Ein Europa der Experten? Transdisziplinäre Perspektiven

Ein Europa der Experten? Transdisziplinäre Perspektiven

Organisatoren
Esther Helena Arens, Jakob Vogel, Antje Weber, Zentrum für Vergleichende Europäische Studien der Universität zu Köln
Ort
Köln
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.02.2010 - 27.02.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Pascal Schillings, Köln

Die Figur des Experten ist in den aktuellen politisch-gesellschaftlichen Debatten um Europa stetig präsent, die Dominanz der Technokraten in der EU zum gängigen Topos geworden. Europa erscheint als ein von Experten dominierter und gestalteter Raum. Das Wechselverhältnis von Experten und Europa stand im Zentrum des von Esther Helena Arens, Antje Weber und Jakob Vogel organisierten dreitätigen internationalen Workshops „Ein Europa der Experten? Transdisziplinäre Perspektiven“ des Kölner Zentrums für Vergleichende Europäische Studien (ZEUS), der vom 25. bis 27. Februar 2010 an der Universität zu Köln stattfand. Ziel des Workshops war die Öffnung der Debatte über die Figur des Experten und die Formation von Expertendiskursen in unterschiedlichen Disziplinen und räumlichen Perspektiven.1 In fünf Vorträgen und sechs Doktorandenpanels beschäftigten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops unter breit gefächerten Fragestellungen mit der Figur des Experten, seinen Rollenzuweisungen und Handlungsfeldern im Verhältnis zu Europa.

In seiner Einführung plädierte JAKOB VOGEL (Köln) für die Verortung des Experten innerhalb von vier Spannungsfeldern: Im Verhältnis zur Wissenschaft, zur Politik, zur Öffentlichkeit und den Medien sowie als Teil einer sozialen Gruppe von Experten. Das Verhältnis zur Wissenschaft verweise auf die Problematik der Professionalisierung und der Spannungen zwischen verschiedenen Formen des Wissens. Da sich der Experte gerade durch Publikumserwartungen konstituiere, sei der Wandel der Medien und die damit einhergehenden veränderten Techniken der Vermittlung von Expertise zu problematisieren. In diesem Zusammenhang betonte Vogel die Bedeutung kulturgeschichtlicher Ansätze, welche die Inszenierung von Experten ins Zentrum rücken. Den räumlichen Rahmen der Expertise abzustecken sei ein komplexes Unterfangen, doch betonte Vogel insbesondere mit Blick auf die europäische Bezugsebene die Notwendigkeit eines jeu d’échelles im Sinne Jacques Revels, um lokale, regionale, nationale und transnationale Räume zu verknüpfen.2 Zuletzt argumentierte Vogel für einen interdisziplinären Blick auf die Rolle von Experten und warf die Frage auf, ob das stark an die Naturwissenschaften gebundene Bild des Experten auf andere Bereiche, beispielsweise in Kunst oder Literatur, übertragbar sei.

Unter dem Titel „Ein Paradies für Experten? Die Integration Russlands in die frühneuzeitliche Wissensgesellschaft“ ging ANDREAS RENNER (Köln) der Genese des medizinischen Expertentums im zaristischen Russland des 18. Jahrhunderts und der damit einhergehenden Frage nach der Integration Russlands in europäische Expertennetzwerke nach. Die quantitative wie qualitative Ausweitung der Gruppe der Experten im 18. Jahrhundert erfolgte nach Renner über die Strategien der Anwerbung, der eigenen Ausbildung und der Expansion. Er deutete in diesem breiteren Kontext insbesondere die Institutionalisierung medizinischen Wissens mit dem Ziel der systematischen Weitergabe von Kompetenzen in Russland als Neuerung des 18. Jahrhunderts, die erst durch eine intensivierte Verflechtung mit Westeuropa erfolgt sei. Dabei seien Mediziner als Experten insbesondere erfolgreich gewesen, weil sich eine funktionierende Symbiose zwischen ihnen und dem autokratischen Staat gebildet habe. So konnten die Ärzte ihre Expertise selber kontrollieren und abschirmen und ihre geringe professionelle Autonomie durch Einbindung in politische Entscheidungsprozesse ausbalancieren. So wurde noch für das 18. Jahrhundert eine einsetzende Ost-West Migration medizinischer Experten und Expertise nach Europa möglich.

Aus literaturwissenschaftlicher Sicht befasste sich RUDOLF BEHRENS (Bochum) in seinem Vortrag ebenfalls mit medizinischem Expertenwissen. Ein grundlegender Unterschied zwischen fiktionalem und wissenschaftlichem Schreiben liegt nach Behrens darin, dass ersteres den performativen Charakter der Wissensgewinnung ans Licht brächte, während zweiteres die Faktoren der Textproduktion im Sinne eines strikten Wahrheitsbegriffs als bedeutungslos abtue. In Émile Zolas „Le docteur Pascal“, so Behrens, träfen beide Modi aufeinander. In der Handlung relativierten sich die positivistische Methodik des Arztes Pascal, der als Experimentator komplexe Systeme der Wissensgenerierung durchdekliniere, und das vitalistische Lebenskonzept seiner Nichte Clotilde. Über die Scharnierfunktion des Sehens, so Behrens, verschränkten sich beide Positionen in einer vitalistischen Liebesbeziehung, deren Ausagieren das Leben in scheinbar voraussetzungsloser Weise erfahrbar mache. Aufgrund dieser als Differenz gezeichneten Ironiestruktur sei der Text nicht als trivialer Rückfall innerhalb des Werks Zolas, sondern als moderner Roman zu lesen.

Die Bedeutung von Transfers bei der Wissensproduktion hob MICHAEL WERNER (Paris) in seinem methodischen Vortrag „Kulturtransfer und Histoire croisée – Ansätze für eine Geschichte der europäischen Experten?“ hervor. Die Produktion von Wissen sei immer einer Prozesshaftigkeit unterworfen, die sich zum Beispiel in persönlichen oder institutionellen Vernetzungen konkretisiere. Deshalb seien zwar individuelle Beiträge notwendig, doch letztlich produziert werde Wissen erst in organisierten Kommunikationsmilieus. Am Beispiel der Förderpolitik der europäischen Sozialwissenschaften durch amerikanische philanthropische Gesellschaften zeigte Werner die komplexen Konfigurationen und vielfachen Interaktionen, die in den Prozess der Wissensproduktion eingehen. Dabei legte er dar, dass das großangelegte Projekt, amerikanische Vorstellungen von Sozialwissenschaften in Europa zu implementieren, sehr verschiedene nationale Ergebnisse hervorbrachte. Durch Aushandlungsprozesse mit Kontaktpersonen oder Institutionen in den jeweiligen Ländern und deren Verknüpfungen untereinander konnte das ursprüngliche Ziel, ein bestimmtes sozialwissenschaftliches Wissen zu produzieren, nur bruchstückhaft realisiert werden. Stattdessen entstanden in unterschiedlichen Aushandlungskontexten jeweils divergierende Ergebnisse.

Der Frage der Rolle von Experten im europäischen Integrationsprozess ging KIRAN PATEL (Florenz) in seinem Vortrag „Vom Europa der Nationalstaaten zum Europa der Experten? Expertentum in der Geschichte der EU“ nach. Patel beschrieb die EU im Sinne Bourdieus als entstehendes, Autonomie beanspruchendes Feld transnationaler Experten. Dabei betonte er die Gleichzeitigkeit zunehmender Expertisierung und ihrer Grenzen. So sei etwa in der europäischen Agrarintegration Expertenwissen wichtig gewesen, um agrarpolitisch handlungsfähig zu werden. Für die Agrarstatistik sei Europa als Referenzraum zur Setzung gemeinsamer Standards in Erhebungsverfahren bedeutsam geworden. Gleichzeitig, so Patel, hätten die nationalen Bauernverbände das Leitbild des bäuerlichen Familienbetriebs durchgesetzt, die damit gerade eine Tabuisierung von Expertenwissen anstrebten. Durch die Abwehr vermeintlich ‚kühler Analysen’ sei eine Bremsung der Expertisierung betrieben worden. Damit betonte Patel neben dem Einfluss der Experten auch die Bedeutung des Nichtwissens als gewichtigen Faktor in politischen Entscheidungsprozessen. Die eingangs erwähnte Technokratie sei in der europäischen Agrarpolitik nur in Anteilen umgesetzt worden.

Neben den Vorträgen und Diskussionen zum Konzept des Experten und transnationalen, europäisch orientierten methodischen Ansätzen stellten 21 Doktorandinnen und Doktoranden ihre Projekte in sechs Panels vor. Im von JESSICA GIENOW-HECHT (Köln) kommentierten Panel zum Thema „Räume“ standen Fragen nach der Bedeutung von identitätsstiftenden Interaktionsräumen für Netzwerke und die Frage nach der Bedeutung von Raumerfahrung für Expertise, beispielsweise im Fall von Künstlern oder Entdeckern, im Vordergrund. SIMONE DERIX (Köln) kommentierte das Panel zum Thema „Politische Praxis/Entwicklungshilfe“. Die Akteursvielfalt, die das Feld der Entwicklungshilfe in entstehenden Beziehungsgeflechten zusammenführt, so ein Befund, erlaubt die Beobachtung der performativen Herstellung von Expertise durch spezifische Praktiken. Im Panel „Infrastruktur und Institutionalisierung“, kommentiert von Jakob Vogel, wurde zentral die Verschränkung von Experten, ihrer flexiblen räumlichen Verortung und der Rolle des Staates als Entscheidungsinstanz problematisiert.

JENS JÄGER (Köln) problematisierte in seinem Kommentar zum Panel „Medien“ die Frage von Medien als Foren für Wissen am Beispiel von Lyrik, Romanen, Schulbüchern und journalistischen Texten und diskutierte den konstitutiven Zusammenhang von Medialität, Wissen und Experten. Das Panel zum Thema „Politische Praxis/EU-Europa“ kommentierte JÜRGEN ELVERT (Köln). Er wies auf die Komplexität des europäischen Integrationsprozesses als Konfliktgeschichte zwischen verschiedenen staatlichen Handlungsfeldern, nationalen Akteuren und der Institutionalisierung der Europäischen Union hin. BENNO NIETZEL (Köln) machte in seinem Kommentar zum Panel „Transnationale Netzwerke und Organisationen“ deutlich, dass der Begriff der Transnationalität eine europäische Organisationsgeschichte möglich mache, welche die Verflechtung von Kommunikations- und Annäherungsprozessen und die Frage nach der Konstitution von Netzwerken untersucht.

Der interdisziplinäre Ansatz des Workshops öffnete damit den Blick auf Europa – gleichzeitig als Untersuchungsgegenstand, -rahmen und Ergebnis von Expertennetzwerken und -diskursen. Neben einer Fülle von Einzelbeobachtungen zu sehr konkreten Aktivitäten von Experten generierte der Workshop eine Reihe von Fragen für die zukünftige Beschäftigung mit einem „Europa der Experten“. So bleibt die Frage nach der Entstehung und Metamorphose von Experten ein ebenso spannender Komplex wie das interne Funktionieren von Expertengruppen im Spannungsfeld von normativen Vorgaben, Qualitätsmerkmalen und Performanz. Die Grenzen normativer Rationalität von Expertise sind auch auf das Verhältnis von Experten und politischen Entscheidungen und mehrfache Rollenzuschreibungen – beispielsweise in Bezug auf Kategorien wie Geschlecht oder Religion – hin zu untersuchen. So erscheint das „Europa der Experten“ als ein einerseits sehr konkreter Untersuchungsgegenstand und andererseits als symbolischer Raum, der Ergebnis des Austauschs von Experten ist.

Konferenzübersicht:

Jakob Vogel (Köln): Einführung

Andreas Renner (Köln): Ein Paradies für Experten? Die Integration Russlands in die frühneuzeitliche Wissensgesellschaft

Rudolf Behrens (Bochum): Medizinisches Expertenwissen in der literarischen Narration

Plenumsdiskussion: Die Figur des Experten
Moderation: Esther Helena Arens (Köln)

Panel 1: Räume
Moderation: Esther Helena Arens (Köln)

Kommentar: Jessica Gienow-Hecht (Köln)
Doktorand/innen: Felix Heinert (Köln), Antoine Laporte (Paris), Sarah MacGavran (St. Louis/Köln), Pascal Schillings (Köln)

Panel 2: Medien
Moderation: Jakob Vogel (Köln)

Kommentar: Jens Jäger (Köln)
Doktorand/innen: Sidona Bauer (Köln), Romain Faure (Braunschweig), Anne Seitz (Bochum), Antje Weber (Tübingen/Köln)

Panel 3: Politische Praxis/Entwicklungshilfe
Moderation: Jakob Vogel (Köln)

Kommentar: Simone Derix (Köln)
Doktorand/innen: Esther Helena Arens (Köln), Dirk Lichte (Köln), Martin Rempe (Berlin)

Panel 4: Politische Praxis/EU-Europa
Moderation: Antje Weber (Köln)

Kommentar: Jürgen Elvert (Köln)
Doktoranden: Eckhard Braun (Leipzig), Pawel Lewicki (Berlin), Hinnerk Meyer (Hildesheim)

Michael Werner (Paris): Kulturtransfer und Histoire croisée – Ansätze für eine Geschichte der europäischen Experten?

Plenumsdiskussion: Verflechtung und Transnationalität
Moderation: Antje Weber

Kiran Patel (Florenz): Vom Europa der Nationalstaaten zum Europa der Experten? Expertentum in der Geschichte der EU

Panel 5: Infrastruktur und Institutionalisierung
Moderation: Esther Helena Arens (Köln)

Kommentar: Jakob Vogel (Köln)
Doktorand/innen: Fanny Billod (Wien), Marcel Streng (Bielefeld/Köln), Philipp Hertzog (Darmstadt)

Panel 6: Transnationale Netzwerke und Organisationen
Moderation: Antje Weber (Köln)

Kommentar: Benno Nietzel (Köln)
DoktorandInnen: Simon Godard (Genf), Christina Reimann (Köln), Christian Salm (Portsmouth), Matthias Schmelzer (Viadrina)

Anmerkungen:
1 In historischer Perspektive vgl. beispielsweise Eric Engstrom u.a. (Hrsg.), Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2005; aus soziologischer Sicht vgl. Ronald Hitzler, Wissen und Wesen des Experten. Ein Annäherungsversuch, in: ders. u.a. (Hrsg.), Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit, Opladen 1994, S. 13-30.
2 Zu diesen Fragen vgl. beispielsweise auch Philipp Ther, Beyond the Nation. The Relational Basis of a Comparative History of Germany and Europe, in: Central European History 36 (2003), S. 45-73; Katrin Steffen / Martin Kohlrausch, The Limits and Merits of Internationalism. Experts, the State and the International Community in Poland in the First Half of the Twentieth Century, in: European Review of History 16 (2009), S. 715-737.