Aktuelle Forschungsprojekte zur Geschichte Niedersachsens im 19. und 20. Jahrhundert

Aktuelle Forschungsprojekte zur Geschichte Niedersachsens im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.03.2010 -
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Von
Wolfgang Brandes, Stadtarchiv Bad Fallingbostel

Angesichts der vielen Projekte, die bei den üblicherweise thematisch eng gefassten Arbeitskreiszusammenkünften nur kursorisch angesprochen werden können, über die sich intensiver auszutauschen aber lohnenswert ist, widmete sich die 23. Tagung des Arbeitskreises für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhundert der Historischen Kommission am 13. März 2010 in den Räumen des Niedersächsischen Hauptstaatsarchivs der Vorstellung von „Aktuellen Forschungsprojekten zur Geschichte Niedersachsens im 19. und 20. Jahrhundert.“

ARND REITEMEIER (Göttingen) erläuterte die Planungen für einen „digitalen Atlas zur Geschichte Niedersachsens“. Der Atlas will ein methodisches Instrument für die Wissenschaften sein, um Prozesse von langer Dauer zu visualisieren, er will die Geschichte des Landes in einer stark optisch geprägten Welt auch interessierten Laien näher bringen und er will gedruckte Darstellungen wie die mehrbändige „Geschichte Niedersachsens“ ergänzen. Dabei soll nicht nur die politische Geschichte in den Grenzen des heutigen Landes Niedersachsen aufgegriffen werden, sondern auch Umwelt-, Sozial-, Wirtschaft-, Siedlungs-, Verwaltungs- und Kulturgeschichte sollen Berücksichtigung finden. Dem Medium entsprechend werden die Daten digital und georeferenziert bereitgestellt. Dennoch soll der Atlas nicht nur auf CD-ROM, sondern auch als gedrucktes Werk in drei Bänden erscheinen. Reitemeier sieht gerade in der digitalen Publikationsform und einer möglichen Internetpräsentation Möglichkeiten der Aktualisierbarkeit und der Bereitstellung von mehr Daten, als sie die Druckfassung aufnehmen könne. Vor allem ließen sich einzelne Elemente über Epochen und Räume hinweg verfolgen und dabei die Verbindung unterschiedlicher Parameter oder die Darstellung des zeitlichen Ablaufs von Veränderungen darstellen.

GUDRUN PISCHKE (Göttingen) skizzierte das Projekt „Hildesheim – Stadtenwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Auszug aus einer neuen Kartensequenz“. Ziel ist es, im Stadtmuseum Hildesheim eine Bildschirmpräsentation (auch mit Filmsequenzen) vorzuhalten, die in 15 Zeitschichten die Entwicklung Hildesheims von der Domburg bis zur Großstadt zeigt. Einzelne Karten sollen auch Eingang in die Veröffentlichungen zur Hildesheimer Stadtgeschichte finden. Anhand von sechs Karten, die die Entwicklung Hildesheims im 19. und 20. Jahrhundert beschreiben, machte Gudrun Pischke ihren methodischen Ansatz und die Möglichkeiten der gewählten Darstellungsweise deutlich: Grundlage sei immer die heutige Stadtgrenze, wie sie aus der Gebietsreform des Jahres 1974 resultiere. Hervorgehoben würden Institutionen und Funktionen, nicht jedoch baugeschichtliche Aspekte. Die Abfolge der Karten lasse erkennen, was in den einzelnen Zeitschichten hinzugekommen sei und was andererseits fortgefallen wäre. Die kartographische Darstellung akzentuiere dabei Fragestellungen neu, so wenn die Karte für das Jahr 1945 als einen Parameter die luftkriegsbetroffene Fläche erfasse. Deutlich werde dadurch, dass nicht nur der Innenstadtbereich dem verheerenden Bombenangriff vom 22. März 1945 zum Opfer gefallen sei, sondern durch andere Bombardements darüber hinaus auch weitere Stadtteile betroffen gewesen wären.

LARS AMENDA (Osnabrück) sprach über das Projekt „Migration und die NS-‚Volksgemeinschaft’. Das Reich, Salzgitter und der Oberharz“, das Bestandteil des Niedersächsischen Forschungskollegs „Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft’? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort“ ist. Ausgangspunkt für Amenda war die Feststellung, dass die nationalsozialistische Herrschaft massenhaft Migration forciert habe. Während die „Auslandsdeutschen“ in die völkische Gemeinschaft einverleibt werden sollten, seien Tausende deutsche Juden und politische Gegner gewaltsam vertrieben und Millionen osteuropäischer Zwangsarbeiter im Laufe des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland verschleppt worden. Amenda will dazu Salzgitter und den Oberharz als lokale und regionale Fallbeispiele analysieren: In Salzgitter eröffneten im Zuge der massiven Aufrüstung die „Reichswerke Hermann Göring“ 1937 ein Stahlwerk aufgrund dortiger Eisenerzvorkommen. Der Betrieb sei angesichts des erheblichen Arbeitskräftemangels Mitte der 1930er-Jahre auf die tausendfache Anwerbung ‚volksdeutscher’ und ausländischer Arbeiter, seit 1939 auch auf die Arbeitskraft zahlreicher Zwangsarbeiter angewiesen gewesen. Im Gegensatz dazu sei die Krisenregion des Oberharzes deutlich weniger dynamisch und von einer erheblich geringeren Mobilität geprägt gewesen. Ziel von Amendas Studie ist es, die bislang wenig bekannte Migrationsgeschichte der „Friedensjahre“ mit der allgegenwärtigen Zwangsarbeit der Kriegszeit zu verbinden und die Folgen für die deutsche Bevölkerung und die vielfach beschworene „Volksgemeinschaft“ herauszuarbeiten.

PETER SCHYGA (Hannover) referierte über „NS-Blut- und Bodenfeiern. Skizze eines Ausstellungsprojekts“. Schyga ging davon aus, dass die Kirche ein zentraler Ort für die Feiern der ländlichen Bevölkerung zum Erntedank gewesen sei. Indem die Nationalsozialisten schon 1933 diesen Tag den Kirchen entrissen und ihn zu ihrem Tag der Bauern- und Volksgemeinschaftsinszenierung gemacht hätten, starteten sie den Kampf um die Deutungshoheit von „Schöpfung“ gegen den christlichen Glauben. Auch wenn die Landeskirchen diese Dimension kaum gesehen hätten, so äußerte sich der Widerstand gegen diesen Akt der Okkupation auf lokaler Ebene in der Reichsbauernstadt Goslar. Hier seien wesentliche Abteilungen des ideologischen Apparats des Reichsnährstands untergebracht gewesen, von hier habe seine Propaganda unter tatkräftigem Mittun der örtlichen Kultureliten in die Region ausgestrahlt. Schyga verwies darauf, dass Goslar, die Inszenierung des Reichserntedanktages auf dem Bückeberg bei Hameln, die Widerrede der lokalen Kirchengemeinden, Thema einer in Goslar gezeigten Ausstellung und einer Dokumentation gewesen seien. Angesichts der großen Bedeutung dieses bisher vernachlässigten Themas hofft er, die vorliegenden Materialien in eine Dauerausstellung einbringen zu können.

THOMAS KUBETZKY (Braunschweig) stellte das Projekt „Erinnerte Gemeinschaften. Zwangs- und Zufallsgemeinschaften des Konzentrationslagers und DP-Camps Bergen-Belsen vom Ende des Krieges bis in die 1970er Jahre“ vor. Zwei wesentliche Themenkomplexe sollen von dem Forschungsvorhaben aufgegriffen werden: Zum einen werde am Beispiel Bergen-Belsens der Blick auf die Bedeutung sozialer Formationen und Gruppenbildungen für das Überleben gerichtet, zum anderen würden für unterschiedliche Verfolgtengruppen die Wege aus dem Lager im unmittelbaren Zusammenhang mit der Befreiung und in der Folgezeit untersucht. Von zentraler Bedeutung für das Projekt sei die Frage, wie sich biografisch-soziale Prägungen und deren Konfrontationen mit Zwangs- und Zufallsgemeinschaften in der Lager- und der Post-Lagersituation auswirkten. Das von Kubetzky umrissene Gesamtprojekt ist in drei Einzelstudien untergliedert: Janine Doerry widmet sich dem Thema „Kriegsgefangene Juden aus Frankreich und deren Familien in und nach der Shoah: Kriegsgefangenschaft, Deportation nach Bergen-Belsen und Erinnerung in Frankreich“, Katja Seybold erforscht „Gruppenbildungen, demografische Entwicklung und soziale Differenzierungen im polnischen und jüdischen DP-Camp Bergen-Belsen 1945–1950“ und Thomas Kubetzky arbeitet über „Räumungstransporte aus Bergen-Belsen im April 1945: Situative Zwangsgemeinschaften und ihre Bedeutung für das Leben nach der Befreiung“. Die einzelnen Studien widmen sich somit der Übergangsphase zwischen Auflösung des Lagerkosmos und Wegen in ein Leben nach dem Lager. Die dabei eingenommene Perspektive umfasst die Frage, welche Rolle die Verarbeitung der Lager- und Verfolgungserfahrungen dabei spielte und wie sich die „Übergangszone“ zwischen Lager und Befreiung schließlich in der Erinnerung der Überlebenden sowie in ihren Lebensneuentwürfen niedergeschlagen hat.

INES MEYERHOFF (Lüneburg) wies hin auf das Projekt „Die fotografierte innerdeutsche Grenze. Ikonographische Analyse der Grenzinszenierung und -wahrnehmung“, das im Zusammenhang mit einer im Historischen Museum zum 50. Jahrestag des Mauerbaus geplanten Ausstellung „Grenz Erfahrungen Ziehungen Überschreitungen“ steht. Ihre Überlegungen gehen davon aus, dass Fotografien der Grenzanlagen und insbesondere der Mauer einerseits als Symbole des Kalten Krieges gelten würden, andererseits die Menschenmassen auf der Mauer 1989 zu Ikonen der Wiedervereinigung geworden seien. Angesichts dieser dichotomen Teilungs-/Einheits-Symbolik ist es Meyerhoff wichtig, den Fokus bei den Fotografien auf das Verhältnis zwischen Inszenierung und Wahrnehmung der Grenze zu legen. Anhand von beispielhaften Fotografien der Vorwendezeit aus Ost und West, offiziellen und privaten Quellen sowie Aufnahmen aus einem weiteren Zeitraum will sie nachzeichnen, inwieweit die Grenze in den jeweiligen Phasen für politische Zwecke inszeniert worden sei und inwieweit sich diese offizielle Darstellung in die Distinktionsweise der Menschen in Ost und West auch jenseits des Zonengrenzgebiets eingeschrieben habe. Weiterhin werden von ihr Grenzfotografien vor mit solchen nach 1989 verglichen, um Brüche und erinnerungskulturelle Kontinuitäten zu verorten.

MICHAEL PLOENUS (Braunschweig) stellte die Konzeption des Vorhabens „Geteilte Erinnerung. Grenzerfahrungen zwischen Harz und Heide“ vor, das ein gemeinsames Projekt des Lehrstuhls für Geschichte und Geschichtsdidaktik am Historischen Seminar der Technischen Universität Braunschweig und des Staatsarchivs Wolfenbüttel mit dem Ziel einer systematischen Erfassung und Sammlung von Erfahrungsberichten vom Leben an und mit der Grenze ist. Im Zusammenhang damit solle langfristig ein frei zugängliches und wissenschaftlichen Ansprüchen genügendes „Erfahrungsarchiv“ beim Staatsarchiv Wolfenbüttel entstehen, wobei das besondere Interesse auf Selbstzeugnissen aller Art liege, die durch Interviews und systematische Befragungen ergänzt und angereichert werden sollen. Räumliches Zentrum der Untersuchung sei das niedersächsisch/sachsen-anhaltinische Grenzgebiet. Unabhängig von der juristisch vollzogenen Deutschen Einheit bleibt für Ploenus der Erinnerungsort Grenze auch über den 03. Oktober 1990 hinaus bedeutsam. Denn Grenzen seien äußere Tatsachen, die teilten und verbänden, aber auch innere Linien, die Zugehörigkeits- und Loyalitätsverhältnisse auf lange Sicht manifestierten. Forschungsrelevant seien daher auch die Nachwirkungen der Teilung mit ihren individuellen und kollektiven Reserven.

TERESA NENTWIG (Göttingen) skizzierte das Editionsprojekt „Die Kabinettsprotokolle der Niedersächsischen Landesregierung 1946-1951 als Quellen zur Landes-Zeitgeschichte“, für das sie auch von der Arbeit an ihrem Dissertationsvorhaben „Hinrich Wilhelm Kopf – Eine Biografie“ profitiert. Beide Projekte sind in das Forschungsvorhaben „Politische Führung im deutschen Förderalismus – Die Ministerpräsidenten Niedersachsens“ eingebunden. Hinrich Wilhelm Kopf, der von 1946-1955 und von 1959-1961 im Amt war, ging als „Landesvater“ in die Geschichte ein, dem Überparteilichkeit und Integrationskraft zugeschrieben wurden, aber auch ein autoritärer Führungsstil als Ministerpräsident. Die Edition der Protokolle aller 267 Kabinettssitzungen und zusätzlich der zehn Sitzungen der hannoverschen Staatsregierung im Zeitraum von 1946-1951 erlauben es, diese Verallgemeinerungen zu überprüfen und gegebenenfalls nachzujustieren. Denn die Britische Militärregierung habe, wie Nentwig anhand der Protokolle nachweisen will, Einfluss auf die niedersächsische Staatsregierung genommen, indem sie auf Mitsprache bei der Erarbeitung von Gesetzesentwürfen bestanden habe. Vor einer Verabschiedung im Kabinett sei ihre Zustimmung erforderlich gewesen – oftmals jedoch habe sie Änderungswünsche vorgebracht oder gar die komplette Überarbeitung verlangt. Anordnungen, Verordnungen, Vorschriften und Richtlinien der Militärregierung bestimmten somit den Handlungsspielraum des Kabinetts. Trotz dieser Rahmenbedingungen habe das Kabinett häufig selbstbewusst reagiert und sich nicht einfach untergeordnet, sondern versucht, in Verhandlungen seine Vorstellungen zum Tragen zu bringen. Die Kabinettsprotokolle, die in ihrer Gesamtheit eine enorme Themenvielfalt abbilden und dadurch Einblick in die politische, ökonomische und soziale Entwicklung erlaubten, legen für Nentwig durch das Aufzeigen des Wechselspiels von Vorgaben der Militärregierung und selbstbewusstem Handeln des Kabinetts Zeugnis von der staatsrechtlichen Entwicklung Niedersachsens in der unmittelbaren Nachkriegszeit ab.

Durch die Bildung von methodisch bzw. inhaltlich umrissenen Blöcken zur Verwendung der Kartographie, zu Fragen des NS-Reiches und der Erinnerungskultur sowie zur Grenzthematik gelang es, der Tagung ein tragfähiges Gerüst zu geben und ein bloßes Aneinanderreihen unterschiedlicher Ansätze zu verhindern. Für die Referenten bot sich die Möglichkeit, Forschungsansätze und Thesen zur Diskussion zu stellen, während die Teilnehmer einen Überblick über neue Vorhaben zur Landesgeschichte erhielten. Alles in allem eine durchaus befruchtende und anregende Form der Zusammenkunft.

Konferenzübersicht:

Arnd Reitemeier (Göttingen): Der digitale Atlas zur Geschichte Niedersachsens

Gudrun Pischke (Göttingen): Hildesheim – Stadtentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Auszug aus einer neuen Kartensequenz

Lars Amenda (Osnabrück): Migration und die NS-„Volksgemeinschaft“. Das Reich, Salzgitter und der Oberharz

Peter Schyga (Hannover): NS-Blut- und Bodenfeiern in Niedersachsen. Skizze eines Ausstellungsprojektes

Thomas Kubetzky (Braunschweig): Erinnerte Gemeinschaften. Zwangs- und Zufallsgemeinschaften des Konzentrationslagers und DP-Camps Bergen-Belsen vom Ende des Krieges bis in die 1970er Jahre

Ines Meyerhoff (Lüneburg): Die fotografierte innerdeutsche Grenze. Ikonographische Analyse der Grenzinszenierung und –wahrnehmung

Michael Ploenus (Braunschweig): Geteilte Erinnerung. Grenzerfahrung zwischen Harz und Heide

Teresa Nentwig (Göttingen): Die Kabinettsprotokolle der Niedersächsischen Landesregierung 1946-1951 als Quellen zur Landes-Zeitgeschichte


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