Rationalitäten der Medizin

Rationalitäten der Medizin

Organisatoren
Ingar Abels, Berlin; Matthias Leanza, Halle an der Saale
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.04.2010 - 16.04.2010
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Von
Lars Gertenbach, Institut für Soziologie, Universität Jena

Aus mehreren Gründen rücken derzeit medizinische, therapeutische und psychologische Fragestellungen wieder vermehrt ins Blickfeld soziologischer Überlegungen.1 Kaum von der Hand zu weisen ist zunächst die zum Teil latente, zum Teil manifeste Umstellung gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen von ehemals dominanteren politischen oder soziologischen Vokabularien hin zu medizinischen, biologischen, genetischen bzw. im weitesten Sinn naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen. Der in öffentlichen ebenso wie in wissenschaftlichen Diskursen zu beobachtende Bedeutungszuwachs derartiger Erklärungsmodelle und die zunehmende Wahrnehmung sozialer Probleme in medizinischen oder therapeutischen Termini ist aber nicht nur Gegenstand wissenssoziologischer Betrachtungen, sondern findet auch immer mehr Beachtung im Rahmen allgemeiner Überlegungen zur Transformation gesellschaftlicher Steuerungs- und Wahrnehmungslogiken. Ein weiterer Aspekt lässt sich in einer sukzessiven Redefinition des Krankheitsbegriffs ausmachen. Galt Krankheit lange Zeit als Anzeichen akuten Leidens, so verweisen nicht nur die Kategorie der „gesunden Kranken“, sondern auch Techniken des präventiven Risikomanagements auf eine Verschiebung dieser Wahrnehmung. Die Unschärfe bezüglich der Differenz zwischen Gesundheit und Krankheit wird begleitet von einer zunehmenden Vermischung der Trennung zwischen Heilung und Verbesserung/Enhancement, sobald medizinische Termini sich an Kategorien der Optimierung und Steigerung koppeln. Das vermehrte soziologische Interesse an diesen Phänomenen resultiert zudem auch daraus, dass sich vermittelt über diese Fragen das Spektrum medizinsoziologischer Perspektiven noch durch einige jüngere Ansätze erweitert hat. Neben einer immer breiter diskutierten foucaultschen Perspektive lassen sich hier insbesondere neuere Arbeiten zu Biosozialität 2, Post-Sozialität3 oder aus dem Umkreis der Akteur-Netzwerk-Theorie anführen.

Die von INGAR ABELS und MATTHIAS LEANZA organisierte Tagung „Rationalitäten der Medizin“, die vom 15. bis 16. April in Halle/Saale stattfand, versuchte sich diesen im weitesten Sinne medizinischen Phänomenen aus unterschiedlichen Perspektiven zu nähern. Entgegen der klassischen Ausrichtung medizinsoziologischer Forschungen sollte die medizinische Praxis und Wissensgenese selbst deutlicher zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden und nicht zugunsten einer Beschäftigung mit Fragen der Anwendbarkeit von Medizin oder der soziologischen Zuarbeit gegenüber medizinischen Wissensformen in den Hintergrund treten. Entlang der Unterscheidung von Robert Straus zwischen einer „sociology in medicine“ und einer „sociology of medicine“ sollte letzteres programmatisch bestärkt werden. Ziel war es daher, die Logik der medizinischen Praxis sowohl im Bereich der Kuration wie auch dem der Prävention einer soziologischen Fremdbeschreibung zu unterziehen, die sich selbst möglichst nicht innerhalb dieses Paradigmas verorten lässt. Dezidierter programmatischer Ausgangspunkt war die Annahme, nicht von einer einheitlichen, linearen oder gar teleologischen – in der Regel meist modernisierungstheoretisch unterfütterten – Struktur der Entwicklung medizinischen Denkens auszugehen, sondern in Kontakt mit empirischen Wirklichkeiten spezifische Rationalitäten (im Plural) der Medizin herauszustellen und diese auf ihre innere Logik und ihre gesellschaftlichen Wirkungsweisen zu befragen. Diese Perspektive auf Rationalitäten der Medizin war dabei bereits im doppelten Sinne als Hinweis auf den programmatischen Ausgangspunkt zu verstehen: einerseits im Sinne einer Absage an Vorstellungen einer immer gleichen oder auch notwendig kohärenten Logik medizinischen Wissens. Und andererseits wurde der Begriff der „Rationalität“ im Anschluss an Foucault genauer konturiert als Bezeichnung einer Art inneren Kohärenz einer bestimmten Denkweise bzw. Wahrnehmungslogik. Entsprechend sollte der thematische Fluchtpunkt weder primär auf die Intentionalität handelnder Akteure bezogen sein, noch auf die Frage nach einer rationalen oder sinnhaften Einrichtung der Medizin eingeschränkt werden. Im Anschluss an Foucault sollten demgegenüber „Regime der Rationalität“ in den Blick genommen werden, die sich entsprechend einer Formulierung Foucaults „in Praktiken oder Systemen von Praktiken niederschlagen“.4 In diesem Sinne sorgen Rationalitäten nicht nur für eine bestimmte innere Kohärenz der Praktiken, sondern auch dafür, die Realität dem Kalkül und der Bearbeitung in einer bestimmten Weise zugänglich zu machen.5

Dass sich die Medizin für eine solche Betrachtung eignet, hatte auch Foucault bereits in „Die Geburt der Klinik“ gezeigt, indem er die Transformationen beschrieb, die für die Entstehung des modernen Medizinsystems bzw. für die Geburt einer neuartigen Rationalität medizinischen Denkens entscheidend waren. Diese haben schließlich nicht nur dazu geführt, dass der Anatomie ihre heutige zentrale Bedeutung zukam und damit der Körper selbst einem anderen Blick unterworfen wurde, sondern auch, dass nicht länger der einzelne Kranke, sondern die Krankheit als solche ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Auch wenn kaum von der einen Logik medizinischer Praxis gesprochen werden kann, kommt bei dieser Umstellung doch insbesondere der Abkehr von einer unmittelbaren Erfahrungsbasiertheit des medizinischen Wissens eine zentrale Rolle zu – und damit einem Aspekt, der neben der vollkommenen Veränderung des Verhältnisses von Arzt und Patient vor allem die Struktur des medizinischen Wissens insgesamt re-arrangiert.

Vor diesem Hintergrund widmete sich die Tagung der gleichzeitig historischen wie zeitdiagnostischen Frage nach der grundlegenden Logik medizinischer Praktiken wie auch nach aktuellen Umstellungen der diesen zugrunde liegenden Rationalitäten. Eingelassen waren die Vorträge in drei Panels: (1) das System der Krankenbehandlung, (2) präventive Rationalitäten bzw. Überlegungen zum Verhältnis von Kuration und Prävention, sowie (3) psychologische Rationalitäten. Alle Vorträge wurden dabei von anderen, selbst nicht referierenden TeilnehmerInnen kommentiert, wodurch die inhaltliche Zielrichtung der Tagung im Blick behalten wurde.

1) Das System der Krankenbehandlung
Den ersten Vortrag der Tagung hielt TANJA STEIN (Bielefeld), die zur Genese und Ausdifferenzierung der modernen Medizin referierte. Der Fokus lag hierbei vor allem auf der Etablierung der Rollendivergenz zwischen Arzt und Patient, die für die Durchsetzung der spezifischen Form des modernen Medizinsystems von entscheidender Bedeutung ist. Wie gelang es also, dass die Meinung des Arztes sich gegenüber der des Patienten in ihrer heutigen Form durchsetzen konnte? Wie gelang es, die Macht der Deutung über Phänomene der Krankheit zu gewinnen, ohne die Krankheit selbst 'erfahren' zu müssen? Wie gestaltete sich die Einsetzung des medizinischen Wissens gegenüber der individuellen Erfahrung des Patienten, die noch zu Beginn der Moderne den Arzt in eine dem Patienten gegenüber nachrangige Rolle versetzte? Eine der entscheidenden Umstellungen zu Beginn der modernen medizinischen Rationalität ist daher, so ein Ergebnis des Vortrags, im Bruch mit der starken Dominanz des Laien zu suchen, die mit der Abkopplung des medizinischen Wissens von der unmittelbaren Erfahrung verkoppelt ist.

Daran anschließend referierte THOMAS ERDMENGER (Leipzig) zur medizinischen Interaktionssituation der Visite. Im Anschluss an die luhmannsche Unterscheidung zwischen Zeit-, Sozial- und Sachdimension innerhalb von Kommunikation wurde nicht nur anhand empirischer Daten untersucht, wie diese Momente zusammengebracht werden und sich Interaktion hierüber stabilisiert, sondern auch, inwiefern sich in der Visite als spezifischer Kommunikationsform die verschiedenen Typen sozialer Systembildung, also Interaktion, Organisation und Gesellschaft, ineinander verschränken. In derartigen Interaktionsformen wie der Visite vermitteln sich die Anforderungen und spezifischen Rationalitäten des Medizinsystems mit den beteiligen psychischen Systemen und verdichten sich über die Regulierungen von Personenrollen zu einem allgemeinen Verfahren der Krankenbehandlung.

Der darauf folgende Vortrag von KATHRIN FRANKE (Leipzig) widmete sich der Transformation der Psychiatrie in Ostdeutschland zwischen „Modernisierung“ und „Vergangenheitsaufarbeitung“. Zwar warf Franke auch die Frage auf, inwiefern sich seit 1989 ein Wandel in der Art der Therapie beobachten lasse, ihr Hauptfokus galt jedoch den Reformnarrativen. Anhand von Interviews, die auf die „Institutionen-Biographien“ der an der Reform beteiligten Akteure zielten, wurde vor allem gezeigt, wie die Diskussion um die Reform der Psychiatrie bis heute von zwei Narrativen dominiert wird: einem weitgehend ungebrochenen Humanisierungs- und Modernisierungsnarrativ einerseits und einem (eher bei früheren DDR-Psychiatern anzutreffenden) Opfer-Narrativ auf der anderen Seite. Beide lassen sich als unterschiedliche Strategien der Problematisierung begreifen – im einen Fall der „DDR-Psychiatrie“ und im anderen Fall der als erzwungen erlebten „Reform“. Diese Spannung verhindere aber nicht nur eine nüchterne Diskussion über Leitbilder, Ziele und Logiken der Psychiatrie, sondern ziehe auch spezifische Probleme nach sich, die sich bis heute in den Debatten um Ausrichtungen und Ziele psychiatrischer Institutionen zeigten.

Eine andere und ebenso aktuelle Frage warf der Vortrag von ANJA PANNEWITZ (Leipzig) auf, der das erste Panel abschloss. Thematisch widmete er sich dem Coaching als einer immer verbreiteteren Form des Beratens. Wird diese Ausbreitung in der Literatur üblicherweise zugleich mit einer Expansion ökonomischer Leistungslogiken verbunden, so versuchte Anja Pannewitz anhand von Interviewmaterial zu zeigen, inwiefern die Praxis des Coaching von einem permanenten Wechsel zwischen Leistungs- und Entlastungslogiken gekennzeichnet ist. Sie sei mitnichten eine schlichte Ökonomisierung der Therapie, sondern changiere in der Regel stets zwischen ökonomischer Optimierungslogik und therapeutischer Praxis. Dass die Leistungslogik dennoch ein größere Rolle spielt als in klassischen Therapieformen sei weniger der – im Grunde relativ offenen – Struktur des Coaching geschuldet, sondern vielmehr einer gewissen Arbeits-, Fitness- und Wettkampfmetaphorik, einer offensiven Nutzung des Coachings innerhalb von Unternehmensstrukturen sowie der vor allem auf Wirtschaftsunternehmen zielenden Außendarstellung vieler Coaches.

2) Präventive Rationalitäten
Das zweite Panel umfasste wiederum vier Themen und wurde eröffnet von einem Vortrag von MATTHIAS LEANZA (Halle) zum Präventionskonzept im Kontext neohippokratischer Medizin im 18. Jahrhundert. Zu dieser Zeit ereignete sich gleichzeitig eine Renaissance antiker Diätetik sowie die Genese einer Statistiken und Bevölkerungskalkulationen operierenden medizinischen (Polizey-)Wissenschaft. Matthias Leanza zeigte, wie sehr Prävention und Behandlung zwar als getrennte, aber faktisch in vielerlei Weise verschränkte Logiken begriffen werden müssen, die ihren gleichen Gegenpol im religiösen Schicksalsglauben besitzen. Der Vortrag verdeutlichte, wie sich im Rahmen der Diätetik vier Muster der Selbsttechnologien herausbildeten: (1) eine Moralisierung des Lebensstils, die bestrebt ist, den Alltag im Hinblick auf Gesundheit einzurichten; (2) eine Vergewisserung darüber, dass die langfristige Orientierung auf Prävention und Selbstsorge auch unangenehmes, kontraintuitives Handelns erfordert; (3) eine Systematisierung und Disziplinierung des Alltags, insofern maßvolles Handeln erfordert ist sowie (4) eine Praxis der Selbstbeobachtung, da die allgemeinen diätetischen Ratschläge stets individuell angepasst werden müssen. Ein Ziel des Vortrags bestand entsprechend in der historischen Verortung und Präzisierung dieser spezifischen Rationalität der Veralltäglichung von Gesundheitsprävention.

Im Anschluss hieran erweiterte ANDREA ZUR NIEDEN (Düsseldorf) mit ihrem Vortrag über die Parallelen zwischen medizinischer Volksaufklärung im 18. Jahrhundert und der heutigen „genetisierten Medizin“ diese Perspektive auf die medizinischen Selbsttechnologien durch einen Blick auf die Logiken gegenwärtiger präventiver Medizin. Obwohl die heutige Genetik durchaus unvereinbar ist mit einigen Vorstellungen und Konzepten der Medizin des 18. Jahrhundert – etwa dem Modell des Körpers als „reizbarer Maschine“6 oder der Einbindung der Selbstsorge in den Rahmen einer Verpflichtung gegenüber Gott – lassen sich, so Andrea zur Nieden, durchaus überraschende Parallelen auf der Ebene einer eigenverantwortlichen Selbstdiagnostik feststellen. Beiderseits zentral sei daher die Logik der Prävention, die heute vor allem in zahlreichen Vorsorgeuntersuchungen anzutreffen sei, jedoch im Gegensatz zum 18. Jahrhundert immer mehr die Form einer Konsumtion von Gesundheit annehme. Sie entwickele eine Nachfragementalität, in der die Patienten als Kunden von Gesundheitsangeboten adressiert würden.

Gegenüber dieser historischen Ausrichtung waren die beiden folgenden Vorträge stärker auf einzelne Gegenstandsbereiche ausgerichtet. BERIT BETHKE (Bielefeld) referierte am Beispiel einiger Ausstellungen des Deutschen Hygiene Museums Dresden in Entwicklungsländern über Anleitungen zur Gesundheitsfürsorge. Dem Dresdner Museum kommt bei der Durchsetzung und Übertragung medizinisch-hygienischer Rationalitäten eine zentrale Bedeutung zu. Obwohl die Visualierungsstrategien der Ausstellungen durchaus auf die länderspezifischen Adressaten zugeschnitten waren, ähnelten sie sich auf der inhaltlichen Ebene - so die zentrale These - doch in zentralen Aspekten. So wurde über jeweils lokal variierende Bildmotive ein als universell vorgestelltes Körperwissen transportiert, das zugleich auch Fragen der Gesundheitserhaltung thematisierte. Entsprechend kommt den Ausstellungen des Dresdner Museums dabei eine hohe Bedeutung bei der Diffusion bestimmter biopolitischer Wissensformen zu.

Demgegenüber konzentrierte sich der Vortrag von BENJAMIN MARENT (Wien) darauf, wie Konzepten der Partizipation im Rahmen der Gesundheitsfürsorge eine bedeutende Rolle als kommunikative Strategie zukommt. Der in der Regel weitgehend diffus verwendete und konzeptionell nicht hinreichend geklärte Begriff der Partizipation wurde dabei unter Rückgriff auf das luhmannsche Kommunikationsmodell so konzipiert, dass er zunächst die Einbindung der Adressaten in Gesundheitsinitiativen von Organisationen thematisieren konnte. Partizipation lässt sich in diesem Sinne als Möglichkeit verstehen, Gesundheitsinitiativen anschlussfähig an die unterschiedlichen Erfahrungen, Bedürfnisse und Wissensbestände der Adressaten zu halten. Das Problem der Einbindung und Erreichbarkeit der Adressaten wird daher organisationsspezifisch über verschiedene Medien angegangen, so dass Partizipation gleichzeitig zu einem wesentlichen Teil der Semantik von Gesundheitsinitiativen wird. Gleichwohl offen bleibt dabei aber, wie Partizipation im Einzelfall tatsächlich organisiert wird und vor allem ob der Rückgriff auf Partizipationssemantik in Organisationskontexten nicht bestehende Machthierarchien unberührt bleiben lässt und damit gerade nicht demokratische Formen der Teilhabe anstrebt, die in anderen Kontexten mit dem Begriff der Partizipation selbst zutiefst verbunden sind.

3) Psychologische Rationalitäten
Im Gegensatz zu den ersten beiden Panels umfasste das letzte Panel zu psychologischen Rationalitäten nur einen Vortrag. Das Thema von INGAR ABELS (Berlin) bestand in der Erkundung einer Genealogie der Depression. Wird Depression in vielen aktuellen Publikationen als typische Gegenwartskrankheit behandelt7, so bleibt doch zumeist unklar, worauf sich das Ansteigen depressiver Erkrankungen letztlich zurückführen lässt oder ob es nicht schlichtweg zu weiten Teilen Resultat einer veränderten Wahrnehmung ist. Um diese epistemologischen Unwägbarkeiten zu umgehen, die im Extremfall schnell in einseitige oder gar deterministische Argumentationen führen, sprach sich Ingar Abels für eine genealogische Perspektive aus, die zunächst an der Stelle ansetzt, wo sich Depression als Begriff, Problem und Bezugspunkt psychiatrischer Tätigkeiten herausbildete. Einen entscheidenden Einsatzpunkt verortete sie daher in jener Phase, in der nicht nur der Begriff selbst entstand, sondern in der vor allem Melancholie und Depression als Phänomene noch weitgehend undifferenziert und parallel verwendet wurden. Folgerichtig konzentrierte sich der Vortrag aufgrund seiner historischen Frageperspektive auf den Zeitraum von 1818 und 1913, der markiert war von der ersten Begriffsverwendung durch Johann Christian August Heinroth und der schließlich erfolgten Festschreibung des Depressionsbegriff als klassifikatorische Einheit im Psychiatrischen Lehrbuch von Emil Kraepelin.

Resümee
Obwohl sich die Tagung auch als Plattform verstand, Qualifikationsarbeiten zu diskutieren und die damit verbundenen Forschungsideen vorzustellen, kam es insgesamt keineswegs zu dem auf Tagungen oft beobachtbaren Nebeneinander zahlreicher Forschungsprojekte. Stattdessen spiegelte sich in der Breite der Ansätze die Vielschichtigkeit des Themas selbst wieder, ohne dabei unverbunden oder konkretistisch zu werden. Die thematische Einteilung der Panels war sinnvoll gewählt, wenngleich in der thematischen Vielfalt konzeptionelle Fragen – beispielsweise nach Möglichkeiten und Grenzen der Untersuchung von Rationalitäten, nach epistemologischen oder methodischen Problemen oder nach dem Wohin und der Entwicklungsdynamik aktueller gesellschaftlicher Veränderungen – nur am Rande bzw. eher in den Diskussionen verhandelt wurden. Gleichwohl lassen sich einige übergreifende Zusammenhänge zwischen den einzelnen Vorträgen herstellen. So verdeutlichte das erste Panel die Tiefe des Einschnitts innerhalb der Ordnungen des Wissens, die mit der Genese und Etablierung der modernen Medizin einhergeht. Das zweite Panel machte über die Problematisierung des Verhältnisses von Prävention und Kuration deutlich, wie die Logik der Prävention eine immer größere Rolle in der medizinischen Praxis einnimmt. Insbesondere hier sind zahlreiche aktuelle Veränderungen zu beobachten, die unter anderem von der Re-Definition des Krankheitskonzeptes oder der Ausbreitung diverser Technologien und Anleitungen zur Sorge um sich und um die eigene Gesundheit begleitet werden. Diese Form der Adressierung durchzieht nicht länger nur die gängigen Formen der Gesundheitsfürsorge, sondern immer mehr auch das allgemeine Verhältnis der medizinischen Institutionen, Initiativen, Programmen etc. zu den PatientInnen. Das dritte Panel verdeutlichte schließlich noch einmal, welche Wege eine genealogische Perspektive auf Objektbereiche und Wissensbestände der Medizin beschreiten muss, um weder in eine Nachahmung vorhandener medizinischer Selbstbeschreibungen noch in eine naive Form der Ignoranz oder Leugnung des medizinischen Zugangs zum Phänomen zu verfallen.

In der Zusammenschau war es daher eine Tagung, die ausgehend von einigen empirischen und durchaus datenreichen Projekten, einigen historischen Verortungen zur Genealogie bestimmter Rationalitätsformen, Denkweisen und Praktiken sowie Arbeiten zu bestimmten medizinsoziologisch relevanten und typischen Feldern eine Öffnung auf eine theoretische Bearbeitung der eingangs genannten Fragen nach der Bedeutung, Struktur und gegenwärtigen Transformationen medizinischer, therapeutischer und diätetischer Rationalitäten gewährte, ohne die konkreten Gegenstandsbereiche aus den Augen zu verlieren. Diese Vermittlung zwischen theoretischen Perspektiven und empirischen Erhebungen, Daten und einer konkreten Gegenstandsbezogenheit macht eindringlich deutlich, wie wenig sich der Gegenstand ohne eine theoretische Vorklärung sinnvoll bearbeiten lässt, zeigt aber zugleich auch, dass er genauso wenig ohne Kontakt zur empirischen Praxis, das heißt aus allgemeinen Theorieannahmen extrahiert werden kann. Trotzdem gelang die Zusammenführung der unterschiedlichen theoretischen Referenzpunkte, die namentlich vor allem in der Spannung zwischen einer luhmannschen und einer foucaultschen Perspektive zum Tragen kamen, nicht immer. Während der genealogische Anschluss an Foucault zwar mehr Nähe zum Material besitzt und über eine höhere Irritationsfähigkeit gegenüber historisch-epistemologischen Umbrüchen verfügt, lassen sich die lokalen Formationen – wohlgemerkt absichtlich – nicht in eine allgemeine Logik überführen, die über die je lokal beschriebenen Verhältnisse hinausgeht. Die Sensibilität gegenüber konkreten Veränderungen steht daher Ansprüchen an Generalisierungen oftmals entgegen. Zwar bietet Luhmann eine derartige Perspektive an, bleibt jedoch allzu oft in allgemeinen Bestimmungen zur Logik systemischer Ausdifferenzierung befangen, aus denen heraus bestimmte Transformationen nur noch schwer in den Blick genommen werden können. Dass aber – wie die Tagung am Gegenstand der Medizin nachdrücklich verdeutlichte – gerade diese unterschiedlichen Ausgangspunkt und Forschungslogiken nicht als konträres „Entweder-Oder“, sondern vielmehr als produktive Ergänzung begriffen werden können, lässt Versuche der Vermittlung und Kombinierbarkeit dieser beiden Theorietraditionen vielversprechend erscheinen.

Konferenzübersicht:

Panel 1

Tanja Stein (Bielefeld): Die Ausdifferenzierung der modernen Medizin

Thomas Erdmenger (Leipzig): Visite – ein Format medizinischer Interaktion im Krankenhaus?

Kommentar: Martin Hafen (Luzern)

Kathrin Franke (Leipzig): Die Transformation der Psychiatrie in Ostdeutschland zwischen „Modernisierung“ und „Vergangenheitsaufarbeitung“

Anja Pannewitz (Leipzig): Beraten bis zur Ziellinie? Coaching zwischen Gesundheit und Leistungsförderung

Kommentar: Ulrich Bröckling (Halle)

Panel 2

Andrea zur Nieden (Düsseldorf): Parallelen präventiver Medizin. Medizinische Volksaufklärung im 18. Jahrhundert und genetisierte Medizin heute

Matthias Leanza (Halle): Konturen einer diätetischen Selbsttechnologie. Prävention im Kontext neohippokratischer Medizin

Kommentar: Matthias Bohlender (Osnabrück)

Berit Bethke (Bielefeld): Anleitungen zur Gesundheitsvorsorge – Ausstellungen des Deutschen Hygiene Museums Dresden in Entwicklungsländern

Benjamin Marent (Wien): Partizipation als kommunikative Strategie der Gesundheitsförderung

Kommentar: Gudrun Löhrer (Berlin)

Panel 3

Ingar Abels (Berlin): Elemente einer Genealogie der Depression: Johann Christian August Heinroth

Kommentar: Alexander Meschnig (Berlin)

Anmerkungen:
1 Peter Wehling u.a., Zwischen Biologisierung des Sozialen und neuer Biosozialität: Dynamiken der biopolitischen Grenzüberschreitung, in: Berliner Journal für Soziologie 17,4 (2007), S. 547-567.
2 Paul Rabinow, Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung, Frankfurt am Main 2004.
3 Karin Knorr Cetina, Jenseits der Aufklärung. Die Entstehung der Kultur des Lebens, in: Martin G. Weiß (Hrsg.): Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 2009, S. 55-71.
4 Michel Foucault, Schriften in vier Bänden (Dits et Ecrits). Band IV: 1980-1988, Frankfurt am Main 2005, S. 33.
5 Peter Miller / Nikolas Rose, Governing the Present. Administering Economic, Social and Personal Life, London 2008, S. 15f.
6 Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt am Main 2001.
7 Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2008.


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