„Abgehört“ – Intercettazioni. Krieg und Nachkrieg des faschistischen Achsenbündnisses im Lichte neuer Quellen

„Abgehört“ – Intercettazioni. Krieg und Nachkrieg des faschistischen Achsenbündnisses im Lichte neuer Quellen

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Rom
Ort
Rom
Land
Italy
Vom - Bis
01.04.2009 - 02.04.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Alexander Korb, Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas, HU Berlin

Zwischen Oktober 1939 und Juni 1945 wurden in den alliierten Kriegsgefangenenlagern auf dem Londoner Landgut Trent Park sowie in Fort Hunt bei Washington Kriegsgefangene der „Achse“ abgehört.1 Ihre Gespräche wurden auf Wachsschallplatten mitgeschnitten, dann niedergeschrieben und anschließend ausgewertet. Zudem vernahmen die Ermittler ihre Gefangenen, ließen sie Fragebögen ausfüllen und sammelten biographische und psychologische Informationen über sie. Abhörprotokolle in der Stärke von 75.000 Seiten lagern in den National Archives in Kew Gardens und in Washington, DC.

Sönke Neitzel hat mit seiner Edition „Abgehört“ auf diese bislang übersehene Quellengattung aufmerksam gemacht, die völlig neue Perspektiven auf die Selbstwahrnehmung deutscher und italienischer Offiziere und Soldaten eröffnet.2 Das Partnerprojekt „Referenzrahmen des Krieges“ der Universität Mainz, des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen und des Deutschen Historischen Instituts in Rom untersucht den Quellenkorpus nun umfassend unter einer transnationalen, das heißt auf deutsche und italienische Soldaten in britischem und amerikanischem Gewahrsam ausgerichteten Fragestellung: Wie haben die Kriegsgefangenen zeitgenössisch Krieg und Politik gedacht? Wie haben sie die Ereignisse gedeutet und wie nahmen sie sich selber wahr? Die Konferenz „Abgehört“ gab am 1. und 2. April 2009 Gelegenheit, am DHI Rom die Abhörprotokolle aus deutsch-italienischer Perspektive zu diskutieren und eine Bestandsaufnahme des bis 2011 laufenden Projektes zu machen.

Die zentralen Themen der Tagung bildeten zum einem das Wesen der Abhörprotokolle als Quelle, die Unterschiede zwischen der Wehrmacht und den italienischen Streitkräften und ihrer jeweiligen gegenseitigen Wahrnehmung. Daraus resultierten Fragen nach dem jeweiligen Selbstverständnis beider Militärapparate während des Zweiten Weltkrieges und ihrer Transformation in der Nachkriegszeit. Ein letztes Themenfeld waren die unterschiedlichen Geheimdienstkulturen der jeweiligen Krieg führenden Parteien.

CHRISTIAN GUDEHUS (Essen) stellte das Projekt und seine Methoden vor. Die Gesprächsmitschnitte werden durch sechs Mitarbeiter der historischen, soziologischen und sozialpsychologischen Teilprojekte ausgewertet. Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem so genannten Referenzrahmen (Erving Goffman) der gefangenen Soldaten und Offiziere. Dieser besteht aus selbstverständlichen Hintergrundannahmen des Alltags, abstrakteren Hintergrundvorstellungen, sozialisierten Haltungen und Habitusformen sowie der konkreten Situation selbst, in der sich die Kriegsgefangenen befanden. Der Referenzrahmen setzte sich also aus bewussten wie aus unreflektierten, aus subjektiven wie aus sozialisierten Elementen zusammen. Ziel der Auswertung sei es, die zeitgenössischen Wahrnehmungen und Deutungen der damaligen Ereignisse durch die abgehörten Akteure zu rekonstruieren, und ihre subjektiven Handlungsoptionen zu verstehen.

Gudehus, wie später alle anderen Projektbeteiligten, wies ausführlich auf die Tücken der Abhörprotokolle hin und verdeutlichte das Potential des Materials und seine Grenzen. Die Kriegsgefangenen wurden meist bereits unmittelbar nach ihrer Gefangennahme und dann über einen längeren Zeitraum hinweg abgehört. Da die Kriegsgefangenen sich in einer Phase des Übergangs befunden und ihre bisherigen Deutungen des Kriegs und des NS-Regimes vielfach überdacht hätten, hätten sie das Bedürfnis gehabt, sich ihren Mitgefangenen mitzuteilen. Dafür hatten sie viel Zeit; erstmals seit Jahren, so die Projektbeteiligten, konnten sie sich aussprechen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Gerade der persönliche und subjektive Charakter der Gespräche, die Verunsicherung der Abgehörten und die zeitliche Nähe zu den diskutierten Ereignissen erlaube den Blick auf die zeitgenössischen Deutungsmuster, bevor diese schließlich in der Nachkriegszeit durch eine neue Sinngebung abgelöst worden sei. Zwar habe sich eine negative Sicht auf das NS-Regime schnell durchgesetzt, und die Verantwortung für die Niederlage sei der militärischen Inkompetenz Hitlers zugeschoben worden, doch die Einstellung zur Wehrmacht im Krieg habe sich in der Gefangenschaft nur wenig verändert, wie Sönke Neitzel betonte. Doch wurden auch zahlreiche Gegenbeispiele zu den unter den Kriegsgefangenen dominierenden Narrativen angeführt und sorgten für ein ausgewogenes Bild.

Alles in allem waren die Gefangenen gespalten in der Frage, ob der Krieg für Deutschland schon verloren sei. Keineswegs gaben alle deutschen Kriegsgefangenen den Krieg nach 1943 verloren, und es lassen sich Fälle anführen, in denen sich Offiziere noch aus der Gefangenschaft heraus um eine Beförderung bemühten. Bekennende Nationalsozialisten bildeten eine unter mehreren Untergruppen unter den Gefangenen. Dort wurde Hitler weiterhin verehrt. Auch unter den italienischen Militärs gab es unterschiedliche Positionen, und trotz des verbreiteten Gefühls, verraten worden zu sein, bewunderten viele das deutsche Offizierskorps. Auch dämpften die Veranstalter zu hohe Erwartungen an das Material. Neue Erkenntnisse über Verbrechen der Wehrmacht oder der italienischen Armee werde es keine geben. Dafür aber biete es Einblicke, wie die Militärs den Massenmord wahrnahmen und beurteilten.

Das Publikum und manche Kommentatoren übten sich ausgiebig in Quellenkritik, obgleich die meisten Kritikpunkte von den Referenten selbst bereits in den Vorträgen thematisiert worden waren. So blieben die Diskussionen bisweilen redundant. Deutlich wurde zweierlei: Vermutlich wussten die Kriegsgefangenen nicht, dass sie abgehört werden. Darauf deutet zum Beispiel die Tatsache hin, dass sie sich gegenseitig das erzählen, was sie den Verhöroffizieren verschwiegen hatten, und dass sie offen über die eigenen Kriegsverbrechen sprachen. Aber selbst wenn sie geahnt hätten, dass sie abgehört werden, hätten sie nicht den Referenzrahmen verbergen können, innerhalb dessen sich ihr Denken und Handeln bewegte. Weiterhin wurde diskutiert, wie die Alliierten das abgehörte Material filterten, und was Eingang in die Archive fand und was nicht.

Da das Erkenntnisinteresse der Amerikaner und Briten breit gefächert war und sich auf verschiedene Aspekte wie Militärtechnik, Strategie und Taktik, die Mentalitäten und die Lagebeurteilungen des Gegners sowie auf Kriegsverbrechen bezog, ist anzunehmen, dass die Wortprotokolle der abgehörten Gespräche das Spektrum des in der Kriegsgefangenschaft Sagbaren in seiner ganzen Breite abdecken. FELIX RÖMER (Mainz), der in seinem Teilprojekt die Wahrnehmungsmuster der abgehörten deutschen Kriegsgefangenen mit ihrem soziographischen Profil in Verbindung bringt, erläuterte in seinem Vortag ausgiebig die Methoden der US-Army in Fort Hunt. Das Anliegen der Intelligence-Offiziere sei es gewesen, herauszufinden, welche der Gefangenen Nazis waren. Zu diesem Zweck seien zu jedem der abgehörten Soldaten Akten mit personenbezogenen Daten angelegt und unter Verwendung soziologischer Methoden Fragebögen ausgewertet worden. Die Ergebnisse der amerikanischen Ermittler seien in zum Teil zweifelhaften Klassifikationen gemündet, und die vermuteten Korrelationen zwischen Gesinnung und Alter, Bildung oder Konfession habe sich nicht verifizieren lassen.

Die Vorträge von Römer und TOBIAS SEIDL (Mainz) zeigten zudem auf, dass das deutsche Offizierskorps in seinen Ansichten wesentlich heterogener war als bislang angenommen. Das Reflexionsniveau der in den Streitkräften des deutschen Kaiserreiches gedienten älteren Offiziere scheine insgesamt höher gewesen zu sein als das der jüngeren Offiziere. Erfahrungsgemeinschaften wirkten aber weit stärker auf das Handeln und die Wahrnehmungen der Akteure als Generationsgemeinschaften. Weniger das Alter, sondern eben die Erfahrung der Teilnahme oder Nichtteilnahme am Ersten Weltkrieg seien also ein entscheidender Faktor gewesen. An diesem Beispiel zeigt sich freilich, dass sich Generation und Erfahrung auch decken können. Die während des Zweiten Weltkrieges wirkungsmächtigste Erfahrungsgemeinschaft bildeten zweifellos die der Soldaten an der Ostfront, denn der Krieg in der Sowjetunion habe Jung und Alt ideologisiert. Seidl zeigte weiterhin auf, was Niederlagen und die Kriegsgefangenschaft bei den deutschen Militärs bewirkten: Die gut funktionierende Militärmaschinerie der alliierten Demokratien, mit der sie in der Realität des Kriegsgefangenenlagers konfrontiert waren, habe die deutschen Offiziere beeindruckt. Viele, die das Scheitern der Weimarer Republik noch selbst erlebt hatten, hätten nun Demokratie erstmals als leistungsfähig wahrgenommen. Aber auch die Einschätzung des fernen sowjetischen Kriegsgegners habe sich durch die sowjetischen Erfolge gewandelt: Die militärischen Leistungsfähigkeit der Roten Armee und die Organisation der KPdSU habe den Deutschen Respekt abgerungen.

Die Frage, wie sich deutsche und italienische Soldaten im Krieg gegenseitig wahrnahmen, wurde von SEBASTIAN GROß (Mainz) und AMEDEO OSTI GUERRAZZI (Rom) diskutiert. Das Panel war besonders reich an Ergebnissen, da deutlich wurde, wie sehr beide Seiten die jeweils andere als Alteritätspartner benötigten. Die Bündnisstruktur des nationalsozialistischen Deutschlands und des faschistischen Italiens, und dessen vorzeitiges Ausscheiden aus dem Krieg, habe es beiden ermöglicht, dem eigenen Tun in Abgrenzung zum jeweiligen Anderen Sinn zu verleihen. Dieser Mechanismus habe nur zwischen Bündnispartnern wirksam werden können, und sei durch das italienisch-deutsche Beispiel eindrücklich belegt. Italienische Kriegsgefangene zeichneten die Wehrmacht als eine technokratische und grausame Armee, der gegenüber die eigene zivile Menschlichkeit und kulturelle Überlegenheit bewahrt habe. Auf deutscher Seite hingegen habe man durch die Wahrnehmung der Italiener als Versager und Verräter das eigene Durchhaltevermögen und die deutsche Kampfesstärke überhöhen können. Jeweils beide Seiten schließlich hätten sich von ihrem Bündnispartner verraten gefühlt. Insgesamt, so führten die beiden Referenten aus, habe die italienische Seite stärker als die deutsche auf das Arsenal nationaler Stereotype aus dem 19. Jahrhundert zurückgegriffen und sich an den im Ersten Weltkrieg gesammelten Erfahrungen orientiert. Deutsche Militärs hingegen hätten ihr nun negatives Italienbild vor allem mit den direkten Erfahrungen, die sie mit dem Verbündeten gemacht hatten, begründet. In der Diskussion wurde dieser Befund allerdings stark hinterfragt.

Es zeigte sich, dass die Kapitulation Italiens 1943 beim deutschen Militär eher eine Affirmation der deutschen Kriegsführung bewirkte. Nicht nur das: Die italienische Kapitulation scheint eine win-win-win Situation für alle Beteiligten gewesen zu sein: Das nationalsozialistische Deutschland habe eine neue Dolchstoßlegende vom Verrat durch den Verbündeten gepflegt; Italiener hätten die Mär von den „Italiani brava gente“ verbreitet und das Land erfolgreich der Verantwortung für faschistische Verbrechen entledigt. Den Alliierten wiederum sei das bewusste Kleinreden des italienischen Kriegsbeitrages und der faschistischen Verbrechen allzu gelegen gekommen, da man so Italien als Bündnispartner gegen die Deutschen gewinnen konnte, und zudem die geläuterten Faschisten gegen die italienischen Kommunisten positionieren konnte. So wurde deutlich, dass viele der nach dem Zweiten Weltkrieg wirkungsmächtigen Relativierungsmythen im Kern bereits in den Kriegsgefangenenlagern eingeübt wurden.

Ein letzter Themenstrang der Tagung waren die unterschiedlichen Geheimdienstkulturen der Alliierten und der Achsenmächte, und die damit in Verbindung stehenden Mentalitäten. Kriegsgefangene seien stets redselig, erklärte SÖNKE NEITZEL (Mainz) die Tatsache, dass alle Kriegsparteien das Wissen ihrer Gefangenen abschöpfen konnten. Vor allem in Großbritannien habe das Feld „Human intelligence“ ein hohes Ansehen genossen und durchaus als kriegsrelevant gegolten. Die durch methodische Offenheit effizient gewonnenen Erkenntnisse über deutsche Taktiken, die Truppenmoral, Luftfahrttechnik, Raketentechnologie und Funkcodes haben den Kriegsverlauf für die Alliierten daher günstig beeinflusst. Anders in Deutschland: Das auf soldatische Primärtugenden ausgerichtete Ethos der Wehrmacht habe zu einer Geringschätzung der eigenen nachrichtendienstlichen Tätigkeiten geführt.

Der Pragmatismus der Alliierten, gepaart mit einem starken Antikommunismus, habe nach dem Krieg auch dazu geführt, dass deutsche SS- und SD-Offiziere vor allem durch die amerikanischen Nachrichtendienste wieder verwendet worden seien, wie KERSTIN VON LINGEN (Tübingen) in ihrem Vortrag aufzeigte. Vor allem in Italien, wo die amerikanische Angst vor einer kommunistischen Machtübernahme besonders ausgeprägt gewesen sei, seien viele ehemalige Nazis in US-Diensten zum Einsatz gekommen. Deutsche SS-Angehörige hätten für ihre Tätigkeit für die USA Straffreiheit zugesichert bekommen und seien finanziell unterstützt worden. Die deutschen Agenten hätten den Handel später effektiv für sich zu nutzen gewusst: Sie drohten damit, die amerikanischen Dienste mit ihren Kenntnissen über solche Deals zu desavouieren, und konnten gegen sie gerichtete Ermittlungen erfolgreich behindern.

In der Abschlussdiskussion übten einige der Diskutanten nochmals methodische Kritik am Projekt und zeigten sich von der transdisziplinären Ausrichtung des Projektes wenig überzeugt. Es schien, dass manche sich nicht auf den Anspruch des Projektes einlassen wollten, das nicht die Ereignisgeschichte rekonstruieren, sondern den zeitgenössischen Referenzrahmen der deutschen und der italienischen Kriegsgefangenen beleuchten will. Deshalb stieß die Quellenkritik oftmals ins Leere. Die Darstellung der Wahrnehmung des Holocaust sowie der Kriegsverbrechen durch die Wehrmacht und durch die italienischen Armeen blieb auf der Konferenz leider unterbelichtet. Die Erforschung des Referenzrahmens des Krieges durch alle Projektbeteiligten legt aber interessante Fährten, wie Leistungsträger des nationalsozialistischen Deutschlands und des faschistischen Italien sich zu neuen Eliten transformierten, die schließlich den westlich orientierten parlamentarischen Demokratien dienten. Man darf mit Spannung auf die Nachfolgekonferenz warten.

Konferenzübersicht:

Das Projekt. Perspektiven und Potenziale

Michael Matheus: Begrüßung

Christian Gudehus: Zur Rekonstruktion von Referenzrahmen. Methodische Anmerkungen.

Männer im Krieg: Perzeptionen und Mentalitäten

Amedeo Osti Guerrazzi: Hunnen! Die Deutschen in der italienischen Wahrnehmung.

Sebastian Groß: „Noch nicht ein Drittel eines Deutschen“. Die Italiener in den Augen der deutschen Soldaten.

Felix Römer: „How to recognize a Nazi“. Wehrmachtssoldaten im Fokus des US Military Intelligence Service.

Tobias Seidl: Vorstellungswelt und Deutungsmuster deutscher Generale im Zweiten Weltkrieg.

Die italienischen Generale. Selbstverständigungsprozesse und Karrierewege in den ersten Jahren der Republik.

Agostino Bistarelli: Brüche und Kontinuitäten. Das italienische Heer nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Top Secret

Sönke Neitzel: Die Bedeutung der „human intelligence“ für den britischen Nachrichtendienst.

Kerstin von Lingen: Über deutsche Nachrichtendienst-Offiziere in amerikanischen Diensten.

Wolfgang Krieger: „Human intelligence“ der besonderen Art. Die amerikanischen Geheimdienste und ihre deutschen „Klienten“.

Abschlussdiskussion

Elena Aga Rossi
Luigi Goglia
Leopoldo Nuti
Claudio Pavone
Lutz Klinkhammer

Anmerkungen:
1 Herzlicher Dank gebührt Leonid Sokolov (Berlin) und Manuel Oppermann (Essen) für ihre Tagungsprotokolle und für ihre Anregungen.
2 Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945, Berlin 2005, 2. Auflage 2006, 3. Auflage 2007.


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