Formen der Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen Stadt

Formen der Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen Stadt

Organisatoren
Teilprojekt B 10 (Prof. Dr. Horst Carl ) des SFB 434 "Erinnerungskulturen"; SFB "Institutionalität und Geschichtlichkeit" (Dresden); SFB "Norm und Symbol" (Konstanz); SFB "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme" (Münster)
Ort
Giessen
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.04.2005 - 09.04.2005
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Von
Patrick Schmidt, Justus-Liebig-Universität Giessen

"Formen der Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen Stadt": So lautete das Thema einer Tagung, die das Teilprojekt B 10 (Prof. Dr. Horst Carl ) des Sonderforschungsbereiches 434 "Erinnerungskulturen" am 8./9. April 2005 in Giessen in Kooperation mit den Sonderforschungsbereichen "Institutionalität und Geschichtlichkeit" (Dresden), "Norm und Symbol" (Konstanz) und "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme" (Münster) veranstaltete. Gefördert wurde die Tagung auch vom Giessener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften (GGK). Konzipiert war sie als Nachwuchsworkshop mit Beiträgen von drei Postdoktorand-/innen und sechs Doktorand-/innen. Ihr lag der Gedanke zugrunde, dass von einem Arbeitsgespräch, das Nachwuchsforscher-/innen mehrerer Sonderforschungsbereiche zusammenführt, in denen die frühneuzeitliche Stadt mit dem Instrumentarium der neueren Kulturgeschichte erforscht wird, wertvolle Denkanstöße ausgehen könnten.

In einem kurzen Einleitungsvortrag skizzierte Patrick Schmidt (Giessen) die Prämissen, die dem Tagungsthema zugrunde lagen, erste Fragestellungen und Differenzierungsmöglichkeiten. Seine Ausgangsthese war, dass frühneuzeitliche Städte stärker als andere zeitgenössische Gemeinwesen ein Spannungsverhältnis von Integration und gesellschaftlicher Differenzierung bewältigen und in einer Balance halten mussten. So sei es eine Herausforderung ersten Ranges für die städtischen Obrigkeiten gewesen, entgegen den tatsächlichen Machtverhältnissen mit Integrationswerten und -ritualen, die Partizipation und Konsensbildung zumindest suggerierten, möglichst weite Teile der Bürgerschaft symbolisch in das politische System der Stadt zu integrieren. Auch mussten sie um ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Integration bemüht sein, um das Zusammenleben vieler Menschen auf engstem Raum innerhalb der Stadtmauern zu ermöglichen. Die Obrigkeiten hatten indes ein ebenso großes Interesse daran, die politische und gesellschaftliche Stratifizierung der Städte aufrecht und präsent zu halten. Zugleich strebten Stände, soziale Gruppen und Individuen innerhalb der städtischen Gesellschaft nach Integration wie nach Distinktion. Alle diese Akteure, so postulierte Schmidt weiter, bedienten sich in diesem Streben vielfach symbolischer Formen. In Ritual und Zeremoniell jedoch seien Integration und Distinktion meist eine unauflösliche, wenn auch scheinbar paradoxe Verbindung eingegangen, wie sich an Schwörtagen, Ratswahlen und Prozessionen ablesen lasse. Zudem seien die Anteile von integrativer und distinktiver Funktion in einer symbolischen Praxis als historisch variabel aufzufassen. Zu vermuten sei weiterhin, dass die je spezifischen Formen von Integration und Distinktion von der Sozialstruktur und dem Verfassungsstatus jeder einzelnen Stadt abhängig seien.

Die erste Sektion der Tagung befasste sich mit der Rolle der Zünfte bei den Integrations- und Distinktionsprozessen in frühneuzeitlichen Städten, ausgehend von der Annahme, dass die Zünfte einerseits eine zentrale Rolle im sozialen und politischen Gefüge besaßen, andererseits aber teilweise von den herrschenden Eliten radikal ausgegrenzt wurden. Die Zünfte wurden dabei sowohl als Akteure wie als Objekte von Integrations- und Distinktionsprozessen untersucht. Philip Hoffmann (Konstanz) analysierte in seinem Vortrag über "soziale Differenzierung und städtische Einheit" am Beispiel Lübecks, wie sich zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit die Formen der politischen Kommunikation und damit auch der politischen Integration veränderten, und welche Rolle die Zünfte in diesem Transformationsprozess spielten. Er ging von der These Schlögls aus, die vormodernen Städte seien als "Anwesenheitsgesellschaften" zu verstehen, deren politische Kultur durch die Prinzipien der Präsenz und Interaktion geprägt gewesen sei. Vor diesem Hintergrund lässt sich von einer dramatischen Veränderung sprechen, wenn im Laufe des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit sich die politische Kommunikation zunehmend vom frei zugänglichen Raum des Marktplatzes und der Kirchen in den Herrschaftsraum des Rathauses und die Versammlungslokale korporativer Gruppen - unter anderen der Zünfte - verlagerte, und wenn gleichzeitig die Stadtgemeinde als Interaktionsgemeinschaft zunehmend in mehrere, sich abschließende, Interaktionsgemeinschaften gegliedert wurde. Die Tendenzen zur Ausdifferenzierung des politischen Systems in Lübeck sind dabei durch eine markante Zunahme von Formen segmentärer Vergemeinschaftung in Bruderschaften zu erklären, Geschlechtergesellschaften und Fahrerkompagnien, der eine zunehmende gesellschaftliche und politische Hierarchiebildung folgte. Die Position der Zünfte blieb dabei prekär: Einerseits bildeten auch sie wichtige Orte der sich ausdifferenzierenden politischen Kommunikation, andererseits kam ihnen in Lübeck offiziell stets nur eine marginale Rolle im politischen System zu; im Übrigen zeigte sich auch bei ihnen der Prozess der politischen Differenzierung, denn die vier "großen Ämter" setzten sich zunehmend von den übrigen Handwerkskorporationen ab.

Ruth Schilling (Berlin) ging in ihrem Vortrag über "Die Rolle der Zünfte und Bruderschaften bei der Konstruktion eines städtischen Gesamtbildes in venezianischen und hanseatischen Bild- und Textquellen um 1600" in vergleichender Perspektive der Frage nach, wie die Zünfte, einerseits in Venedig, andererseits in führenden Hansestädten, in politischen Ritualen repräsentiert wurden, und wie sich diese Repräsentationen in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelten. Zu dieser Zeit sahen diese autonomen Städte sich unter wachsendem Druck, sich gegenüber den Territorialstaaten zu behaupten und die Forschung erkennt eine zunehmende Verobrigkeitlichung der Ratsgremien: Bleiben die Zünfte in der Konstruktion eines städtischen Gesamtbildes im Medium von Prozessionen und bildender Kunst präsent, oder werden sie von den patrizischen Führungsgruppen zunehmend ausgegrenzt zugunsten einer höfischen Formen angenäherten familiären Repräsentation? Anhand von Gemälden, Stichen und gedruckten Festbeschreibungen zeigte Schilling, dass eine lineare Tendenz zu einer Monopolisierung von Repräsentationen der Stadt als Einheit durch die Eliten und eine symbolischen Marginalisierung der Zünfte nicht zu konstatieren ist. Wohl änderten sich in Venedig wie in den Hansestädten die Konstruktionen städtischer Gesamtbilder, doch geht diese Transformation in Venedig von der Betonung der Stadt als Sakralgemeinschaft hin zur Betonung wirtschaftlicher Potenz; in den Hansestädten wird die Bedeutung der Zünfte in ihrer Funktion als Bürgerwehren sogar betont, während andererseits das Gesamtbild der Stadt zunehmend nach aristotelischen Vorstellungen modelliert wird.

Patrick Schmidt (Giessen) vollzog insofern einen Perspektivenwechsel, als er in seinem Beitrag über "Zünftische Erinnerungskulturen als Mittel der Integration und Distinktion" nicht danach fragte, welche Rolle den Zünften von den städtischen Eliten zugewiesen wurde, sondern die Zünfte als Akteure von Integration und vor allem Distinktion in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte. Am Beispiel der teils blutigen Auseinandersetzungen, die sich die compagnonnages, die französischen Gesellenbruderschaften, lieferten, versuchte er zu zeigen, welches hohe Distinktionspotential den Erinnerungskulturen von Zünften und anderen Handwerkskorporationen innewohnen konnte. Diese Konflikte der Gesellen basierten auch auf antagonistischen Ursprungslegenden, in denen jeweils die Angehörigen einer Bruderschaft zu den Verrätern und Mördern der Gründergestalt einer anderen Bruderschaft erklärt wurden. Von diesem drastischen Beispiel ausgehend nahm er dann die Ursprungslegenden von Zünften in Frankfurt am Main und Nürnberg in den Blick, um zu analysieren, wie mit solchen Narrativen Distinktion gegenüber konkurrierenden Handwerkskorporationen, aber auch anderen Gruppen der städtischen Gesellschaft, geschaffen wurde. In einem weiteren Schritt demonstrierte er, dass kommemorative Akte, beispielsweise Stiftungen, auch der Distinktion bzw. Herrschaftslegitimation innerhalb der Zünfte dienen konnten, weil diese symbolischen Praktiken vor allem den Führungsgruppen zu Gebote standen.

Die zweite Sektion der Tagung widmete sich der Rolle von städtischen Festen als Medien der symbolischen Integration und Distinktion. Bei dem ersten Vortrag von Dr. Marian Füssel (Münster) über die Freiburger Fronleichnamsprozession in der Frühen Neuzeit stand der Aspekt der ständischen Distinktion im Vordergrund. Füssel zeigte, dass über die Rangordnung in dieser Prozession während der gesamten Epoche nahezu permanent Präzedenzkonflikte entbrannten. Deren Ausgangspunkt bildete meist die Statuskonkurrenz von Rat und Universitätsangehörigen, doch wurden in die Konflikte auch landesherrliche Beamte, adlige Gäste, geistliche Orden und Zünfte einbezogen. Die außerordentliche Intensität dieser Konflikte um Distinktion ist somit auch mit der besonderen Gesellschaftsstruktur Freiburgs zu erklären, dem Nebeneinander von alten städtischen Ratseliten und ‚neuen' Eliten im landesherrlichen Dienst, von standesbewussten Akademikern, Studierenden mit vielfach adliger Herkunft und Ordensangehörigen. Zentral war für Füssel, dass die Hierarchie in der Prozession nicht einfach eine vorgängig existierende städtische Hierarchie widerspiegelte, sondern dass das Ritual vielmehr eine eigene Ordnungslogik hervorbrachte. Zudem hob er hervor, dass die Hierarchie der Fronleichnamsprozession immer im Fluss blieb, bei fast jeder alljährlichen Begehung anders aussah, weil beispielsweise schon die Teilnahme von vier statt von zwei Adligen alle Festlegungen des Vorjahrs obsolet machen konnte.

Demgegenüber bot der Vortrag von Dr. Ulrich Rosseaux (Dresden) über das Vogelschießen und die Vogelwiese im frühneuzeitlichen Dresden ein aufschlussreiches Kontrastprogramm, denn während Füssel scheinbar unerschöpfliche Distinktionskonflikte in einer städtischen Gesellschaft thematisiert hatte, zeigte Rosseaux, wie in einer aufwendigen Inszenierung symbolische Integration in einer Residenzstadt ermöglicht werden konnte. Das Vogelschießen, ein Schützenfest mit mittelalterlichen Wurzeln, wurde bis in das 18. Jahrhundert hinein als ständeübergreifendes Ereignis inszeniert, als Begegnung des Hofes mit den städtischen Ober- und Mittelschichten, als ein Wettbewerb, an dem die Kurfürsten teilnahmen, bei dem aber auch Handwerksmeister gewinnen konnten. Rosseaux' Vortrag machte aber deutlich, dass diese ständeübergreifende, tendenziell egalitäre Veranstaltung nur deswegen möglich war, weil sie rituell als sozialer Ausnahmeraum markiert wurde. Dazu dienten vor allem karnevaleske Elemente im Festzug auf dem Weg zur Vogelwiese, die symbolisierten, dass die sonst gültigen sozialen Regeln für kurze Zeit suspendiert wurden. Rosseaux machte zudem klar, dass die Kurfürsten in Dresden zu dieser integrativen Geste gegenüber der Stadtgemeinde nur deswegen bereit waren, weil die tatsächliche Machtverteilung zwischen ihnen, dem Hof und der Stadt völlig klar war. Vor dem Hintergrund der starken politischen Differenzierung der Residenzstadt fiel symbolische Integration möglicherweise leichter als etwa in Reichsstädten mit ihren diffuseren Machtverhältnissen.

Die dritte Sektion war Akten der Integration und Distinktion im städtischen ‚Alltag' gewidmet, also der Sichtbarmachung von Einheit und Differenz in häufig wiederkehrenden Situationen, nicht in der großangelegten Inszenierung. Mit dem Thema der normativen und symbolischen Grenzziehung zwischen Stadt und Umland fügte Patrick Oelze (Konstanz) dem Tagungsthema eine neue Facette hinzu; nachdem bislang innerstädtische Prozesse der Integration und Binnendifferenzierung behandelt wurden, ging es nun um die ‚Distinktion' der Stadt, genauer: der Reichsstadt, gegenüber ihren territorialstaatlichen Nachbarn. Im Mittelpunkt standen dabei die vor allem im Südwesten des Reiches verbreiteten Reichsstädte mit einem nennenswerten eigenen Territorium, die am Beispiel Schwäbisch Halls behandelt wurden. Das Problem der Städte lag darin, dass ihnen die "Landeshoheit" über ihr Territorium von den umgebenden Fürsten regelmäßig bestritten wurde, woran auch die räumliche Abgrenzung mittels einer Landwehr wenig änderte, umsomehr, als die städtische "Souveränität" oft nicht ungeteilt war, und beispielsweise nicht die Hochgerichtsbarkeit in ihrem Landgebiet umfasste. Die Gerichtsbarkeit war denn auch im Fall Schwäbisch Halls im 17. Jahrhundert einer jener Bereiche, in denen Grenzkonflikte mit Nachbarterritorien ausbrachen. Oelze zeigte, wie diese Konflikte von allen Seiten mit symbolischen Handlungen ausgetragen wurden, mit der Postierung von Truppen auf der Landwehr seitens des Rates von Schwäbisch Hall korrespondierte beispielsweise die Umreitung des Freischbezirks durch den hohenlohischen Stadtvogt. Zugehörigkeit, so konstatierte Oelze, musste stets aufs Neue im Raum verortet werden, und dabei wurden auch Identitäten, Fremdbilder und Zugehörigkeitsgefühle, produziert und reproduziert.

Thomas Weller schlug mit seinem Vortrag über zeremoniellen Rang und gesellschaftliche Ordnung im frühneuzeitlichen Leipzig den Bogen zurück zur Thematik Füssels, den Präzedenzkonflikten. Er betonte, dass solche Konflikte um den zeremoniellen Rang in Städten ebenso allgegenwärtig waren wie an den Höfen. Die Relevanz der Präzendenzkonflikte erklärte er damit, dass für die Menschen der Frühen Neuzeit zwischen ihrem zeremoniellen Rang und ihrer "Position innerhalb des sozialen Raums" ein unmittelbarer Verweisungszusammenhang bestanden habe. Zugleich sei die scheinbar fest gefügte Ordnung der Stände und Ränge in Wirklichkeit nicht statisch gewesen, sondern habe als ein "dynamisches Netz wechselseitig erhobener Geltungsansprüche" immer wieder neu konstituiert werden müssen. In den Städten hätten sich alle jene zeremoniellen Anlässe, bei denen Integration inszeniert werden sollte - Ratswahlen, Schwörtage, Huldigungen, aber auch Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen - auch als bevorzugte Medien sozialer Distinktion erwiesen, und zumindest im Falle Leipzig habe sich die Botschaft solcher Zeremonien im Laufe der Frühen Neuzeit immer mehr vom integrativen zum distinktiven Pol verschoben. In Leipzig sei, wie es Füssel auch für Freiburg konstatierte, der soziale Aufstieg der landesherrlichen Bedienten ein Hauptgrund für die zahlreichen Distinktionskonflikte gewesen. Aus der Fülle der zeremoniellen Anlässe griff Weller als Beispiel Streitigkeiten um die Rangordnung bei Trauerzügen heraus, Umzüge, die zunächst ein hohes integratives Potential hatten, weil idealerweise die gesamte Bürgerschaft an ihnen teilnehmen sollte, die sich aber auch als Distinktionsmedien anboten, weil ihre räumliche Ordnung scheinbar die soziale Ordnung widerspiegelte. Tatsächlich seien die Leipziger Trauerzüge im Laufe der Frühen Neuzeit sozial immer exklusiver geworden.

Die beiden letzten Vorträge hatten gemeinsam, dass sie nicht das Zeremoniell, sondern die Sphäre des Konsums thematisierten. Dr. Susanne Rau (Dresden) untersuchte in ihrem Beitrag über Funktionen von Orten der Soziabilität in der Frühen Neuzeit die Gasthäuser Lyons, in denen sie trotz ihrer vordergründig integrativen Funktion vor allem "Orte von Differenzbildung in frühneuzeitlichen Städten" erblickte und deswegen auch der Habermas'schen These vom Kaffeehaus als Ort der Konstituierung bürgerlicher Öffentlichkeit mit Skepsis begegnete. Rau skizzierte zunächst die spezifische Situation ihres Untersuchungsortes Lyon, der sich als wichtige Handels- und Messestadt durch eine stets hohe Zahl von ‚Fremden' und gleichzeitig durch ein dichtes Netz von Gasthäusern auszeichnete. Diese charakterisierte sie als multifunktionale Orte, die keineswegs nur der Verköstigung und Beherbergung dienten und in denen sich öffentlicher und privater Raum durchdrangen. Der Vortrag machte deutlich, dass sich an diesen Orten der Soziabilität eine Fülle von Möglichkeiten der Distinktion bot, die nicht selten auch konflikthafte Formen (wenn etwa ein Gast dem anderen die Kleidung beschädigte, war das ein Angriff auf seinen sozialen Rang) annahm, weshalb Prozessakten eine wichtige Quelle für Raus Forschungen darstellen. Rau unterschied Distinktionssituationen/-anlässe (vor allem die Wahl der Speisen und Getränke), Distinktionsmittel (Wahl des Etablissements, Kleidung/Haarschmuck/Waffentragen, Körperhaltung, Gesten und Sprache) sowie Distinktionsakteure (Reproduktion berufs- oder nachbarschaftsspezifischer Gruppenbildungen im sozialen Raum des Gasthauses).

Im abschließenden Vortrag widmete sich Christian Hochmuth (Dresden) einem Bereich, der bereits als ein geradezu klassisches Feld sozialer Distinktion gelten kann, nämlich dem Kolonialwarenhandel. Hochmuth ging es dabei aber nicht primär um den bereits erforschten demonstrativen Konsum von Kolonialwaren, sondern um deren Anbieter, die Kolonialwarenhändler als mögliche "Distinktionshändler", deren Funktionen und gesellschaftliche Integration er am Beispiel Dresdens und schwerpunktmäßig im 18. Jahrhundert untersuchte. Im Mittelpunkt standen dabei die Händler von Genussmitteln wie Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak, die als "Distinktionswaren" besonders wirkungsvoll waren. Hochmuth zeigte, dass es den Obrigkeiten schwerfiel, diese Waren in das hergebrachte städtische Ordnungsgefüge zu integrieren - beispielsweise bereitete bei der Schokolade die Preisfestsetzung Probleme, und ebenso die Frage, wer sie verkaufen dürfe. Integrationsprobleme stellten sich auch den Händlern der Kolonialwaren, was zum einen damit zusammenhing, dass sie oftmals ‚Fremde' waren, nämlich italienischer Herkunft, zum zweiten mit dem unklaren Status ihrer Waren, zum dritten aber auch mit den Ressentiments der Zünfte, die in ihren Abwehrversuchen die Kolonialwarenhändler bezeichnenderweise auch als Bedrohung für die Einheit der städtischen Gesellschaft stilisierten. Die Kolonialwarenhändler strebten vielfach den Status von Hoflieferanten an, nicht zuletzt, um sich in die städtische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu integrieren. Die Frage, ob die Kolonialwaren auch ihre Händler distinguierten, ihnen also Sozialprestige verliehen, lasse sich nicht eindeutig klären, wie Hochmuth darlegte: Einerseits sei dieses Metier dem wenig prestigeträchtigen Gemischtwarenhandel zuzurechnen, andererseits zeugten die zentral gelegenen Gewölbe der Kolonialwarenhändler davon, dass ihre Waren geeignet waren, ihr Ansehen zu steigern.

In den Vorträgen und den durchweg lebhaften Diskussionen zu ihnen zeigte sich, dass die hier erprobte Veranstaltungsform, Nachwuchswissenschaftler-/innen kulturgeschichtlich orientierter Sonderforschungsbereiche bei einem Workshop zusammenzuführen, erfolgversprechend ist und durchaus zur Nachahmung empfohlen werden kann, weil einerseits geteilte Erkenntnisinteressen eine Diskussionbasis gewährleisten, andererseits aber die Begegnung mit der theoretischen Perspektive anderer Forschungsverbünde anregend wirkt. Auf einer inhaltlichen Ebene wurde deutlich, dass das komplexe Verhältnis von symbolischer Integration und Distinktion für alle Beteiligten anschlussfähig war, weil es sich offenkundig um eine Problematik handelt, die in der Erforschung der frühneuzeitlichen Stadtgeschichte immer wieder begegnet. Weil bei diesem Workshop ganz unterschiedliche Städtetypen in den Blick kamen - Residenz, Territorial- und Reichsstädte, Metropolen wie Venedig und Lyon, aber auch ‚Provinzstädte' wie Schwäbisch Hall, konnte gezeigt werden, wie unterschiedlich die (Konflikt-) Konstellationen aussehen konnten, in denen Gruppen in der städtischen Gesellschaft um Integration und Distinktion rangen. Deutlich wurde auch, dass der kulturgeschichtliche Zugang, die Fokussierung auf die symbolische Dimension von Praktiken, für die Stadtgeschichte fruchtbar ist, aber stets einer soliden politik- und sozialgeschichtlichen Fundierung bedarf: Rituale und Zeremonien, ihre Funktionen und ihr möglicher Bedeutungswandel sind nicht zu verstehen ohne die Kenntnis der je spezifischen politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Die Vorträge zeigten, dass städtische Gesellschaften in ihrem symbolischen Handeln stets auf einem schmalen Grat zwischen Integration und Distinktion wandelten. In den Vorträgen und Diskussionen deutete sich aber auch als langfristige Tendenz an, dass alte, im Mittelalter wurzelnde Integrationswerte und -mechanismen der Städte im Laufe der Frühen Neuzeit ihre Prägekraft verloren, dass Rituale und Zeremonien immer stärker die politischen und gesellschaftlichen Differenzbildungen widerspiegelten. Eine solche Tendenz wurde vielleicht erst durch ein neues Ideal städtischer und bürgerlicher Einheit im 19. Jahrhundert wieder umgekehrt.

Die Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant.