Beyond Glitter and Doom: New Perspectives of the Weimar Republic

Beyond Glitter and Doom: New Perspectives of the Weimar Republic

Organisatoren
Institute of Germanic & Romance Studies (IGRS), School of Advanced Study, University of London / University of Glasgow
Ort
London
Land
United Kingdom
Vom - Bis
30.09.2010 - 01.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Jochen Hung, Institute of Germanic & Romance Studies (IGRS), School of Advanced Study, University of London

Die deutsche Zwischenkriegszeit zählt zweifelsohne zu den Gebieten der neueren Geschichte, denen am meisten Aufmerksamkeit gewidmet worden ist – in der deutschen sowie der internationalen Forschung. Aber trotz der Fülle an Büchern, Filmen und Forschungsprojekten zum Thema ist das vorherrschende Bild der Weimarer Republik immer noch sehr simplifiziert: Meistens wird die erste deutsche Demokratie als eine extrem polarisierte Zeit zwischen großem kulturellen Fortschritt auf der einen Seite und krassen politischen Verwerfungen auf der anderen dargestellt.

Diese Dichotomie kennzeichnet die Darstellung der Weimarer Republik schon mindestens seit Christopher Isherwoods „Goodbye to Berlin“ (1939) und hat sich seitdem in der populären Kultur als vorherrschendes Bild der Zwischenkriegszeit eingebürgert. Doch auch in der wissenschaftlichen Forschung hat sich dieses dichotome Modell als „charakteristisch für die Weimarer Epoche“ (Kolb, 1984; siehe auch Peukert, 1987) durchgesetzt.

In den vergangenen Jahren konnte jedoch eine differenziertere Perspektive in der Weimarforschung Fuß fassen, die das Augenmerk auf politische und kulturelle Kontinuitäten legt, die Alltagserfahrung der Zeitgenossen herausstellt und so die Weimarer Republik als komplexe Polyphonie verschiedener Entwicklungen, Strömungen und Meinungen interpretiert, die sich vereinfachenden Interpretationsmustern entzieht.

In Zusammenarbeit des Institute of Germanic & Romance Studies in London und der University of Glasgow wurde – mit der großzügigen Unterstützung der German History Society und der Royal Historical Society – unter dem Titel „Beyond Glitter and Doom: New Perspectives of the Weimar Republik“ nun eine erste internationale Plattform für diese neue Sichtweise eingerichtet.

DAVID MIDGLEY (Cambridge) hinterfragte in seinem Einführungsvortrag die konkurrierenden Interpretationsschemata, die in der Analyse der Politik und der Kultur der Weimarer Republik verwendet werden. Am Beispiel des Epochenbegriffs der „Neuen Sachlichkeit“ machte er offensichtlich, wie diese Ordnungsmuster oft einer vielschichtigen und umfassenden Darstellung im Wege stehen.

In der folgenden Keynote plädierte MORITZ FÖLLMER (Leeds) für die Auffassung der Weimarer Republik als eigenständige Epoche, die nicht ausschließlich von ihrem Anfang und ihrem Ende – dem Ersten Weltkrieg und dem Dritten Reich – aus analysiert werden könne. Ausgehend von einer Kritik von Detlev Peukerts einflussreicher Darstellung der Weimarer Republik als „Krisenjahre der klassischen Moderne“, erarbeitete Föllmer ein Bild der Epoche als komplexe Kakophonie verschiedener „Modernitäten“.

Das anschließende erste Panel der Konferenz widmete sich den vorherrschenden Erklärungsmustern in der Geschichtsschreibung der deutschen Zwischenkriegszeit. MICHAEL DREYER (Jena) hinterfragte das Klischee der Weimarer Republik als „überforderte“, „improvisierte“ oder „wehrlose“ Demokratie und wies in einer rechtsgeschichtlichen Analyse nach, dass die vielgescholtene Weimarer Verfassung den staatlichen Institutionen zumindest hinsichtlich des rechtlichen Handlungsspielraums mehr Macht zugestanden habe als das spätere Grundgesetz der Bundesrepublik. RUSSELL SPINNEY (Maryland) zeigte anschließend anhand zahlreicher Quellen aus lokalen Archiven, dass die zeitgenössische Bevölkerung ganz unterschiedlich auf den vorherrschenden Diskurs der „universalen Krise“ reagierte und diesem im alltäglichen Leben auch eigene Narrative der Hoffnung und der Furchtlosigkeit entgegensetzte. Zum Abschluß des Panels widmete sich JOCHEN HUNG (London) dem Schlagwort des „Generationskonflikts“, das – ähnlich wie die „Krise“ – nicht nur von zeitgenössischen Kommentatoren, sondern auch von nachfolgenden Historikern als vereinfachendes Erklärungsmuster für das Scheitern der Weimarer Republik benutzt wurde und wird.

Den nächsten Schwerpunkt der Konferenz, der ästhetische Diskurs der Weimarer Republik, leitete DEBBIE LEWER (Glasgow) mit der dritten Keynote des Tages ein. Der landläufigen Darstellung der Ära als Hochzeit einer zukunftsfixierten Avantgarde stellte Lewer die zeitgenössische Diskussion über den Einfluss des Mittelalters entgegen und deckte am Beispiel der Gotik die Rolle der Vergangenheit in der Kultur der Weimarer Republik auf.

Das anschließende Panel wurde von ANKE FINGER (Connecticut) eröffnet, die sich den neuen Arten der Wahrnehmung abseits des Primats des Visuellen widmete, mit denen Künstler und Intellektuelle wie Walter Benjamin oder Walter Ruttmann den beschleunigten und technisierten Alltag ihrer Zeit – und damit indirekt die Moderne – verarbeiteten. Der Vortrag von NADINE ROSSOL (Essex) schlug eine Brücke zwischen dem schon von Michael Dreyer angesprochenen Themenbereich der „wehrhaften Demokratie“ und der Ästhetik der Weimarer Republik: In einer detailreichen Analyse der demokratischen Rituale der Zeit (Paraden, Märsche, Sportveranstaltungen und Massenaufführungen) zeigte sie, dass die junge Demokratie sehr viel erfolgreicher in der Mobilisierung von republikanischem Zugehörigkeitsgefühl war als bisher angenommen. Zum Abschluß führte NICOLA CREIGHTON (Belfast) den Begriff der „Kontingenz“ (contingency) als zentrale Herausforderung der Weimarer Republik ein: Am Beispiel von Carl Schmitts politischer Theorie und Carl Einsteins Kunsthistoriografie plädierte sie dafür, statt einer einfachen dichotomen Unterscheidung zwischen progressiven oder proto-faschistischen Denkmustern ein graduelles Spektrum der Offenheit und Geschlossenheit hinsichtlich von „Kontingenz“ für die Interpretation der intellektuellen Diskurse der Weimarer Republik zu verwenden.

In der ersten Keynote des zweiten Tages der Konferenz diagnostizierte GUSTAV FRANK (München) ein Textkorpusproblem in der Forschung zur Weimarer Republik als Kulturepoche: Die immer gleichen Werke der immer gleichen Künstler würden mit den immer gleichen Begriffen wie etwa „Neue Frau“ oder „Neue Sachlichkeit“ interpretiert. Laut Frank liege die Lösung in einer Sprengung der konventionellen Eingrenzung der Kunst der Weimarer Republik zwischen den kunstfremden Brüchen von 1918 und 1933 und einer Weitung des Blicks auf eine „synthetische Moderne des Nachexpressionismus“. Diese sei durch einen, bis in die „1950er-Jahre“ wirksamen, Verfahrenspluralismus charakterisiert.

Danach teilte sich die Konferenz in mehrere parallele Sektionen, in denen die Darstellung der Weimarer Republik in einzelnen Schwerpunkten hinterfragt wurde. So zeigten etwa die Sprecher in der Sektion zur öffentlichen Sphäre, dass die Öffentlichkeit der Weimarer Republik viel robuster, vielfältiger und widerstandsfähiger war als sie meist dargestellt wird. Insbesondere der Vortrag von MARK HOBBS (Glasgow), der die Schauplätze der einschlägigen Texte über die Stadtentwicklung Berlins (unter anderem Walter Benjamin, Franz Hessel, sowie der Architekt Erwin Gutkind) mit umfangreichen Kartenmaterial visualisierte, konnte zeigen, dass die zeitgenössische Großstadtdarstellungen blinde Flecken hinsichtlich von Normalität hatten und so ein einseitiges Bild einer extremisierten und fragmentarisierten Öffentlichkeit produzierten.

Die Beiträge von ANEKA MEIER (Pennsylvania), JILL SUZANNE SMITH (Maine), MIHAELA PETRESCU (New York), SILKE HELLING (Hamburg) und CORNELIA BADDACK (Köln) beschäftigten sich mit der Darstellung der Geschlechterverhältnisse der Zeit, insbesondere mit den bekannten Schablonen der Weiblichkeit zwischen Prostituierter und der „Neuen Frau“, aber auch mit männlichen Selbstcharakterisierungen als „Eintänzer“ oder „Gigolo“.

KATHARINE TUBB (Glasgow) zeigte in ihrem Vortrag in der Sektion zu den bildenden Künsten der Weimarer Republik, dass die weibliche Mode der Zeit mitnichten nur aus einer mehr oder weniger emanzipierenden „Girl-Kultur“ mit Bubikopf und Flapperkleid bestand. Der Einfluss historischer Stile, der sich etwa im in der Mitte der “1920er-Jahre“ in Mode gekommenen „Stilkleid“ zeige, hinterfrage den Mythos, dass die Mode der Weimarer Republik einen radikalen Bruch in der äußeren Darstellung – oder sogar in der inneren Natur ¬– der Weiblichkeit in der Moderne darstelle.

FLORIAN KROBB (Maynooth), MARION LÖFFLER (Wien) und NICHOLAS MARTIN (Birmingham) zeigten im Panel zu „Politik und Roman“ die Verbindung und gegenseitige Beeinflussung von zeitgenössischer Staatsdebatte und fiktionaler Literatur auf und machten so deutlich, dass sich die politische Diskussion nicht nur in Extremen von pro- und antidemokratischem Denken bewegt, sondern viele Abstufungen zugelassen habe.

Im Panel zum Film der Weimarer Republik nahm MATTHIAS UECKER (Nottingham) die von David Midgley angstoßene Diskussion wieder auf und wies nach, wie „Menschen am Sonntag“ schon bei der Veröffentlichung unter dem Schlagwort der „Neuen Sachlichkeit“ vermarktet wurde. Die damit verbundene Darstellung der nüchternen Normalität abseits der Realität der einsetzenden Weltwirtschaftkrise habe einem kleinbürgerlichen Angestelltenpublikum Durchhalteparolen und Wiedererkennung angeboten.

In seinem Abschlussvortrag nahm ANTHONY MCELLIGOTT (Limerick) die in verschiedenen Panels geführte Kritik an der allzu engen Fokussierung der Analyse der Weimarer Republik auf die politischen Brüche von 1918 und 1933 wieder auf. So lasse sich etwa in der Rechtsgeschichte nachweisen, dass viele ausschlaggebende Artikel der Weimarer Verfassung ihren Ursprung vor 1918 hatten und auch nach 1933 wirksam blieben. Anhand der beiden Pole „Autorität“ und „Autoritarismus“ erarbeitete McElligott dann ein Bild der Weimarer Republik nicht als gescheitertes Demokratieexperiment oder schwachem Staat, sondern als komplexe Mischung von liberalem Reformdenken und repressiver Überwachung.

In der zusammenfassenden Abschlussdiskussion wurde noch einmal die prinzipielle Offenheit der Weimarer Republik deutlich gemacht. Im Gegensatz zur Darstellung als ein von inneren Gegensätzen zerrissener Staat, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war, muss die erste deutsche Demokratie vielmehr unter den Gesichtspunkten der „Kontinuität“ und der „Polyphonie“ als ein vielschichtiges, komplexes Gebilde aufgefasst werden, das sich allzu einfachen Interpretationen widersetzt. In dieser geweiteten Perspektive müssen noch stärker die Alltagserfahrungen der Zeitgenossen in den Blick genommen werden.

Ein Konferenzband, der die wichtigsten Vorträge der Tagung versammmelt, erscheint voraussichtlich im Sommer/Herbst 2011 im Verlag iudicium.

Konferenzübersicht:

Keynote Lecture:

David Midgley (Cambridge): Beyond the Clichés. On the Specificity of Weimar Culture

Keynote Lecture:

Moritz Föllmer (Leeds): Which Crisis? Which Modernity? New Perspectives on Weimar Germany

Sektion 1: Challenging Crisis and Doom

Michael Dreyer (Jena): Hugo Preuß and Weimar as a ‘wehrhafte Demokratie’

Russell Spinney (Maryland): Re-thinking the Emotional Narratives of the Weimar Republic through Displays of Fearlessness

Jochen Hung (London): Questioning the Generational Concept in Weimar Research

Keynote Lecture

Debbie Lewer (Glasgow): Art and the Cultural Politics of the ‘Medieval’ in the Weimar Republic

Sektion 2: Aesthetics

Anke Finger (Connecticut): Everyday Modernism: Sensing the Weimar Republic in Literature and other Arts

Nadine Rossol (Essex): Republican State Re-presentation and Public Performance Culture in Weimar Germany

Nicola Creighton (Belfast): Contingency: the Great Challenge of Weimar

Keynote Lecture

Gustav Frank (Munich): Abseits der Republik? Nachexpressionistische Komplexität der Künste

Sektion 3: Gender

Aneka Meier (Pennsylvania): The Legendary New Woman of Weimar – Revisited

Jill Suzanne Smith (Maine): Prostitutes in the Weimar Republic: Moving beyond the Victim-Whore Dichotomy

Mihaela Petrescu (New York): Jazz, Gigolos, and ‘Eintänzer’: Dance and Masculinity during the Weimar Republic

Silke Helling (Hamburg) and Cornelia Baddack (Cologne): Geschlecht, Staat und Partizipation: Else Frobenius und Katharina von Kardorff-Oheimb

Sektion 4: Questioning ‘Neue Sachlichkeit’

Reinhard Zachau (Tennessee): Fallada’s Modernist Novel Characters in Wolf among Wolves, and Little Man, What Now?

Bernhard Heinrich (Schweinfurt): Falladas ‘kleine Frauen’: Lebensentwürfe in der Krise

Geoff Wilkes (Queensland): Behind the Glitter: the Critique of the Cultural Mass Market in Vicki Baum’s Menschen im Hotel

Sektion 5: Public Environment

Hansjakob Ziemer (Berlin): Listening to Society: Concert Hall Experiences as Social Practices in the 1920s

Michael Schwalb (Cologne): Begrenzt haltbar: die Kroll-Oper als republikanisches Laboratorium

Kerstin Barndt (Michigan): Present Futures. ‘Werkbund’ and Building Exhibitions in Weimar Germany

Mark Hobbs (Glasgow): Exploring Weimar Berlin’s History through its Geography

Sektion 6: Visual Arts

James van Dyke (Missouri): Felixmüller’s Failure: Painting and Poverty

Katharine Tubb (Glasgow): The Garçonne, the Girl, and the Biedermeier Babe? Weimar Dress and the Ghosts of Fashions Past

Sektion 7: Politics and the Novel

Florian Krobb (Maynooth): Catholicism, ‘Conservative Revolution’ and the Fairy Tale: the Case of Wilhelm Matthiessen

Marion Löffler (Wien): Was sagt das Publikum? Theoretische und literarische Beiträge zur politischen Kultur der Weimarer Republik

Nicholas Martin (Birmingham): Stranger than Fiction: Literary Transformations of War Experience in the Weimar Republic

Sektion 8: Film

Joel Westerdale (Massachusetts): The Canon of Early Weimar Cinema Reloaded

Matthias Uecker (Nottingham): ‘Das Leben [...] So ist es und nicht anders’: Constructions of Normality in Menschen am Sonntag

Keynote Lecture

Anthony McElligott (Limerick): Rethinking the Weimar Republic as Paradigm: Authority/less and Authoritarianism

Kontakt

Jochen Hung, IGRS, London
E-Mail: <jochen.hung@postgrad.sas.ac.uk>


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