Establishing Medical Genetics: Programs, Practices, Political Contexts, ca. 1910-1960

Establishing Medical Genetics: Programs, Practices, Political Contexts, ca. 1910-1960

Organisatoren
Volker Roelcke; Anne Cottebrune; Universität Gießen, Institut für Geschichte der Medizin
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.06.2007 - 30.06.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Anne Cottebrune, Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Geschichte der Medizin

Bisher fehlt eine grundlegende Untersuchung über die Entstehung und Etablierung der Humangenetik. Der im Englischen häufiger gebrauchte Terminus medical genetics (Medizinische Genetik) verweist auf ein nach 1945 dort entstandenes, etwas enger gefasstes Arbeitsfeld, das aber in vielfacher Hinsicht mit der vor allem im deutschsprachigen Raum und Skandinavien vor 1945 praktizierten Erbforschung bzw. Humangenetik in Verbindung stand. In einer 2005 erschienenen Monographie mit dem Titel „Moments of Truth in Genetic Medicine“ wendet sich die Wissenschaftshistorikerin Susan Lindee der Zeitspanne zwischen 1955 und 1975 zu. Diese Phase wird von ihr in der Folge als die entscheidende Phase für die radikale Transformation der Humangenetik in eine vielversprechende Disziplin, die das Konzept der genetischen Krankheit begründet haben soll, beschrieben.1 Die Charakterisierung menschlicher Krankheiten durch ihre Erblichkeit war aber weder ein Programm, das zeitlich erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg anzusiedeln wäre, noch lässt sich die institutionelle Etablierung der medizinischen Genetik auf einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten reduzieren. Diese chronologische Einengung blendet die historischen Wurzeln eines Vorhabens aus, das mit dem Aufkommen eugenischer Praxis und einer eigenständigen Disziplin der Humangenetik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstand. Schon lange bevor der Begriff der medizinischen Genetik aufkam und sich durchsetzte, bildeten die genetische Betrachtung menschlichen Daseins und die mit ihr verbundenen Praktiken aus der Medizin einen wesentlichen Bezugspunkt eugenischer Tätigkeit. Doch darf die medizinische Genetik nicht einfach auf Eugenik zurückgeführt werden, sie ist vielmehr von vielen unterschiedlichen sowohl wissenschaftlichen als auch gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst und geprägt. Diese sind allerdings nicht sämtlich kontinuierlich wirksam gewesen, sondern haben in immer wieder wechselnden Konstellationen die Geschichte der medizinischen Genetik dargestellt.

Ein von VOLKER ROELCKE und ANNE COTTEBRUNE organisierter Workshop, der in der Zeit von 28. bis 30. Juni in Gießen stattfand, hatte das Ziel, das komplexe Projekt der medizinischen Genetik umfassend zu erfassen und ihren Entwicklungsprozess in einem diachronen Längsschnitt, der die Zeit zwischen ca. 1910 und 1960 umfasste, zu studieren. Besonderer Klärungsbedarf galt insbesondere der Bedeutung eugenischer Programmatik, staatlich gesteuerter Forschungspolitik, aber auch gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Problemlagen und Fragestellungen für die Etablierung der medizinischen Genetik in unterschiedlichen nationalen Kontexten. Wie verschaltete sich die epistemische und institutionelle Entwicklung der medizinischen Genetik mit den politisch-gesellschaftlichen Begleitumständen? Welche Rolle spielten explizite und implizite Wertsetzungen und -hierarchien sowie je spezifische anthropologische Prämissen? Ein weiterer Fokus lag auf den Forschungspraktiken selbst, sowie der Entstehung von internationalen Forschungstrends und -standards. Dabei sollte auch nach dem Einfluss von politischen Zäsuren für eine Geschichte der medizinischen Genetik gefragt werden: Welche Auswirkung hatten die Umbrüche von 1933 und 1945 auf die Entwicklung der medizinischen Genetik? Wie ist vor allem die These von der vorübergehenden Diskreditierung der Eugenik nach 1945 für die weitere Entwicklung von Ressourcenzuweisungen, Forschungspraxis und Theoriebildung im Bereich der Humangenetik einzuschätzen?

In seiner Einleitung machte Volker Roelcke (Gießen) auf die neue Aktualität eugenischer Programmatik in den 1960er Jahren aufmerksam. Seit Ende der vierziger Jahre plädierten einige prominente Genetiker für die Entwicklung eines Programms, das darauf abzielte, die Evolution des Menschen genetisch zu kontrollieren und zu steuern. Der Nobelpreisträger Joshua Lederberg nutzte sogar das 1962 gehaltene CIBA-Symposium, um für sein in Erweiterung des Begriffs Eugenik gebildetes Konzept von „euphenics“ öffentlich zu werben, das eine gezielte Intervention in den entwicklungsbiologischen Prozess bezeichnete, die außerhalb der Chromosomen während der embryonalen Entwicklung erfolgen sollte. Diese Art des eugenischen Engagements war nicht nur kennzeichnend für ein politisches Klima, das für die Entfaltung medizinischer Genetik besonders günstig war, sondern war auch sehr nah an früheren eugenischen Wunschvorstellungen aus der Zeit vor 1945. Vor diesem Hintergrund fragte Roelcke nach einer detaillierten Analyse der Praktiken, Menschenbilder und Wertehierarchien, die mit der Entstehung medizinischer Genetik einhergingen.

BERND GAUSEMEIER (Berlin) befasste sich mit der im Bereich der psychiatrischen Erblichkeitsforschung angewandten Methodologie im ausgehenden 19. Jahrhundert. Seit den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts war man sich zunehmend der Problematik und Grenzen der überlieferten Anstaltsstatistik bewusst, die – zunächst zu administrativen Zwecken und politischen Bedarfsplanungen eingeführt – auch zur Erforschung von Vererbungsverhältnissen benutzt wurden. Kritisiert wurde die Unzuverlässigkeit der erhobenen Daten bei den Blutsverwandten der internierten Patienten, aber auch und vor allem die Tatsache, dass diese Art der Statistik keine Aussage über die Vererbungsmechanismen zuließen. Diese Probleme sollten durch eine akkurate genealogische Forschung behoben werden, die beginnend mit dem letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende eine zunehmend wichtigere Forschungsrichtung in der deutschen Psychiatrie bildete. Dabei galt es primär zu verfolgen, wie Nerven- und Geisteskrankheiten zueinander in Beziehung standen. Vor diesem Hintergrund bedeutete die Übertragung des Mendelismus auf die Psychiatrie nach 1911 eine Umkehr der bisherigen Perspektive. Ernst Rüdin, erster Vertreter einer mendelschen Psychiatrie in Deutschland, konzentrierte sich auf besondere Merkmale und analysierte ihre Verbreitung anhand statistischer Methoden mit der Hoffnung, mendelsche Vererbungsmuster aufdecken zu können. Dies machte schließlich der Rückgriff auf Stammbäume überflüssig.

EDMUND RAMSDEN (London) verfolgte die besondere Verflechtung eugenischer Programmatik mit Studien zur Intelligenz der Bevölkerung im England der Nachkriegszeit und ging auf eine 1947 vom schottischen Council for Research in Education und dem Population Investigation Committee durchgeführte Folgestudie von sämtlichen schottischen Schulkindern eines bestimmten Jahrganges ein. Entgegen der Erwartung vieler eugenischer Verfechter dieser Untersuchung wurde dabei eine Zunahme des Intelligenzniveaus festgestellt – ein Ergebnis, das im klaren Gegensatz zur Degenerationsthese der Eugeniker stand. Gleichwohl war es dieses als paradox beschriebene Ergebnis, das die Entstehung einer neuen optimistisch ausgerichteten Eugenik veranlasste, welche auf die enge Zusammenarbeit sozialer und biologischer Wissenschaften abzielte.

Im einem grundlegenden Referat befasste sich Volker Roelcke mit der eugenischen Fundierung psychiatrischer Genetik am Beispiel von Ernst Rüdin und der von ihm geleiteten Genealogisch-Demographischen Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, der weltweit ersten Forschungseinrichtung für psychiatrische Genetik. Er zeigte, wie die Institutionalisierung der psychiatrischen Genetik untrennbar mit eugenischen Motivationen und Programmatik verbunden war und präsentierte Rüdin als einen international hoch anerkannten Forscher, dessen wissenschaftlicher Einsatz von Beginn seiner Karriere im Jahrzehnt nach 1900 an mit einem politischen Engagement verknüpft war. Seit Ende der 1920er-Jahre wurde Rüdin für seine eugenisch motivierte Forschung zunehmend gefördert und profitierte nach 1933 aufgrund seiner engen Zusammenarbeit mit dem NS-Regime von einer direkten Unterstützung durch unterschiedliche staatliche Instanzen. Setzten sich bis zu diesem Zeitpunkt die Forschungsetats in der Hauptsache aus philanthropischen, indirekten und privaten Geldern zusammen, so war der Anteil der staatlichen Förderung nach 1933 wesentlich höher. Rüdin wurde nicht nur direkt vom Staat unterstützt, er verfügte auch über eine einflussreiche Position in seinem Fach. Durch seine Leitung von Fachgremien und die Herausgeberschaft von Zeitschriften, aber auch durch seine besondere Nähe zum Staat kontrollierte er weitgehend die Karrierenmöglichkeiten für Nachwuchswissenschaftler und bestimmte damit indirekt die Inhalte der Forschung. In diesem Zusammenhang erläuterte Roelcke sein Konzept der “career resources”, das Faktoren wie die Verfügbarkeit von Infrastrukturen, Stellenangeboten, Publikationsmöglichkeiten und öffentlichem Interesse zur Analyse von historischen Prozessen in den (Bio-) Wissenschaften zusammenführt.

PNINA G. ABIR-AM (Belmont, MA) erläuterte den Wechsel von Förderstrategien durch die Rockefeller Foundation nach dem Zweiten Weltkrieg und verdeutlichte ihren Einfluss auf die genetische und molekularbiologische Forschung. In der Nachkriegszeit wurde die Förderung von einer Vielzahl neuer Akteure geprägt. Die Rockefeller Foundation kooperierte mit vielen anderen Stiftungen und Organisationen. Vor diesem Hintergrund konnten größere Fördersummen in die Forschung fließen und längerfristige Projekte gefördert werden. Die größere Zuwendung zur Mutationsgenetik und die einseitige Großförderung von bestimmten Forschungsfeldern bewirkten – so Abir-Am – schließlich eine gewisse Vernachlässigung der allgemein-theoretischer Forschung; auch auf die entstehende Humangenetik habe die Stiftung in der Zeit nach 1945 allenfalls indirekt Einfluss gehabt.

ETIENNE LEPICARD (Jerusalem) wandte sich der Formulierung eines neuen eugenischen Konzepts durch die französischen Mediziner und Demographen Alexis Carrel und Jean Sutter in der Zeit nach 1930 (bis in die fünfziger Jahre hinein) zu. Dieses Konzept basierte auf dem Einsatz der Demographie und wies der Einwirkung von Umweltfaktoren in der biologischen Evolution des Menschen eine größere Rolle zu. In seinem Buch von 1950 „L’eugénique, Problème, Methodes, Résultats, Travaux et Documents“ formulierte Jean Sutter diese neue Form der demographischen Eugenik aus, die von Alexis Carrel, Gründer der ersten führenden Einrichtung für demographische Forschung in Frankreich – l’Institut National d’Etudes Démographique –, inspiriert worden war.

In seinem Beitrag über Robert Rössle und die Pathologie der Familie war OHAD PARNES (Berlin) um eine Kontextualisierung der Zwillingsforschung, die in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus einen Hauptpfeiler humangenetischer Forschung bildete, bemüht. Der Pathologe Robert Rössle führte die simultane Obduktion von Zwillingen mit dem Ziel des Vererbungsnachweises von spezifischen Krankheitsbildern durch. Sein Forschungskonzept umfasste bereits früh die systematische pathologische Untersuchung der Leichen von möglichst vielen Mitgliedern einer Familie, und insbesondere auch von Zwillingen.

STAFFAN MÜLLER-WILLE (Exeter), der die Ergebnisse einer vom schwedischen Institut für Rassenbiologie finanzierten Studie über die nordschwedische Bevölkerungsgruppe der Lappen untersuchte, wies auf die dynamische Weiterentwicklung anthropologischer Forschung seit den dreißiger Jahren hin. Angefangen mit dem ersten Leiter des rassenbiologischen Instituts, dem Rassenhygieniker Herman Lundborg, wurde die anthropologische Erforschung der Lappen Ende der dreißiger Jahre durch seinen Nachfolger, dem Populationsgenetiker und Sozialdemokraten Gunnar Dahlberg, fortgeführt. Die jeweils von Lundborg und Dahlberg in separaten Monographien präsentierten Ergebnisse der Untersuchung wiesen eine große Diskrepanz auf. Während Lundborg von einem bestimmten Rassetypus der Lappen ausging und als Hauptergebnis seiner Untersuchung die „Denationalisation“ der Lappen – ein Phänomen, das er als Degenerationstheoretiker missbilligte – stellte, sah Dahlberg in der „Denationalisation“ der Lappen einen aufschlussreichen Befund, der auf die stete Veränderung von Bevölkerungsgruppen hinwies. Fern von der Rassentypologie war Dahlberg an Veränderungsprozessen durch „natürliche“ Auslese interessiert und betrachtete die Rassen als kontingente Größen. Vor diesem Hintergrund stellte Müller-Wille die anregende These auf, dass die große Diskrepanz der Forschungsinteressen nicht nur durch die unterschiedliche politische Orientierung der beiden Forscher und die Verschiebung anthropologischer Prämissen bedingt war, sondern vor allem mit wissenschaftsimmanenten Entwicklungen zu tun hatte. Die Vorstellung von reinen naturgegebenen Rassen wich zunehmend einem dynamischen Rassenkonzept, weil sie forschungstechnische Probleme aufwarf und der statistischen Repräsentation von Bevölkerungen nicht mehr angemessen war.
PAUL WEINDLING (Oxford) fokussierte die Gegenstimmen zu einer eugenisch motivierten Forschung, sowie die Netzwerke unter den entsprechenden historischen Akteuren. Bereits in den 1930er Jahren hatten Biowissenschaftler, die sich gegen die Vorrangstellung rassischer Kategorien wandten, angefangen, sich zu organisieren. Sie entwickelten eine eigene Terminologie, um ihre Gegner anzugreifen, setzten sich für die Autonomie der Wissenschaft ein und übten scharfe Kritik gegen ihren ideologischen Missbrauch. Damit entwarfen sie eine Kritik, die bis in die Nachkriegszeit hinein fortgeführt wurde.

ALEXANDER VON SCHWERIN (Braunschweig) setzte sich in seinem Beitrag mit dem Verhältnis der experimentellen Tiergenetik zur medizinischen Genetik auseinander. Die Konvergenz von Forschungsinteressen zwischen allgemeiner Genetik und Humangenetik lässt sich einerseits durch die Zuwendung und besondere Affinität von Genetikern zur Erbpathologie erklären. Andererseits waren Humangenetiker umso mehr an den Ergebnissen der experimentellen Genetik interessiert, als sie sich über die Mängel ihrer eigenen Methoden immer bewusster wurden. Vor allem im „Dritten Reich“ interessierten sich Genetiker für vererbte und mit den Methoden der Pathologie nachweisbare („erbpathologische“) Merkmale und griffen auf Tiermodelle zurück, die ein Verständnis menschlicher Krankheiten ermöglichen sollten. So waren sie am Aufbau der sog. experimentellen und vergleichenden Erbpathologie beteiligt, die in den Forschungsprogrammen leitender Forschungsinstitute im Bereich der menschlichen Erbforschung eine immer größere Rolle spielte. Durch das Aufkommen der Molekularbiologie in den fünfziger Jahren war jedoch diese Forschungsrichtung in ihrer Attraktivität für die Humangenetik gefährdet. Langfristig konnte sie sich gegenüber neueren Entwicklungen insbesondere im Bereich der Bakteriengenetik nicht mehr behaupten. Tiermodelle wichen zunehmend dem Einsatz von Bakterien, um eine Klärung der menschlichen Vererbung herbeizuführen.

Ausgehend vom Beispiel des im schlesischen Neumarkt geborene und in die USA emigrierten Psychiaters Franz Joseph Kallmann machte Anne Cottebrune (Gießen) auf die Bedeutung des internationalen Transfers von genetischen Konzepten für eine transnationale Geschichte der medizinischen Genetik aufmerksam. Wie die Biographie von Kallmann zeigt, war der Transfer genetischer Konzepte aus Deutschland in die USA in der Zwischenkriegszeit durchaus erfolgreich, wenn auch langwierig. Die wissenschaftliche Integration von Kallmann in den USA musste erst erkämpft werden, bevor sich eine neue psychiatrische Genetik in den USA langfristig etablieren konnte. Die Verbindung von Kallmann mit einem Forschungsfeld, das vom NS-Regime in ganz erheblichen Maßen unterstützt worden war, war dabei offenbar kein Hindernis. Am New York State Psychiatric Institute entwickelte Kallmann ein Forschungsprogramm, das auf den theoretischen Konzepten und Methoden der eugenisch-rassenhygienisch motivierten Münchner Arbeitsgruppe um Ernst Rüdin unmittelbar aufbaute. Nur im Hinblick auf die Art der Anwendung eugenischer Prophylaxe relativierte er seine Ansichten und passte sich dem veränderten nordamerikanischen eugenischen Diskurs an.

NURIT KIRSH (Tel Aviv) war mit zwei Protagonisten und Begründern der medizinischen Genetik im Israel der fünfziger Jahre befasst. Bevor die Genetikerin Elisabeth Goldschmidt und der Arzt Chaim Sheba in den sechziger Jahren Zentren für medizinische Genetik gründeten, befassten sie sich in den fünfziger Jahren mit dem „screening“ von jüdischen Bevölkerungsgruppen und mit bestimmten bei Juden besonders verbreiteten Krankheiten. Diese Beschäftigung war entscheidend für die Entstehung des Forschungsfeldes, welches in Israel auf einem breiten Konsens aufbauen konnte.

SHEILA WEISS (Potsdam, NY) konzentrierte sich auf die Biographie des deutschen Humangenetikers Otmar Freiherr von Verschuer. Sie erläuterte sein eugenisches Engagement in einer Langzeitperspektive und unter Einbeziehung von Verschuers Verhältnis zum Protestantismus. Kontrovers diskutiert wurde die Frage, ob man Verschuer als einen Opportunisten betrachten dürfe.

Mit ihrem Vortrag über Phenylketonurie (PKU) und Neugeborenen-„screenings“ setzte DIANE PAUL (Boston) an der Geschichte einer einzelnen Krankheit und der mit ihr verbundenen Techniken an. In der Geschichte medizinischer Genetik kam der PKU, ihrer Testung und dem „screening“ eine sowohl symbolische als auch paradigmatische Rolle zu, da die Therapie bzw. Prävention von PKU als Vorbild für andere genetisch bedingte Krankheiten betrachtet wurde. Paul schilderte die im Zusammenhang mit dem „screening“ von Neugeborenen entstehende Debatte über die Reproduktion, die erst sehr spät auf ein Selbstbestimmungsrecht hinwies, und stellte vor diesem Hintergrund die Annahme eines frühen Niedergangs der Eugenik in Frage.

HELGA SATZINGER (London) schloss den Workshop mit einem anregenden Kommentar über allgemeine Forschungsperspektiven ab. Zunächst wies sie auf den rudimentären Forschungsstand hin und fragte nach der Existenz von für die Geschichte der medizinischen Genetik kennzeichnenden Entwicklungslinien. Sie bezeichnete das Aufkommen der medizinischen Genetik als einen dynamischen Vorgang, der durch abwechselnde Einschließungs- und Ausschließungsprozesse gekennzeichnet sei. Das Konzept der erblichen Krankheit selbst unterliege einem ständigen Wechsel je nach Epoche und Kontext. Dabei erweist es sich komplex, zu definieren, was genau zu welchem Zeitpunkt das heterogene Projekt der medizinischen Genetik war und ist. Die Betrachtung der Eugenik vereinfache gewiss den Zugang zur historischen Analyse der medizinischen Genetik, sie ermögliche aber keine umfassende Betrachtung dieses Themenfeldes. Staatlich verordnete Politik der „Erb- und Rassenpflege“ lässt sich nicht einfach mit der Bereitstellung von Techniken zum Selbstmanagement des Erbgutes in Verbindung setzen. Trotz offenbarer Diskontinuitäten in der Geschichte der medizinischen Genetik wies Satzinger auf die Bedeutung zugrundeliegender Kontinuitäten für eine adäquate historische Rekonstruktion hin. Zudem forderte sie eine Aufarbeitung der biochemisch-serologischen Forschung, die in der Geschichte der Humangenetik eine zentrale Rolle spiele.

Der Workshop war ein erster Schritt auf dem Weg zu einem historischen Verständnis der Entstehung medizinischer Genetik. Durch die diachrone Betrachtung der medizinischen Genetik in einer internationalen Perspektive wurden Einblicke in die Vielschichtigkeit ihrer Geschichte gewonnen und der Weg für eine übergreifende Beschreibung geebnet. Vor allem wurde nach der dynamischen Qualität der Geschichte medizinischer Genetik gefragt, die in gewisser Weise durch immer neue Anfänge gekennzeichnet war.

Konferenzübersicht:

Welcome: Anne Cottebrune, Volker Roelcke
Introduction: Volker Roelcke

Bernd Gausemaier (Berlin): The impact of genealogy on the formation of the field of medical genetics

Edmund Ramsden (London): Lionel Penrose and the population genetics of mental ability, deficiency anddisease in the UK and US

Volker Roelcke: Establishing the scientific foundations of eugenic policies: Ernst Rüdin andpsychiatric genetics at the German Psychiatric Research Institute

Pnina G. Abir-Am (Brandeis University/ Belmont, MA): The Rockefeller Foundation's shift of strategy in the post WW2 era: Ramifications for Molecular Biology and Genetics

Etienne Lepicard (Jerusalem/ Giessen): Eugenics and demography in the work of Alexis Carrel and Jean Sutter, ca. 1930-1960.

Staffan Müller-Wille (Exeter): Hermann Lundborg and Gunnar Dahlberg on eugenics and medical genetics - acomparison

Paul Weindling (Oxford): International anti-racist networks of biomedical scientists in the 1930s and 40s

Alexander von Schwerin (Braunschweig): The legacy of mice and rabbits in German medical genetics 1930-1970

Anne Cottebrune (Giessen): Franz Joseph Kallmann (1897-1965) and the Roots of Psychiatric Genetics in the United States: Transfer of German Scientific Concepts in the Context of North American Eugenics

Nurit Kirsh (Beer Sheva): Chaim Sheba, Elisabeth Goldschmidt and the screening for genetic diseases inIsrael during the 1950s

Sheila Weiss (Potsdam, NY): Otmar von Verschuer – a key figure in German racial hygiene and medical genetics

Diane Paul (Boston): Newborn Screening and the Rhetoric of Reproduction in the 1960s

Helga Satzinger (London): Comments

Anmerkung:
1 Lindee, Susan, Moments of Truth in Genetic Medicine, Baltimore 2005, S. 1.


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts