Das Ursprüngliche und das Neue: Rituale im historischen Prozess

Das Ursprüngliche und das Neue: Rituale im historischen Prozess

Organisatoren
Burckhard Dücker; Gerald Schwedler; Sonderforschungsbereich 619 „Ritualdynamik“
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.11.2005 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Gerald Schwedler, LS Spätmittelalter, Universität Heidelberg

Am 25. November 2005 fand in den Räumen des Historischen Seminars der Universität Heidelberg eine eintägige interdisziplinäre Veranstaltung des Sonderforschungsbereichs 619 „Ritualdynamik“ statt. Unter der Koordination von Burckhard Dücker und Gerald Schwedler wurden Wissenschaftler aus den Fachbereichen Mittelalterliche Geschichte, neuere Geschichte, Germanistik, Religionswissenschaft, Indologie und Liturgiewissenschaft eingeladen. Aus unterschiedlichen Perspektiven sollte der Fragestellung nachgegangen werden, wie sich Begriffe wie „Innovation“, „Das Neue“, „Erneuerung“ im Bereich der als unveränderlich, persistent ja zäh geltenden Rituale anwenden lassen, um die vielfältigen Wandlungsprozessen beschreiben zu können.

In seinen einführenden Bemerkungen wies STEFAN WEINFURTER (Mittelalterliche Geschichte, Universität Heidelberg) darauf hin, dass es zu eng gedacht wäre, wenn angenommen wird, Rituale seien im Mittelalter immer wieder gleich angewendet worden. Vielmehr dienten bestimmte rituelle Handlungen dazu, sich in unterschiedlichen Situationen zu behaupten, doch standen diese Handlungen jedes Mal selbst auch auf dem Prüfstand ihrer wirksamen Anwendbarkeit.

JÖRG GENGNAGEL (Moderne Indologie, Universität Heidelberg) führte anhand einiger Beispiele aus dem Königtum Jaipur vor, wie im Bereich staatlicher Zeremonien und religiöser Rituale die Frage nach „ursprünglich“ und „neu“ sehr stark das Ergebnis von Zuschreibungen sein konnte. Die Unterscheidung von gestalterischen und inhaltlichen Neuerungen ermögliche es, ein Ritual als altehrwürdigen Ritus, als Memorialort aufzufassen, bei dem sich durchaus erhebliche formale Neuerungen vollziehen konnten, ohne daß die Authentizität in Frage gestellt wurde. So war das Bewußtsein für Brüche in vielen Bereichen, wie beispielsweise den Krönungs- bzw. Inthronisierungsriten oder beispielsweise bei den rituellen Pilgerwegen, nicht vorhanden. In Anlehnung an die Arbeiten von Jan Assmann 1 könne hier von rituellen Kontinuitätsfiktionen gesprochen werden.

Über das bewusste aushandeln eines neuen Ritus informierte JAN SNOEK (Religionswissenschaft, Universität Heidelberg) bei seiner Analyse der umfangreichen Aufnahmerituale in englischen Freimaurerorden. Eine 1751 gegründete Großloge bezog sich auf die als unangemessen empfundenen Änderungen der älteren „Premier Grand Lodge“ und nannte sich daher die „Antients“. Bei der Vereinigung der beiden Großlogen im Jahre 1813 bekam eine Kommission den Auftrag zur Angleichung der Rituale. Hierbei kam es allerdings, bei fast gleichbleibender Formgebung, zu einer Verschiebung des ursprünglichen Symbolgehalts, denn nun wurde z.B. im Ritual des Meistergrads die Ausübung bestimmter (viktorianischer) Tugenden – statt einer rituellen Unio Mystica mit Gott – das zentrale Thema.

Der Beitrag von FRANS KOK (Liturgiewissenschaft, Pontificio Istituto di Musica Sacra di Roma) über liturgische Neuerungen und vielschichtige Rückbezüge auf ältere Traditionen in der Kirchenmusik zwischen dem zehnten Jahrhundert und dem zweiten Vatikanischen Konzil mußte wegen Erkrankung des Referenten entfallen.
BURCKHARD DÜCKER (Germanistik, Universität Heidelberg) ging in seinem Beitrag den Mustern beim Sprechen über Rituale bzw. dem Sprechen über das Neue nach. Entgegen der naheliegenden Annahme, es handle sich bei „dem Ritual“ und „dem Neuen“ um Gegensätze, konnte erwiesen werden, dass beide Begriffe eine Zuschreibung von Ordnung implizieren. Während der Ritualbegriff den Geltungsanspruch einer Ordnung affirmativ bestätige, zeige das Sprechen über „das Neue“ die Einordnung in den Ordnungszusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft. Gemein ist beiden die strukturierende Tendenz in der Bewältigung und Einordnung eines zufälligen und unerwarteten Handelns.

GERALD SCHWEDLER (Mittelalterliche Geschichte, Universität Heidelberg) widmete sich drei Ebenen der Bewertung von „Ursprünglich und Neu“ im historischen Prozess. Auf der Ebene der Ausführung einer Zeremonie während des Hochamts zum Fest der Heiligen Drei Könige in Paris im Jahre 1378 wurden die verschiedenen Voraussetzungen für traditionsbegründende bzw. stilbildende Ritualvorbilder untersucht. Die erste Brechung erfolgte auf der Ebene der interpretierenden Historiographen nachfolgender Jahrzehnte. Eine weitere Reflexionsebene war die Deutung spätmittelalterlicher Zeremonien durch die Zeremonialwissenschaftler des 18. Jahrhunderts. Diese gingen sehr wohl Fragen der Authentizität und Ursprünglichkeit von Riten nach, bewerteten hingegen den Gestaltungsraum der Monarchen für Neuerungen wesentlich höher – dies war freilich durch den absolutistischen Zeithorizont mitbedingt.

WOJCIECH FAŁKOWSKI (Mittelalterliche Geschichte Universität Warschau) ging anhand von mittelalterlichen Herrscherbegegnungen auf Inseln der Frage nach, ob die beobachtbaren Regelmäßigkeiten auf technisch-militärische, gewohnheitliche oder kulturelle Bedingungen zurückzuführen waren. Zwischen 842 und 1414 fanden in Europa mehrfach Treffen in der Flussmitte statt, bei denen das Muster eines gleichberechtigten Aufeinanderzubewegens auf offensichtlich neutralem Gebiet in der jeweiligen politischen Konstellation angewendet wurde. Er erwies, dass die besondere Neutralität auf Inseln durchaus ein traditionelles Element sein konnte, dass hingegen die verschiedenen rituellen Handlungen auf Inseln anderen Mustern verpflichtet waren.

ULRICH SCHÖDLBAUER (Germanistik, Universität Hagen) bewertete das Neue als multiperspektivisches Betrachtungskonzept. Im Spannungsfeld zwischen Einzel- und Gruppenbetrachtung obliegt die Wertung als Neues immer dem Subjekt, ja selbst das wertende Subjekt muss immer wieder zum Neuen werden. Die Suche nach dem Neuen, die cupiditas rerum novarum, erwies sich als Kennzeichen der Moderne und förderte auch gerade bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit historischem Material (Archive des Wissens) Altes beinahe zwanghaft neu hervor.

PHILIPP STENZIG (Mittelalterliche Geischichte, Universität Münster) stellte in seinem Vortrag über das Botschafterzeremoniell am Papsthof des 15. Jahrhunderts das Neue in zweifacher Hinsicht in den Vordergrund: Neben dem historisch-kasuell Neuen, also dem jeweils ankommenden Botschafter ergaben sich auch Neuerungen in den engen Normierungen der Abläufe beim Empfang der Botschafter. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Ordo und Einzelfall konnte er am reichen Material der kurialen Überlieferung darstellen, insbesondere an den Tagebüchern des päpstlichen Zeremoniars Paris de Grassis und dessen Tractatus de oratoribus.

In seiner Zusammenfassung verknüpfte BERND SCHNEIDMÜLLER (Mittelalterliche Geschichte, Universität Heidelberg) die Fäden der Vorträge aus den ungleichartigen Disziplinen. Zunächst stellte er die Bedeutung des von Historikern traditionell untersuchten Erinnerns in den Vordergrund, also der intentionale Rekurs auf vergangene Handlungsmuster. Das Erinnerte sei, was man an den Vorträgen erkennen konnte, nur ein gedacht Ursprüngliches, also eine immerfließende Traditionsfiktion, wie eine der neueren Strömungen der mittelalterlichen Forschung 2 formuliere. Daraus seien jederzeit Elemente für die Definition des gegenwärtigen Ranges und der Gleichrangigkeit entnehmbar. Je ursprünglicher diese seien, um so unanfechtbarer könnten sie wirken. Doch die Akzeptanz bestimmter Rituale und Riten für die Beteiligten (seien es zeremonielle Handlungen im indischen, freimaurerischen oder christlichen Kontext) gehe einer wissenschaftlichen Dekonstruktion von Kontinuität vor. Eine besondere Art der Neuerung von Ritualen sei diejenige durch Kommissionen, wie beispielsweise der Liturgiereform des zweiten Vatikanischen Konzils oder der Änderung der Rituale der englischen Großlogen bei der Vereinigung im 19. Jahrhundert. Die Betonung des Neuen sei eben nicht das einzige Grundmuster der Moderne. Der allgegenwärtige Rückbezug auf ursprüngliches Material in rechtfertigender Weise zeige, wie sehr Zeremonien und rituelle Handlungen heute wie in der Vormoderne jedes Mal auf dem Prüfstand stünden. Obwohl sich Rituale also immer aufs Neue bewähren müssen, können sie selbst Indikatoren für gesellschaftliche Veränderung, historische Dynamik gesehen werden.
Die Frage nach dem Ursprünglichen und dem Neuen erübrigt sich also nicht, wenn sie auch zu den herausfordernden gehört.

Eine Publikation der Beiträge ist vorgesehen.

Anmerkungen:
1Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis, München 1992.
2 Fried, Johannes, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004.


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts