Die vergessene Front - der Osten 1914/15: Ereignis, Wirkung, Nachwirkung

Die vergessene Front - der Osten 1914/15: Ereignis, Wirkung, Nachwirkung

Organisatoren
Das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Verbindung mit dem Deutschen Historischen Museum
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.05.2004 - 27.05.2004
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Von
Bernhard Chiari, Militärgeschichtliches Forschungsamt

In der kollektiven Erinnerung ist das Bild des Ersten Weltkrieges geprägt vom Trauma des modernen, technisierten Krieges an der Westfront. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung um die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" dominierte lange Zeit die Diskussion um die Kriegsschuldfrage. Seit der Fischer-Kontroverse in den sechziger Jahren ist der Erste Weltkrieg von der deutschen Geschichtswissenschaft zunächst aus revisionistisch-politikgeschichtlicher sowie in den siebziger Jahren aus struktur- und sozialgeschichtlicher Perspektive gewürdigt worden. Die "Hochkonjunktur" der deutschen Weltkriegsforschung in den neunziger Jahren wurde durch das "Nachwachsen" einer jüngeren, nicht mehr unmittelbar vom Krieg betroffenen Historikergeneration bewirkt. Sie betrat mit ihren erfahrungs-, alltags-, mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Ansätzen sowie neuen thematischen, theoretischen und methodischen Fragestellungen in vielerlei Hinsicht Neuland und wies so einen Weg aus der "Sackgasse strukturgeschichtlich-normativer Interpretationen".

Das Militärgeschichtliche Forschungsamt hat sich an der Forschungsdebatte der letzten Jahre mit eigenen Beiträgen beteiligt und neue Fragestellungen eingebracht. Eine erste Bestandsaufnahme wurde anläßlich des 80. Jahrestags des Kriegsausbruches versucht. 1 Die Analyse des Kriegsendes 1918 an der Westfront verband Kultur-, Mentalitäts- und Ereignisgeschichte miteinander. 2 In vergleichender Perspektive wurde dann die These vom "Zeitalter der Weltkriege" als struktur- und erfahrungsgeschichtliche Einheit auf ihre Tragfähigkeit überprüft, um die Defizite herkömmlicher Analysen aufzuzeigen und neue forschungsleitende Fragestellungen zu entwickeln. 3 Unter rezeptionsgeschichtlicher Perspektive war das Verhältnis von Krieg und Film im Ersten Weltkrieg auch Thema einer filmhistorischen Publikation. 4
Vor diesem Hintergrund nahm das MGFA den 90. Jahrestag des Kriegsausbruches zum Anlaß, um sich in Verbindung mit dem Deutschen Historischen Museum der bisher in der Forschung eher vernachlässigten Ostfront zuzuwenden. Die Tagung fand in Sichtweite der Ausstellung des Deutschen Historischen Museums "Der Weltkrieg 1914-1918. Ereignis und Erinnerung" im Zeughaus in Berlin statt. In Anlehnung an die erfolgreiche Fokussierung auf das Kriegsende 1918 an der Westfront wurde als Themenschwerpunkt die Ostfront der Jahre 1914/1915 gewählt. Fachhistoriker aus acht Ländern behandelten den östlichen Kriegsschauplatz unter operations-, mentalitäts- und kulturhistorischen Fragestellungen und diskutierten zugleich aktuelle Fragen der Darstellung des Krieges im Internet, in Form von Ausstellungen und in Museen.

Unter dem Titel "Der Osten - der vergessene Krieg" führte Hew Strachan (Universität Oxford) aus, daß der Krieg im Osten bisher zu Unrecht in der Forschung ein Schattendasein geführt habe, denn für den Großen Generalstab sei schon lange vor Beginn des Ersten Weltkrieges Rußland der Hauptfeind gewesen. Die Paradoxie, daß Deutschland durch seine Mittellage in einem Krieg gegen ein mit Frankreich verbündetes Rußland jedoch zuerst im Westen und dann im Osten anzugreifen gedachte, erklärte Strachan anhand der geopolitischen Thesen des britischen Geographen und Geopolitikers Halford Mackinder mit den geographischen Verhältnissen Rußlands. Diese ließen der deutschen Führung einen raschen Sieg im Osten unmöglich erscheinen. Daneben lenkte Strachan den Blick auf die Tatsache, daß es den deutschen militärischen und politischen Eliten auch aufgrund struktureller Schwächen des Kaiserreiches weder im Frieden noch im Krieg gelungen sei, dieses durch die Geographie vorgegebene strategische Dilemma zu lösen.

Kollektives Erleben und die Verarbeitung gruppenspezifischer Erfahrungen sind an die militärische Realität gebunden. Daher ging der kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen die militärische Analyse der Kriegführung an der Ostfront voraus. Die von Stig Förster (Universität Bern) moderierte I. Sektion "Die Kampfhandlungen an der Ostfront 1914/15" lenkte den Blick auf die operationsgeschichtliche Ebene. Nachdem Terence Zuber (Würzburg) die strategischen Dimensionen des Schlieffenplanes und dessen Auswirkungen auf die deutschen strategischen Planungen für die Ostfront ausgeführt hatte, erläuterte Gerhard P. Groß (MGFA, Potsdam) die deutsche Kriegführung an der Ostfront bis Ende 1915. Der Vortrag band die operative Kriegführung der deutschen Streitkräfte an der Ostfront in den strategischen Kontext der Gesamtkriegführung ein und beleuchtete zudem die Spannungen zwischen der 2. Obersten Heeresleitung (OHL) und der Militärverwaltung der besetzten Gebiete (Land des Oberbefehlshabers Ost, kurz Ober Ost). Groß belegte, daß der Krieg im Osten im Gegensatz zum Westen in großen Teilen als Bewegungskrieg geführt wurde und zeigte zugleich die wesentlichen Unterschiede der taktischen und operativen Kriegführung zwischen West- und Ostfront auf. Die operativen und damit verbundenen politischen Erfolge könnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Rußland militärisch nicht zu bezwingen war und erst die Revolutionierung des Zarenreiches den gewünschten Separatfrieden ermöglicht habe.

Boris Chawkin (Akademie der Wissenschaften, Moskau) erläuterte die klassische militärhistorische Darstellung, nach der Rußland als "Dampfwalze" der Entente den Krieg bis zum "letzten russischen Soldaten" geführt habe. Erfolgen gegenüber Österreich-Ungarn in Galizien stünden jedoch die Niederlagen gegen die deutschen Truppen gegenüber. Die Westmächte hätten die russischen Streitkräfte als Gegengewicht zur deutschen Offensive in Frankreich gebraucht, um so den Sieg an der Marne zu erringen. Die russischen Niederlagen führte Chawkin neben der materiellen Unterlegenheit der russischen Armee auch auf die Tatsache zurück, daß die russische Führung wiederholt von ihren Verbündeten zu unvorbereiteten Offensiven angehalten worden sei.

Aufgrund struktureller Defizite in der wirtschaftlichen und personellen Mobilmachung sei das Potential Österreich-Ungarns nur unzureichend ausgenutzt und zudem falsch eingesetzt worden, hielt Lothar Höbelt (Universität Wien) abschließend fest. Höbelt skizzierte den verunglückten Aufmarsch der k.u.k. Armee und die mit unzureichenden Mittel unternommenen Offensiven in Galizien sowie den Kaparten. Gleichzeitig lenkte er den Blick auf den Umstand, daß die taktisch-logistischen Besonderheiten der Ostfront in der Grauzone zwischen Bewegungs- und Stellungskrieg noch weitgehend unerforscht seien.

Günther Kronenbitter (Universität Augsburg) stellte fest, vor Kriegsbeginn habe die Zusammenarbeit der Armeeführungen Österreich-Ungarns und Deutschlands weitgehend den Bedürfnissen der Bündnispartner entsprochen. Erst während der Juli-Krise und in den ersten Kriegsmonaten seien Defizite offensichtlich geworden. Während die Österreicher in der Folge die mangelnde Unterstützung durch Deutschland beklagten, habe man auf deutscher Seite über die Schwächen der k.u.k Armee und die Unfähigkeit ihrer Führung lamentiert. Im Laufe der Zeit hätten die Deutschen den Stärkeverhältnissen entsprechend eine Führungsrolle im Krieg durchgesetzt. Die sich daraus entwickelnden wechselseitigen Ressentiments schilderte Kronenbitter als Ergebnis fehlender Planungen für die militärische Zusammenarbeit, deutscher Überheblichkeit sowie divergierender politischer Ziele im Osten. Die unterschiedlichen Kriegsziele etwa für die staatliche Zukunft der Ukraine oder Polens diskutierte er vor dem Hintergrund struktureller Unterschiede zwischen dem deutschen Kaiserreich und der wirtschaftlich unterentwickelten, multiethnischen Habsburger Monarchie.

Erlebte Kriegswirklichkeit und verarbeitete Kriegserfahrung standen ebenso wie deren literarische Umsetzung im Zentrum der von Jörg Baberowski (Humboldt-Universität zu Berlin) geleitetete Sektion II "Slawentum versus Germanentum. Der Kulturkampf im Osten", die zugleich den Schwerpunkt der Tagung bildete.

Piotr Szlanta (Universität Warschau) lenkte den Blick auf die Tatsache, daß mit Kriegsbeginn alle Teilungsmächte versuchten, die Sympathien der Polen für sich zu gewinnen und damit Hoffnungen auf die polnische Unabhängigkeit nährten. Der Ausbruch des Krieges spaltete die politischen Eliten Polens in zwei Lager: ein pro-österreichisches und ein pro-russisches. Die Grenzen zwischen diesen Lagern waren jedoch fließend. In den ersten Jahren des Krieges verhielt sich die polnische Bevölkerung gegenüber allen drei Teilungsmächten loyal. Die harte Besatzungspolitik Rußlands in Galizien und der Mittelmächte in Kongresspolen, das sinkende Lebensniveau und das Fehlen glaubwürdiger und verbindlicher Zusicherungen für einen polnischen Nachkriegsstaat brachten die Polen gegen die Besatzungsmächte auf und verhinderten eine eindeutige Parteinahme. Die Auswertung bislang unerschlossener Akten lokaler Militär- und Polizeibehörden dürfte diesbezüglich noch interessante Erkenntnisse zutage fördern.

Hubertus F. Jahn (Universität Cambridge) und Peter Hoeres (Universität Münster) behandelten in ihren Beiträgen die Perzeption des Kriegsgegners auf russischer Seite beziehungsweise aus der Perspektive der Mittelmächte. Jahn stellte fest, daß Selbst- und Feindbilder im vorrevolutionären Rußland sehr stark von unterschiedlichen Ideologien, von den Perspektiven gesellschaftlicher Gruppen oder auch nur von einzelnen Personen bestimmt waren. Die Wahrnehmungen änderten sich darüber hinaus im Vorfeld und im Verlauf des Ersten Weltkrieges. So wich in Rußland die Faszination der deutschen Kultur gegen Ende des 19. Jahrhunderts während des Ersten Weltkriegs der teils emotional aufgeladenen Ablehnung des deutschen Kriegsgegners und des deutschen Kulturkreises insgesamt. Jahn erläuterte die Veränderungen der russischen Populär- und Massenkultur bis zu den Niederlagen des Jahres 1915 am Beispiel von Darstellungen Kaiser Wilhelms, der als lächerlicher Popanz zum herausgehobenen Ziel von Spott, Hohn und Haß wurde.

Nach Peter Hoeres bestand in der Wahrnehmung der Kriegsgegner durch Österreicher und Deutsche eine klare Hierarchie. Slawen galten als dumpf, schmutzig, unselbständig und faul, während Briten und Franzosen, trotz ihrer angenommenen Degeneration, als gleichwertig angesehen wurden. Das schon vor Kriegsbeginn vorherrschende Bild des armen, verwahrlosten und kulturlosen Ostens fanden die Soldaten der Mittelmächte mit dem Einmarsch in Rußland bestätigt. Zentrale Erfahrungen waren Schmutz, grenzenlose Weite und ein unübersichtliches Gemisch von Ethnien. Von der deutschen Militärverwaltung gefördert, griff die Vorstellung um sich, die eigene Bevölkerung mit einem Bollwerk vor dem empfundenen Chaos zu schützen und gleichzeitig den Osten kulturell zu missionieren. Hoeres betonte freilich, daß die Slawen- und Ostperzeption des Ersten Weltkrieges kaum mit dem Vernichtungskrieg im Osten seit 1939 zu vergleichen sei, da nun der Bolschewismus, die Vorstellung vom "Untermenschentum" und der radikale Antisemitismus eine entscheidende Rolle gespielt hätten.

Die literarische Verarbeitung und Umsetzung des Krieges im Osten stand im Mittelpunkt der Vorträge von Eva Horn (Universität Frankfurt/Oder) und Birgit Menzel (Universität Mainz). Nach Horn behandelte die deutsche Literatur die Ostfront im Gegensatz zur Westfront nicht vor dem Trauma des technisierten Massenkrieges, sondern nahm die chaotische, exotische und "primitive" Seite des Krieges in den Blick. Auch wenn nach Ansicht Horns das Kriegeserlebnis der Ostfront für das Bild des Ersten Weltkrieges in Deutschland nur marginal gewesen sei, konstatierte sie sehr wohl gravierende Folgen dieser Perspektive für den Blick auf den russischen Gegner im Zweiten Weltkrieg. Menzel führte aus, daß - anders als die anderen großen Kriege Rußlands - der Erste Weltkrieg kein selbständiges prominentes Thema in der russischen Literatur geworden sei. Überlagert durch den Bürgerkrieg und den Zweiten Weltkrieg habe auch die literaturwissenschaftliche Forschung den Ersten Weltkrieg nur marginal und bestenfalls punktuell wahrgenommen.

Igor Narskij (Universität Tscheljabinsk), der zur Kriegswirklichkeit und Kriegserfahrung russischer Soldaten in den ersten Kriegsjahren referierte, lenkte den Blick auf die russische Memorialkultur. Der Erste Weltkrieg sei durch die Russische Revolution und den anschließenden Bürgerkrieg aus dem kollektiven Gedächtnis der Russen ausgeblendet worden und schließlich in Vergessenheit geraten. Die wenigen Selbstzeugnisse russischer Offiziere aus den ersten Kriegsjahren seien meist nachträglich entstanden und würden oft von späteren Erfahrungen überlagert. Die Kriegswirklichkeit der ersten Kriegsjahre unterscheide sich aber von der gegen Kriegsende deutlich. So zeigten die Stimmungsberichte der Militärzensur, daß die Versorgungslage in den Jahren 1914/1915 von den Soldaten nicht als extrem belastend eingestuft wurde und die massenhafte Unzufriedenheit erst ab 1916 dramatisch zunahm. Abschließend hielt Narskij fest, die Kriegserfahrung der russischen Soldaten stelle paradoxerweise einen wichtigen zivilisatorischen und disziplinierenden Faktor für die russische Gesellschaft dar. Die ihrer rückständigen ländlichen Lebenswelt entzogenen Bauernsoldaten hätten an der Front erstmalig die Zughörigkeit zu modernen sozialen Einheiten erfahren. Narksij interpretierte die Sozialisation von Millionen russischer Soldaten als Voraussetzung für die Ausbildung einer sozialen Basis der Bolschewiki.

Hans-Erich Volkmann (Universität Freiburg) schlug den Bogen zur Erfahrungswelt des deutschen Militärs im Zeitalter der Weltkriege. Überrascht durch den unerwartet hohen Mobilisierungsgrad der russischen Armee und ihren schnellen Aufmarsch, habe der deutsche Generalstab die Erfahrung gemacht, dank taktisch-operativer Überlegenheit den russischen Gegner zwar taktisch und operativ besiegen, wegen der Weite des russischen Raumes jedoch nicht entscheidend schlagen zu können. Die Auswertung dieser Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit führte bei den Frontoffizieren zu der Erkenntnis, Rußland sei zukünftig nur mit moderner Kriegstechnik (etwa Panzer- und Luftwaffe) militärisch zu besiegen. Zudem lenkte Volkmann den Blick auf das zu Kriegsbeginn fehlende Feindbild der deutschen Soldaten. Der anfänglich unzureichenden Motivation der Truppe im Ersten Weltkrieg seien die Nationalsozialisten im Krieg gegen die Sowjetunion mit dem Bild des "jüdischen Bolschewismus" begegnet.

Seinen Vortrag zur deutschen Besatzungspolitik im Osten stellte Vejas Gabriel Liulevicius (Universität Tennessee) unter die Fragestellung, inwiefern die Planungen von Ober Ost und die Erfahrungen der deutschen Besatzungstruppen spätere Entwicklungen unter dem Nationalsozialismus bedingt hätten. Er stellte fest, daß Erfahrungen der Besatzungsherrschaft - etwa die Kontrolle größere Bevölkerungsschichten in quasi kolonialer Praxis und die Wahrnehmung der Bevölkerung als schmutzig, faul und gefährlich - von den Nationalsozialisten aufgegriffen worden seien. Die deutsche Besatzungspolitik im Ersten Weltkrieg, ausgerichtet auf ethnische Manipulation, stehe allerdings im scharfen Gegensatz zum mörderischen, durch Antisemitismus und einen radikalen, biologischen Rassismus geprägten Vernichtungskrieg der Wehrmacht.

Die dritte Sektion "Der Erste Weltkrieg. Musealisierung, Erinnerung, Rituale", geleitet von Hans Ottomeyer (Deutsches Historisches Museums, Berlin) hatte die Darstellung von Kriegserfahrung und Kriegswirklichkeit in Museen, Gedenkstätten und in modernen Medien zum Thema. Christine Beil (Universität Tübingen) stellte mit den deutschen "Kriegsausstellungen" eine besondere Präsentationsform des Krieges für die Heimatfront vor. Von der Bevölkerung wurden die "Kriegsausstellungen" nicht als Orte propagandistischer Beeinflussung, sondern als Stätten der Unterhaltung und Belehrung wahrgenommen. Deren Gestalter nutzten spielerisch (begehbare Schützengräben) oder in der Art messeähnlicher Großausstellungen (Aufklärung und Bildung) jede Möglichkeit, die Heimatfront in ihrem Durchhaltewillen zu stärken. Die Darstellung der Ostfront und schmutziger russischer Soldaten habe zudem den Eindruck der deutschen kulturellen Überlegenheit über die "russische Unkultur" gefestigt und zugleich den deutschen Anspruch auf Teile der besetzten Ostgebiete legitimiert.

Kristiane Burchardi (Deutsches Historisches Museum Berlin) ging am Beispiel des Moskauer Brüderfriedhofs, der ursprünglich als "Allrussisches Kriegsdenkmal" gedacht war, auf die verdrängte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ein. Der 1915 gegründete, 1925 zum Erholungspark umfunktionierte und 1940 fast völlig zerstörte Friedhof mache die Konjunkturen der russischen Weltkriegserinnerung nachvollziehbar. Offiziell sei nur der gefallenen Helden der Revolution, des Bürgerkrieges und später des "Großen Vaterländischen Krieges", aber nicht mehr der Toten des Ersten Weltkriegs gedacht worden. Die heutige Wiederbelebung des Friedhofes interpretierte Burchardi als ersten Schritt auf dem Weg zur Rückbesinnung auf die Geschichte des Ersten Weltkrieges. Schon jetzt sei allerdings erkennbar, daß die Grabstätte im allrussischen Sinne politisch instrumentalisiert werde.

Das Gedenken an den "Unbekannten Soldaten" kann nach Rainer Rother (Deutsches Historisches Museum, Berlin) als Erfolgsgeschichte bezeichnet werden. Das Ritual stehe, als eine nach dem Ersten Weltkrieg entstandene besondere Form des Gedenkens, für eine speziell in Westeuropa und den Vereinigten Staaten von Amerika gepflegte und politisch genutzte Form des Totengedenkens und der Erinnerung an den Krieg.

Gundula Bavendamm (Deutsches Historisches Museum, Berlin) lenkte den Blick auf das Internet als Medium der Weltkriegserinnerung. Dort sei, so Bavendamm, in den letzten zwanzig Jahren im Westen und seit einigen Jahren auch im Osten ein virtuelles Forum der Weltkriegserinnerung entstanden. Dabei hätten sich sowohl unterschiedliche virtuelle Musealisierungen und Erinnerungen als auch nationalspezifische Unterschiede herausgebildet. Eine eingehende qualitative Untersuchung zu diesem Forschungsfeld stehe jedoch noch aus.

Die 46. Internationale Tagung für Militärgeschichte brachte eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme zur "vergessenen Ostfront" der Jahre 1914/15. Die Verknüpfung historischer Fragestellungen mit Aspekten der Musealisierung zeigte Forschungsdefizite auf, etwa im Bereich der Interaktion im Bündnis der Mittelmächte oder auch bei der systematischen Auswertung individueller Kriegserinnerungen. Nach wie vor unklar sind die strategischen Auswirkungen der Transportkapazitäten beider Seiten sowie situative Wechselwirkungen auf der taktisch-operativen Ebene. Mentalitäts- und kulturgeschichtliche Zugänge, so ein weiteres Ergebnis, laufen ohne angemessene Berücksichtigung des operationalen Umfelds Gefahr, mit den militärischen Ereignissen auch die Kriegsrealität aus den Augen zu verlieren. Klassische Methoden der Militärgeschichte erscheinen in dieser Hinsicht auch weiterhin als unverzichtbar. Gleichzeitig wurden Verzerrungen deutlich, die sich aus der rückblickenden Betrachtung des "Kriegslandes im Osten" als Vorstufe des rassenideologischen Vernichtungkrieges ergeben können. Hier wurde eine Diskussion fortgeführt, die sich bereits in der Vergangenheit an den Thesen von Vejas Gabriel Liulevicius entzündet hatte. 5
Die Tagung machte deutlich, daß auch in Polen und Rußland der Krieg im Osten bislang bestenfalls als Teil der jeweiligen Nationalgeschichten untersucht wurde. Im deutschsprachigen Raum finden Ergebnisse, Methoden und spezielle Erkenntnisinteressen der Osteuropäischen Geschichte (etwa Stereotypenforschung, Kultur der Gewalt, Bedeutung des russischen Wehrsystems für die gesellschaftliche Ordnung Rußlands und die Revolution von 1917) erst langsam Eingang in die Forschungen zum Ersten Weltkrieg.
Dabei könnte besonders die Herausarbeitung gegenseitiger Perzeptionsmuster für die Kriegsgegner dem Ersten Weltkrieg als Forschungsthema in den nächsten Jahren jene Bedeutung geben, die ihm als europäischem Krieg und als einer zentralen Katastrophe des 20. Jahrhunderts zukommt. Die Berliner Tagung hat die Voraussetzungen für einen Diskurs in international vergleichender Perspektive weiter verbessert. Die Herausgabe eines Konferenzbandes ist geplant.

1 Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, hrsg. von Wolfgang Michalka, München 1994.
2 Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, hrsg. von Jörg Duppler und Gerhard P. Groß, München 1999.
3 Erster Weltkrieg - Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich, hrsg. von Bruno Thoß und Hans-Erich Volkmann, Paderborn u.a. 2002.
4 Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Bernhard Chiari, Matthias Rogg und Wolfgang Schmidt, München 2003.
5 Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonialisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002.


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