nicht zu. In Anlehnung an Helmut Beumanns Aussage, Fiktionen besagten mehr als Fakten, sei die Untersuchung literarischer Ritualtopoi ebenso aussagestark wie die Analyse der Geschichtsschreibung selbst. Das Forschungsparadigma „Rituale“ stellte Althoff in seiner abschließenden Bewertung nicht in Frage, doch sei die Attraktivität an den zusätzlich zu findenden Erkenntnissen zu bewerten. So sei die Ritualforschung ein ideales Feld, in dem thesenreiches und innovatives Denken aufeinander treffen würden, hierbei aber das Austragen von Diskussionen und Forschungskontroversen verantwortungsvoll, unprovokativ und vor allem eines sein sollte - nicht rituell.
Insgesamt war die Tagung durch die Vorträge und die intensiv geführten Diskussionen ein wichtiger Beitrag zur Ritualdebatte, konnten doch die bedeutendsten Vertreter der mittelalterlichen Ritualforschung in Fragen wie z.B. Geltungsanspruch und Wirkung von Ritualen, Regelhaftigkeit versus Individualität der Ausführenden oder der Deutungshoheit bei Ritualen Erklärungsansätze austauschen und weiterentwickeln.

Anmerkung:
1 Koziol, G., „Review Article: The dangers of polemic: Is ritual still an interesting topic of historical study?“ in: Early Medieval Europe 11 (2002): 367-88.


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