Der militärische Widerstand gegen Hitler im Lichte neuerer Kontroversen

Der militärische Widerstand gegen Hitler im Lichte neuerer Kontroversen

Organisatoren
Joachim Scholtyseck, Bonn; Christoph Studt, Bonn; Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944; Stiftung 20. Juli 1944
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.02.2008 - 24.02.2008
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Von
Holger Löttel, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Die „Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944“ versteht sich als Forum der Erinnerung und als Forum der Wissenschaft. Auf ihren alljährlichen „Königswinterer Tagungen“ werden Angehörige von Widerstandskämpfern und Historiker zusammengeführt, um über ausgewählte Themen der Forschung zu debattieren. Wenn zeitgenössische Erzählung auf retrospektive Erkenntnis trifft, kann daraus sowohl Dialog als auch Spannung oder gar Konfrontation erwachsen. In diesem Sinne stellte das Programm der XXI. Königswinterer Tagung, die ausnahmsweise im Bonner Haus der Geschichte stattfand, besondere Anforderungen an Referenten und Plenum, hatte die wissenschaftliche Leitung unter Joachim Scholtyseck (Bonn) und Christoph Studt (Bonn) doch ein ebenso strittiges wie relevantes Thema vorgegeben: „Der militärische Widerstand gegen Hitler im Lichte neuerer Kontroversen“.

Im Zentrum der Konferenzkonzeption stand der historiographische Streit über die Neubewertung des Widerstandes in der Heeresgruppe Mitte, den Johannes Hürter und Hermann Graml – flankiert von Felix Römer und Gerhard Ringshausen – zwischen 2004 und 2006 in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte ausgetragen haben.1 Angesichts der bereits verstrichenen Zeit ist es bemerkenswert, dass die Tagung den Kontrahenten nun erstmalig Gelegenheit bot, ihre Thesen und Argumente im direkten Schlagabtausch zu verteidigen. Da sich die Kontroverse im Kern um die Aussagekraft vereinzelter Aktenfunde vom Juli 1941 dreht, wurde sie durch ein zeitlich-thematisch ausgreifendes Vortragsprogramm eingerahmt, das die isolierte Betrachtungsweise überwinden und die Diskussion in einen größeren Zusammenhang von Widerstand und Kriegsgeschehen einbetten sollte.

So führte der Eröffnungsvortrag KLEMENS VON KLEMPERERS (Northampton, Massachusetts) in die Paradoxien des militärischen Widerstands ein. Verfangen in einer geradezu „absurden“ Lage, hätten die Offiziere um Henning von Tresckow den „gordischen Knoten von Widerstand und Kollaboration“ kaum zu zerschlagen vermocht. Dieses Dilemma verknüpfte sich auf essentielle Weise mit dem Krieg und seiner Natur als rassenideologischer Vernichtungskrieg. Aufgabe der ersten Tagungssektion war es daher, den „Faktor Krieg“ als Voraussetzung und Handlungsrahmen militärischen Widerstands in den Mittelpunkt zu rücken. BOGDAN MUSIAL (Warschau) stellte die nationalsozialistische und sowjetische Polenpolitik nach 1939 in einen komparativen Zusammenhang. Obwohl sich beide Herrschaftsformen durch ihren Vernichtungscharakter auszeichnen und insofern unbedingt vergleichbar sind, ergeben sich für Musial auch signifikante Unterschiede, was Planung und Umsetzung des Massenmordes anbelangt: So sei die Vernichtungsmaschinerie im sowjetischen Herrschaftsbereich planmäßiger, ja professioneller angelaufen, vermochte Stalin doch auf einen bereits eingespielten Terrorapparat zurückzugreifen. Die deutschen Gewaltherrscher erwiesen sich als „vergleichsweise dilettantisch“, sie erprobten „neue Methoden“ des organisierten Tötens und sammelten in Polen „konkrete Erfahrungen“. Logistische Probleme bei den Deportationen sprechen nach Musial ebenso für diese These wie ihr „wilder“ und oft ungeplanter Ablauf. Mehr für die deutsche als für die sowjetische Seite, so Musial, war die „vierte Teilung Polens“ also eine „Einübung in Erbarmungslosigkeit“.

Demgegenüber könne der Frankreichfeldzug von 1940, so hob JOACHIM SCHOLTYSECK in seinem Referat hervor, als vorübergehende „Rückkehr zum konventionellen Krieg“ charakterisiert werden. Übergriffe und Erschießungen, wie sie auch im Westfeldzug vorgekommen sind, gingen auf das Konto von Soldaten und Offizieren, die im „Eifer des Gefechts“ die „Nerven verloren“ hätten. Eine Typologie der Kriegsgräuel entwerfend, führte Scholtyseck die vereinzelten Exzesse auf eine Mischung aus „Angst und Hysterie“ zurück, die sich aber bei der historischen Betrachtung des Phänomens Krieg „im Rahmen des Bekannten“ bewegten. Scholtyseck berief sich hierbei auf die Forderung Sebastian Haffners, zwischen kriegsinhärenten Verbrechen und planmäßigem Massenmord zu unterscheiden, den „Normalkrieg“ also klar vom exterminatorischen Vernichtungskrieg abzugrenzen. Obwohl im Verlauf der Diskussion angemahnt wurde, notwendige Grenzlinien und Abstufungskriterien auszudifferenzieren, erwies sich die qualitative Unterscheidung zwischen West- und Ostkrieg als hilfreich, um das ethische Dilemma der Widerstandsoffiziere im Jahre 1941 und danach anschaulich zu machen.

Besonders deutlich wurde das anhand der Ausführungen von ROLF-DIETER MÜLLER (Potsdam) zum „Unternehmen Barbarossa“, die das eigentliche Operationsumfeld der Widerstandsoffiziere in der Heeresgruppe Mitte umrissen. Für die Heeresführung habe im Frühjahr 1941 die Beendigung des Krieges gegen England Priorität besessen. Jedenfalls sei der Angriff auf die Sowjetunion keinem Präventivkriegsgedanken entsprungen, der die Generalität an die Seite des Regimes gezwungen hätte. Im Bann von Hitlers vermeintlichem Feldherrengenie setzte sie seinen „Barbarossa“-Planungen schlichtweg keinen Widerstand entgegen. Wer den spezifischen Vernichtungscharakter des Russlandkrieges erklären will, so Müller, müsse daher nach wie vor beim Weltbild und der rassenideologischen Zielsetzung des Diktators beginnen. Für die Wehrmachtspitze vermochte Müller allenfalls eine „Teilidentität der Ziele“ auszumachen, also einen antikommunistischen Grundkonsens, wobei die „ideologischen Anknüpfungspunkte nicht überbewertet werden sollten“. Hätte das OKH im Sommer 1941 freie Hand gehabt, so lautete seine pointierte – und nicht unwidersprochen gebliebene – These, wäre der Ostfeldzug ähnlich verlaufen wie in den Jahren 1917/18. Alles in allem sah Müller die „Fixierung auf die Verantwortlichkeit der Wehrmacht“, wie sie die aktuelle Diskussion bestimme, eher kritisch.

Ganz andere Akzente setzte hingegen JÜRGEN FÖRSTER (Freiburg), dessen Wehrmachtsvortrag die zweite Tagungssektion über die Armeen der totalitären Diktaturen im Weltkrieg eröffnete. Für die Zeit nach 1945 diagnostizierte er beim deutschen Offizierkorps eine kollektive „Bewusstseinsspaltung“. Seitdem die Forschung in den 1960er-Jahren dazu übergegangen sei, die „verklärende Erinnerungs- und Memoirenliteratur“ zu entkräften, könne keine Rede mehr davon sein, dass die Wehrmacht sich im „künstlichen Zustand der Unschuld“ befunden habe. Die spektakulären Siege bis 1940 hätten vielmehr eine Übereinstimmung zwischen Volk, Regime und Armee herbeigeführt, die ganz auf der Linie der nationalsozialistischen Indoktrinierung gelegen habe. Tatsächlich sei die Mentalität der maßgeblichen Offiziere schon vor 1933 fixiert gewesen, und zwar auf den Fluchtpunkt von 1918 – ein Trauma, das sie durch den Wunsch nach „Wiederwehrhaftmachung“ zu bewältigen suchten. Kaum überraschend also, dass die Militärs die nationalsozialistische „Machtergreifung“ größtenteils begrüßten, zumal sie eindeutig als „Sieger“ aus der „nationalen Revolution“ hervorgegangen seien. Fasst man Försters Ausführungen zusammen, war die Wehrmacht mitnichten ein „grauer Fels in brauner Flut“, wie der Referatstitel in zugespitzter Manier gefragt hatte.

Mythen und Legenden standen auch im Mittelpunkt des Vortrages von DITTMAR DAHLMANN (Bonn) über die Rote Armee im „Großen Vaterländischen Krieg“. Dahlmanns Überlegungen drehten sich um die „Steuerung von Erinnerung“ in der sowjetischen Diktatur, waren also größtenteils rezeptionsgeschichtlich orientiert. Bereits im Jahre 1941 habe die Führung den „Ersten Vaterländischen Krieg“ gegen Napoleon beschworen, um den Widerstand gegen die „faschistischen Horden“ ideologisch zu untermauern. Propagandistisch aufgeladene Geschichtsbilder sollten dazu dienen, die ausgemergelten Ressourcen in Bevölkerung und Armee zu mobilisieren. Nach dem Krieg sei diese Mythenproduktion in den Dienst der Heroisierung der Roten Armee gestellt worden. Das Heldenbild vom „Großen Vaterländischen Krieg“ zu zeichnen, oblag freilich nur den staatlichen Propagandastellen.

Die Vorträge Försters und Dahlmanns verfestigten den Eindruck, dass um die Armeen des Zweiten Weltkrieges ein populärer Nimbus erwachsen ist, der im Falle der Wehrmacht auch von einer kritischen Historiographie nicht ernsthaft in Frage gestellt werden konnte. Anders lässt sich nicht erklären, warum die Ausstellung „Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht“ einen Sturm öffentlicher Entrüstung hervorgerufen hat, wie er in der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur einmalig gewesen sein dürfte. Die Frage, ob und wie die so genannte „Wehrmachtsausstellung“ auch das Bild vom militärischen Widerstand beeinflusst hat, bildete den Ausgangspunkt der Überlegungen von HANS-ULRICH THAMER (Münster), der hiermit die eigentliche „Kernsektion“ der Tagung über „Massenmord und Militäropposition“ eröffnete. Die erste Ausstellungsfassung von 1995 sei von dem Impuls getragen gewesen, tradierte Legitimationsmuster zu zerstören. Ihrem „Enthüllungsgestus“ gemäß habe sie Emotionen geschürt und ein pauschales Täterbild gezeichnet. Trotz oder gerade wegen der didaktischen Schlichtheit („Archivausstellung“) vermittelte sie einen hohen Grad von Anschaulichkeit. Durch die weder nachgewiesenen noch zugeordneten Fotos sei ein abstrakter Prozess personalisiert und den Tätern gleichsam „ein Gesicht gegeben“ worden. Wie Thamer bilanzierend festhielt, liegt die geschichtspolitische Brisanz der Ausstellung im Spannungsverhältnis zwischen dem historischen Wehrmachtserbe, das es aufzuarbeiten und zu bewältigen gilt, und der sinnstiftenden Wehrmachtstradition, die sich lange Zeit gegen die Bewältigung des Erbes als resistent erwies. Hieraus ergebe sich auch der komplizierte, nicht genau zu erfassende Zusammenhang zwischen „Wehrmachtsdebatte“ und „Widerstandskontroverse“. Auf den ersten Blick mag das Bild einer „verbrecherischen Wehrmacht“ den Widerstand einzelner Offiziere umso glanzvoller erscheinen lassen. Da die Forschung das einseitig heroische Widerstandsbild aber inzwischen dekonstruiert und sich dem ambivalenten Zusammenspiel von Teilhabe, Mitwirkung und Opposition widmet, stieß die Aktenkontroverse um die Heeresgruppe Mitte gewissermaßen auf ein Feld, das die Debatte um die „Wehrmachtsverbrechen“ bestellt hatte. Sie vollzog sich zwar unabhängig von der Ausstellung, schloss Thamer, wurde aber in ihrer Wirkung davon bestärkt.

Auf der Folie der bisherigen Vortragsergebnisse entfaltete JOHANNES HÜRTER (München) seine Thesen über „Militäropposition und Massenmord bei der Heeresgruppe Mitte“. Hürter, der über seine Beschäftigung mit der Generalität im Russlandfeldzug auf die fraglichen Akten gestoßen ist2, machte zunächst deutlich, dass sich Widerstands- und Ostkriegsforschung verwandten Gegenständen mit unterschiedlichen Fragestellungen nähern. Während die Widerstandsforschung auf den 20. Juli 1944 fixiert sei, konzentriere sich die Ostkriegsforschung auf den verbrecherischen Charakter des Vernichtungskrieges. Widerstandshistoriker stützten sich im wesentlichen auf rückblickende Erinnerungsliteratur oder Zeitzeugenaussagen, Ostkriegsforscher hingegen konsultieren vor allem dokumentarische und zeitnahe Materialien, also Akten, Briefe und Tagebücher. An der Schnittstelle zwischen beiden Themenfeldern arbeitend, bot sich Hürter die Möglichkeit, beide Quellengattungen kritisch gegeneinander abzugleichen. Im Zentrum seiner Thesenbildung stand ein Polizeilicher Tätigkeitsbericht der Einsatzgruppe B aus den ersten Wochen des Ostkrieges, genauer gesagt für die Zeit vom 9. bis zum 16. Juli 1941, der der Heeresgruppe Mitte zugestellt worden ist. In detaillierter Manier wird hier über Judenerschießungen im fraglichen Zeitraum berichtet, größtenteils mit genauen Zahlenangaben, die der Ic-Offizier Rudolf-Christoph von Gersdorff am Dokumentenrand schriftlich zusammenaddierte. Wie Hürter unterstrich, sind die Memoiren Gersdorffs damit in einem entscheidenden Punkt widerlegt, nämlich dem, dass die Generalstabsoffiziere erst nach dem Massaker von Borissow – also im Oktober 1941 – die Wahrheit über die Massenverbrechen erfahren hätten.3 Hürters Erkenntnis, die Widerständler um Henning von Tresckow seien „viel früher und genauer“ mit den Einsatzgruppenverbrechen vertraut gewesen als bislang bekannt, ist sauber aus den Quellen gearbeitet und konnte – Einwänden aus dem Publikum zum Trotz – nicht ernsthaft entkräftet werden. Es fiel auf, dass Hürter an dieser Stelle auf sein früheres Diktum vom „verzögerten Einsetzen der Moral“ verzichtete, das bis an die Grenzen der interpretatorischen Belastbarkeit des Aktenmaterials geht.4 Wer jedoch die – erwiesene – Kenntnis von den Massenmorden im Juli 1941 mit dem Oktober-Massaker in Beziehung setzt, mag zu der These gelangen, dass sich der innere Konflikt zwischen ethischen Prinzipien, soldatischer Ehre und formaler Gehorsamspflicht so lange zuspitzte, bis Borissow einen entscheidendes Fanal für den Widerstandsentschluß setzte. Wie Hürter annahm, hätten die Offiziere um Tresckow die Liquidierung jüdischer Männer als kriegsinhärente Maßnahme der Partisanenbekämpfung zumindest tolerieren können. Der mit Borissow markierte Übergang zum unterschiedslosen Judenmord, so seine plausible These, habe jedoch den entscheidenden Wendepunkt markiert. Unter konkurrierenden Pflichtvorstellungen setzte sich jetzt die ethisch-sittliche schließlich durch.

Die Überzeugungskraft von Hürters Vortrag speiste sich aus der sachlichen Art, mit der er die Quellen für sich selbst sprechen ließ. Ebenso unaufgeregt, dafür allerdings weniger quellennah, fiel die Replik von HERMANN GRAML (München) aus. Graml, der im Fall der Heeresgruppe Mitte weiterhin der Memoirenliteratur den Vorrang einräumt, verwies ganz grundsätzlich auf den Umstand, dass der Wechsel von Generationen und Fragestellungen auf dem Feld der Zeitgeschichte bisweilen scharfe Formen annehme. Der Anspruch jüngerer Historiker, mit der Unbefangenheit zeitlicher Distanz zu urteilen, sei ebenso berechtigt wie das Vorrecht älterer Kollegen bzw. der Zeitzeugen, die atmosphärische Kenntnis der erlebten Zeit für sich zu reklamieren. Gleichwohl setzte Graml hier eindeutige Akzente zugunsten erlebter Zeitzeugenschaft. Der „Aktengläubigkeit“ der Historiker hielt er Überlieferungs- und Tendenzprobleme entgegen („in Akten wird gelogen“). Wäge man den Erfahrungsvorsprung des Zeitzeugen und die Problematik der Akte gegeneinander ab, sind nach Graml hinreichende Gründe dafür gegeben, die Erinnerungswerke Gersdorffs und Fabian von Schlabrendorffs, mit denen er persönlich bekannt gewesen ist, über den Aussagewert von Hürters Aktenfund zu stellen. Da er jenseits dieser Memoirenapologie zu den eigentlich strittigen Punkten der Quellendiskussion gar nicht Stellung nahm, hatte sich zum Ende der Sektion allerdings kaum der Eindruck eingestellt, dass Hürters Argumentationsführung in irgendeiner Weise relativiert worden wäre.

Die letzte Tagungseinheit widmete sich „umstrittenen Formen widerständigen Handelns“, die von der neueren, an einem weiter gefassten Widerstandsbegriff orientierten Forschung in den letzten Jahren erschlossen worden sind. Unter diesem Gesichtspunkt widmete sich JULIA WARTH (Frankfurt) in ihrem Referat dem „Nationalkomitee Freies Deutschland“. Auf ihre Forschungen über den Wehrmachtsgeneral Walther von Seydlitz-Kurzbach zurückgreifend5, gelangte sie zu dem Ergebnis, dass das NKFD keineswegs als „Marionette Stalins“, sondern als „Widerstand hinter Stacheldraht“ zu gelten habe. Seydlitz’ Engagement sei nicht opportunistisch motiviert gewesen, sondern ganz wesentlich auf die Ereignisse von Stalingrad zurückzuführen. Diese Erlebnisse hätten ihn von der Notwendigkeit überzeugt, das NS-Regime zu stürzen und den Krieg zu beenden. Um ihre These zu erhärten, dass der Zusammenschluss der gefangenen Offiziere zum Widerstand gerechnet werden könne, wechselte Warth die Perspektive und zeigte auf, in welchem Maße die nationalsozialistische Regierung NKFD und den Bund deutscher Offiziere (BDO) als konkrete, ja gefährliche Bedrohung eingeschätzt hat.

NORBERT HAASE (Dresden), der über das Phänomen der Fahnenflucht als „Widerstand des kleinen Mannes“ berichtete, ging im Hinblick auf die Erweiterung des Widerstandsbegriffes noch einen entscheidenden Schritt weiter. Die neuere Forschung operiere mit einem integralen Widerstandsverständnis, das verschiedene Formen der Verweigerung erfasse, die durch eine engere Begrifflichkeit nicht abgedeckt werden könnten. Tatsächlich, so räumte Haase ein, sei die Desertion als „nicht gruppengebundenes“ Widerstandsphänomen schwer fassbar und oftmals von zufälligen Konstellationen abhängig gewesen. Fahnenflucht aus politischen Gründen stelle sicherlich ein Minderheitsphänomen dar. Obwohl die punktuell überlieferten Fallgeschichten keine systematische Zuordnung gestatten, nannte Haase doch prägnante Beispiele wie die der Wehrmachtsdeserteure Stefan Hampel und Peter Schilling, die sich von der Truppe absetzten, nachdem sie Zeugen von Massenerschießungen geworden waren. Abgesehen vom schwierigen methodischen Zugang führte Haase die eigentliche Kontroversität des Themas „Fahnenflucht“ als „Widerstand“ auf rezeptionsgeschichtliche Belastungen zurück. Nach dem Krieg sei die rechtliche Aufarbeitung zunächst durch personelle Kontinuitäten zwischen nationalsozialistischer und bundesdeutscher Justiz erschwert worden. Als der Pazifismus der 1980er-Jahre die Deserteure wieder in Erinnerung rief, hätten abermals zeitgenössische Vereinnahmungen die historische Annäherung erschwert. Eine solche müsse jedoch die spezifische Komplexität des Einzelfalls berücksichtigen und sich vor einseitiger Heroisierung ebenso hüten wie vor pauschalen Verdikten.

In mancherlei Hinsicht an die Überlegungen Haases anknüpfend, setzte sich SÖNKE NEITZEL (Mainz) mit „Rettern in Uniform“ auseinander. Der Ausspruch Theodor Fontanes: „Heldentum ist Ausnahmezustand und meist Produkt einer Zwangslage“, trifft für Neitzel den Kern der Schwierigkeiten, die sich bei seinem Thema stellen. Soldaten, die Erschießungsbefehle nicht ausführten oder Kriegsgefangene in die Freiheit entließen, hätten unterhalb der Ebene des politischen Widerstands ihr Leben riskiert. Im Hinblick auf die Gesamtverantwortlichkeit der Wehrmacht für die Art der Kriegführung falle solchen Taten singulärer Charakter zu. Schwer zu beantworten sei daher die Frage, wann im aufgeladenen „Gewaltklima“ an der Ostfront getötet, wann Gnade geübt wurde. Biographische Ansätze, die das Handeln Einzelner über soziokulturelle Prägungen zu erklären versuchen, brächten die Retterforschung kaum weiter, zu disparat lägen die einzelnen Fälle. Neitzel empfahl vielmehr die Betrachtung des jeweiligen „Referenzrahmens“, aus dem „Handlungssituationen der Akteure sowie ihre Situationswahrnehmungen, Hintergrundannahmen und wahrgenommenen sozialen Verpflichtungen rekonstruiert werden können.“6 Wie sich hieraus „aktiver Anstand“ (Fritz Stern) – also die Orientierung an zeitlosen Moralvorstellungen – habe herausbilden können, gelte es zu fragen. Der auf eine konstante Intentionalität verweisende Begriff des „Rettungswiderstandes“ (Arno Lustiger) sei für diese fallbezogene Herangehensweise eher unpraktikabel. Um die tiefen Ambivalenzen zu illustrieren, die sich mit dem Phänomen verbinden, zitierte Neitzel das Tagebuch des Lagerkommandanten August Töpperwien, der in seinem Zuständigkeitsbereich hinter der Ostfront mit massiven Gräueltaten konfrontiert wurde, hunderte gefangener Rotarmisten freiließ und dennoch bis Kriegsende damit rang, die nationalsozialistische Führertreue mit seinem christlichen Weltbild zu vereinbaren.7

Zum Abschluss der Tagung zog PETER HOFFMANN (Montreal) eine Bilanz der älteren Forschung zum Widerstand und zeichnete das Panorama einer Rezeptionsgeschichte vom „konkreten Scheitern“ zum „symbolischen Sieg“. Das Vortragsprogramm hat freilich gezeigt, dass sich die Widerstandsforschung jenseits der geschichtspolitischen Fronten methodisch-kritisch ausdifferenzieren muss. Wie Joachim Scholtyseck vermerkte, werde die „Hürter-Graml-Kontroverse“ irgendwann selbst einmal zum Bestandteil der Historiographiegeschichte geronnen sein. Der Maxime des niederländischen Historikers Pieter Geyl folgend, Geschichte sei „an argument without end“, hat die Konferenz dazu sicherlich einen Beitrag geleistet.

Konferenzübersicht:

Der militärische Widerstand gegen Hitler im Lichte neuerer Kontroversen

Eröffnungsvortrag
Klemens von Klemperer (Northampton, MA): Widerstand im Jahrhundert der Extreme

Sektion I: Der Charakter des Zweiten Weltkriegs – ein Weltanschauungs- und Rassenkrieg?
Bogdan Musial (Warschau): Die „vierte Teilung Polens“ – „Einübung in Erbarmungslosigkeit“
Joachim Scholtyseck (Bonn): Blitzkrieg gegen Frankreich – Rückkehr zum konventionellen Krieg?
Rolf-Dieter Müller (Potsdam): „Im Osten ist Härte mild für die Zukunft“ – Das Unternehmen Barbarossa“

Sektion II: „Herrenmenschen“ versus „Untermenschen“ – Die Gegner im militärischen Konflikt
Jürgen Förster (Freiburg): Die Wehrmacht: „grauer Fels in der braunen Flut“?
Dittmar Dahlmann (Bonn): Die Rote Armee im „Großen Vaterländischen Krieg“

Sektion III: Massenmord und Militäropposition
Hans-Ulrich Thamer (Münster): „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht“ – Zwei Ausstellungen und ihre Folgen für das Bild des militärischen Widerstands
Johannes Hürter (München): Militäropposition und Judenmord bei der Heeresgruppe Mitte. Alte Erinnerungen und neue Dokumente
Hermann Graml (München): „Mühsam und oft vergeblich“ – Chancen und Grenzen des Abgleichs zeitgenössischer Akten und erinnerter Zeitzeugenschaft

Sektion IV: Umstrittene Formen widerständigen Handelns
Julia Warth (Frankfurt): Das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ – „Widerstand hinter Stacheldraht“ oder Marionette Stalins
Norbert Haase (Dresden): Fahnenflucht – der „Widerstand des kleinen Mannes“?
Sönke Neitzel (Mainz): „Rettungswiderstand“ oder Mut zu „aktivem Anstand“?

Schlussvortrag
Peter Hoffmann (Montreal): Vom konkreten Scheitern zum symbolischen Sieg? Das Vermächtnis des Widerstands gegen das „Dritte Reich“

Anmerkungen:

1 Vgl. Johannes Hürter, Auf dem Weg zur Militäropposition. Tresckow, Gersdorff, der Vernichtungskrieg und der Judenmord. Neue Dokumente über das Verhältnis der Heeresgruppe Mitte zur Einsatzgruppe B im Jahr 1941, in: VfZ 3 (2004), S. 527-562; Gerhard Ringshausen, Der Aussagewert von Paraphen und der Handlungsspielraum des militärischen Widerstandes. Zu Johannes Hürter: Auf dem Weg zur Militäropposition, in: VfZ 1 (2005), S. 141-147; Felix Römer, Das Heeresgruppenkommando Mitte und der Vernichtungskrieg im Sommer 1941, in: VfZ 3 (2005), S. 451-461; Hermann Graml: Massenmord und Militäropposition. Zur jüngsten Diskussion über den Widerstand im Stab der Heeresgruppe Mitte, in: VfZ 1 (2006), S. 1-24; Johannes Hürter/Felix Römer, Alte und neue Geschichtsbilder von Widerstand und Ostkrieg. Zu Hermann Gramls Beitrag „Massenmord und Militäropposition“, in: VfZ 3 (2006), S. 301-322.
2 Vgl. Johannes Hürter: Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2006.
3 Vgl. Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff: Soldat im Untergang, Frankfurt am Main 1977, S. 98ff.
4 Johannes Hürter, Auf dem Weg zur Militäropposition. Tresckow, Gersdorff, der Vernichtungskrieg und der Judenmord. Neue Dokumente über das Verhältnis der Heeresgruppe Mitte zur Einsatzgruppe B im Jahr 1941, in: VfZ 3 (2004), S. 527-562, hier S. 549.
5 Vgl. Julia Warth: Verräter oder Widerstandskämpfer? Wehrmachtsgeneral Walther von Seydlitz-Kurzbach, München 2006.
6 Referenzrahmen des Helfens. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zum prosozialen Verhalten unter restriktiven Bedingungen. Kulturwissenschaftliches Institut Essen. Gefördert durch die Volkwagenstiftung. In: http://www.kwi-nrw.de/home/projekt-16.html (1.3.2008)
7 Vgl. Hubert Orlowski/Thomas F. Schneider (Hrsg.): „Erschießen will ich nicht!“ Als Offizier und Christ im Krieg. Das Kriegstagebuch des Dr. August Töpperwien. 3. September 1939 bis 6. Mai 1945, Düsseldorf 2006.


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