HT 2010: Grenzen der Gewalt – Definition, Repräsentation und Einhegung eines universalen Phänomens in antiken Kulturen

HT 2010: Grenzen der Gewalt – Definition, Repräsentation und Einhegung eines universalen Phänomens in antiken Kulturen

Organisatoren
Werner Riess, University of North Carolina, Chapel Hill, Martin Zimmermann Ludwig-Maximilians-Universität München; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.09.2010 - 01.10.2010
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Von
Christian Jung, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg/Hohenstaufen-Gymnasium Eberbach

In der von Werner Riess (Chapel Hill) und Martin Zimmermann (München) geleiteten Sektion „Grenzen der Gewalt - Definition, Repräsentation und Einhegung eines universalen Phänomens in antiken Kulturen“ wurden überlieferte Gewaltbilder verschiedener Quellentypen der griechischen und römischen Geschichte einander gegenübergestellt. Dabei ging es nicht nur um einen Vergleich der antiken Herangehensweisen an die Gewalt und die vielfältige Auseinandersetzung mit dieser in Literatur, Kunst und weiteren Quellengattungen, Medien und Kontexten, sondern auch um die Frage, inwieweit die antiken Vorstellungen von Gewalt mit dem aktuellen „westlichen“ Gewaltbegriff kompatibel sind.

Plötzliche Konfrontation mit Gewalt
In seinem Vortrag „Literarische Gewaltbilder als Medien moralischer, politischer und kultureller Grenzziehungen“ betonte MARTIN ZIMMERMANN (München) zu Beginn, dass der Mensch immer fähig sei, „physische Gewalt auszuüben, und daher auch ständig in Gefahr“ sei, „sie durch andere zu erleiden“. Diese banale Grundaussage benenne zwar recht neutral die verstörende Grundbedingung der menschlichen Existenz. Doch ist nach seinen Worten die Gefahr der plötzlichen Konfrontation mit Gewalt im Denken und Handeln von Individuen und Gemeinschaften existent. Dies erklärt auch die Entwicklung von Schutzgeistern, die sich später in den christlichen Schutzengeln manifestierte.

Rausch der Gewalt im Götterhimmel als Ordnungsinitiation
Durch die globalisiert-irratonalen Sorgen der Menschen, die Gewaltbereitschaft der Gesellschaften nehme zu, und die massive Medienberichterstattung über Ereignisse, die mit Gewalt in Verbindung stehen, werden in der Gegenwart immer wieder diffuse Gefühle und Ängste verstärkt. Diese gefährden für Zimmermann „immer die in langen Prozessen ausgehandelten Modi der Gewaltbändigung“ auf grundsätzliche Weise. Nach dieser Einführung spannte der Referent den inhaltlichen Bogen zurück zur mythischen Weltentstehung und des Pantheons, wie sie schon von Hesiod in seiner Theogonie beschrieben wird. Der seine Kinder verschlingende Uranus ist laut dem Münchener Althistoriker der erste, der im Rausch der Gewalt die „aeikieia erga“, die schrecklichen Taten vollführt und dadurch im Götterhimmel die gute Ordnung indirekt mit initiiert.

Schutz des Einzelnen gegen Gewalt
Nach zahlreichen Gewaltanwendungen schafft es dann schließlich Zeus nach langem Kampf gegen die Giganten, eine mit dem Recht in Verbindung stehende Ordnung, in der die physische Gewalt kalkulierbar wird und illegitime Formen der Gewalt „grausam und mitleidlos“ bestraft werden, zu errichten. Durch die fortwährende mythische Reflexion und die Weitergabe an die folgenden Generationen kam es schließlich in den antiken Gesellschaften zu einem komplizierten Prozess, in dem der Einzelne gegen Gewalt geschützt und seine körperliche Integrität gewährleistet wurde. So ist auch zu erklären, dass bei Verstößen gegen diese mythische Ordnung Züchtigung und Todesstrafe nur durch Personen vorgenommen wurden, die man im Konsens und gemeinschaftlich zu diesem Zweck bestellte.

Aufhebung der Ordnung durch Übertreibung
Das explizite Sprechen über Gewalt in der Literatur hat nach der Analyse Zimmermanns jedoch keine direkte moralisch-ethische Funktion, sondern verfolge, wie am Beispiel der Biographie Plutarchs über Cicero deutlich wird, andere Zielsetzungen. In der episch ausgeschmückten Lebensgeschichte zwingt die Frau Ciceros einen am Mord an ihrem Mann Beteiligten, sich das Fleisch von den Armen zu schneiden, dieses zu grillen und zu verspeisen. Diese in Anlehnung an den damals geläufigen Aias-Mythos aus medizinischer Sicht nicht durchführbare Handlung offenbart demnach durch die bewusst phantasievolle Schilderung als Motiv die Aufhebung der traditionellen Ordnung durch die literarische Übertreibung. In dieser wird nicht das Handeln der Ehefrau beurteilt, sondern auf einer damals für alle zugänglichen und verstehbaren Metaebene der Irrsinn als Folge des römischen Bürgerkriegs hervorgehoben, über den es nachzudenken gilt.

Prämissen für Gewaltbilder
Drei Prämissen für Gewaltbilder wurden in der Folge vom Referenten eingeführt: „Zum ersten wollten die Produzenten der Bilder tatsächlich über reale Gewalt berichten. Sie wählten zweitens dafür Bilder, die das Geschehen abweichend von den tatsächlichen Vorkommnissen schildern, wobei sie auf gängige Motive zurückgriffen. Zum dritten waren Bild und Text an ein Publikum gerichtet, das diese Informationen unmittelbar lesen und verstehen konnte.“ Hinter den Gewaltbildern römischer Historiographie habe auch ein heftig geführter politischer Konkurrenzkampf innerhalb der Aristokratie gestanden, den die Mitglieder der Führungsschicht mit medialen Mitteln austrugen. Insbesondere bei der biographischen und historiographischen Darstellung der einzelnen Kaiser wurde ein besonderer Einfallsreichtum entwickelt, um Hinrichtungen und Selbstmorde von Mitgliedern der römischen Führungsschicht in allen Farben auszumalen.

Horrormotive eröffnen neues Verständnis für die Antike
Solche Horrorszenarien gäben jedoch keine Hinweise über reale physische Gewalt. „Dafür eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten, hinter der Erzählung stehende Absichten zu ermitteln und politische Konflikte zu diagnostizieren sowie juristische wie moralisch-ethische Aushandlungsprozesse zu beschreiben. Die Beschäftigung mit den Horrormotiven in der Geschichtsschreibung eröffnet die Chance, in ganz unterschiedlichen Feldern neue Einsichten zu gewinnen“, betonte Martin Zimmermann abschließend. Sie sind für ihn ein wichtiger Schlüssel für das Verständnis antiker Kulturen, indem durch die Gewalt-Darstellungsstrategien der Autoren die Rolle der Gewalt und die Aushandlungsprozesse von Macht und Ordnung in den jeweiligen Epochen und Gesellschaften besser analysiert werden können.

Bilderwelt Athens im 6. und 5. Jahrhundert
Mit dem Thema „Bilder der Gewalt - Annäherung an eine historische Interpretation medialer Gewalt“ beschäftigte sich im Anschluss SUSANNE MUTH (Berlin), die kurzfristig verhindert war und von KATHARINA LORENZ (Nottingham) vertreten wurde, die ihr Manuskript zusammen mit zahlreichen Bildbeispielen vortrug. Seitdem sich die Altertumswissenschaften zunehmend den Fragen nach den Kulturen der Gewalt zugewandt hätten, richte sich ihr Blick immer wieder auf die Bilderwelt Athens im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr., so Muth. Denn in der Bildwelt des archaischen und klassischen Athen gebe es den wohl aufschlussreichsten und zugleich herausforderndsten Befund, wenn es um das „Verhandeln“ von Gewalt im Medium des Bildes in der griechischen und römischen Antike gehe.

Vom Befund zur Interpretation
Aus dieser Zielsetzung heraus ergab sich der weitere Rahmen des Vortrags. Zunächst ging es um den Befund der attischen Bilder und die Qualität, wie in diesen Bildern Gewalt verhandelt wird, um zentrale Phänomene darzustellen, auf denen alle weiteren interpretatorischen Fragen basierten. In einem zweiten Schritt wurden dann die geläufigen Ansätze beleuchtet, die an diese Bildbefunde bislang herangetragen wurden. Die kritische Diskussion dieser Ansätze führte in einem dritten Schritt zu den grundsätzlichen Möglichkeiten einer methodisch angemessenen Interpretation solcher Bildbefunde und der Frage, in welcher Weise die Gewaltabbildungen als historische Quellen überhaupt benutzt werden können; und in einem letzten und vierten Schritt wurden die Konsequenzen in den Blick genommen, welche sich aus der Betrachtung des Fallbeispiels für die Interpretation medialer Gewalt allgemein ergeben.

Schmerzhaftes Sterben wird visualisiert
Am Beispiel der attischen Luxuskeramik zeigte Muth, wie künstlerische Gewaltdarstellungen zu Beginn des 5. Jahrhunderts plötzlich immer wieder auf neue Weise Gewalttätigkeit und Aggressivität formulierten, und die Bildwelt Athens mit einem regelrechten „Blutrausch“ überzogen wurde. Bildmotive wie etwa der Tod des Minotauros fingen in einer völlig unbekannten Nahsichtigkeit das Opfer in seinem schmerzhaften Sterben oder aber in seinen psychischen Qualen im Anblick des ihm drohenden Schicksals ein - und brachten damit aggressives Töten und brutale Gewalttätigkeit in neuer Qualität zur Darstellung.

Leid wird aus der Opferperspektive geschildert
Ein anderes Beispiel war in diesem Zusammenhang ein Vasenbild, auf dem die Eroberung Troias, die Ilioupersis, mit dem Überfall des Neoptolemos auf den greisen König Priamos dargestellt wird. In der Szene ist der König kurz vor dem tödlichen Schlag zu sehen, er hält seine Hände vor das Gesicht, da er den Anblick seines brutal erschlagenen Enkels, der auf seinem Schoß liegt, nicht erträgt. Für Susanne Muth ist diese Darstellung ein eindrückliches Beispiel der Tragödie, die sich bildlich auf ihren Höhepunkt zuspitzt. Das visualisierte Leid wird aus der Opferperspektive geschildert und offenbart neben der Ohnmachtskategorie der Schwäche (Minotauros) insbesondere die der Verzweiflung, durch die die Gewalt im Spiegel der Auswirkung präsentiert wird.

Metaebene der Gewalt-Fantasie
In der untersuchten Periode nehmen somit Pathos und Dramatik bei den jüngeren Bildern zu, das schmerzhafte Sterben und psychische Qualen kommen in der Gewaltikonographie zum Vorschein. Vor 500 und nach 490 überwiegen „normale“ Kampfszenen, die aber nur starke oder schwache Protagonisten zeigen, nicht aber auf deren Leiden und Sterben verweisen. Somit stellte sich für die Wissenschaftlerin die Frage, weshalb gerade in der untersuchten Dekade die Gewalt in expliziter Weise in der Vasenmalerei mit vielen Waffen, Blut und den leidenden Opfern im Moment des Sterbens gezeigt wurde. Im Gegensatz dazu wurde ab 470 verstärkt eine „gedämpftere“ Gewaltikonographie favorisiert, eine implizite Gewalt, deren Folgen für die Betrachter auf eine Metaebene der Fantasie verlagert wurden. Denn die Gewaltanwendung wird hier nur angedeutet.

Schmutzige und saubere Gewalt
Bei der „blutrünstigen“ Periode sowie der nachfolgende Phase der „Gewaltdämpfung“ war man bisher - basierend auf modernen Erfahrungen im Umgang mit medialer Gewalt - davon ausgegangen, dass diese Darstellungen mit dem Erleben realer Gewalt in den Perserkriegen zu tun haben. Doch können diese Phänomene in der attischen Kunst für Susanne Muth keineswegs mit modernen Gewaltauffassungen und -theorien erklärt werden, die in der Regel zu einer polarisierenden Reaktion führen: Denn der Rezipient neuzeitlicher Gewaltdarstellungen ergreift meist Partei für den Stärkeren/Sieger oder schlägt sich auf die Seite des Opfers. Besonders explizite Gewalt soll verurteilt werden, zumal das Leiden des unschuldigen Opfers eindrücklich gezeigt wird („schmutzige Gewalt“). Wenn die Gewalt dagegen nicht verurteilt werden soll, darf beim Betrachter kein Mitleid entstehen, damit nicht die „falsche Seite“ berücksichtigt wird („saubere Gewalt“). „Die Ikonographie unserer heutigen Gewaltbilder funktioniert also eindeutig wertend, ihre Differenzierungsmöglichkeiten werden zur Distinktion verschieden bewerteter Gewaltarten eingesetzt; - und die jeweilige Gewaltikonographie dient folglich dazu, die Parteinahme des Betrachters zu steuern und seine polarisierende Reaktion zu unterstützen“, betonte Muth. Die attische Gewaltikonographie funktioniere jedoch im Gegensatz zu neuzeitlichen Gewaltdarstellungen themenunabhängig und sei damit auch bewertungsneutral.

Aushandelbarer Charakter jeglicher Gewaltdefinition
Im Anschluss sprach WERNER RIESS (Chapel Hill) über „Ritualisierungen von Gewalt im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr.“ Dabei betonte er zu Beginn, dass „Gewalt für jede Gesellschaft die Transgression gültiger Normen“ bedeute. Wo jedoch die jeweiligen Grenzen zwischen noch akzeptablen und inakzpetablen Verhaltensmustern verliefen, sei ebenso wie die Art und Weise, in der diese definitorischen Grenzziehungen erfolgen, kulturspezifisch. „Da diese Grenzziehungen alles andere als statisch sind, betonen Kulturwissenschaftler heute verstärkt den aushandelbaren Charakter jeglicher Gewaltdefinition. Sie wird dabei als dynamisches Konstrukt verstanden, das von sozialen, kulturellen und politischen Faktoren determiniert wird. In der Tat sind in den antiken Quellen explizite wie implizite Grenzziehungen zwischen legitimem und illegitimem Verhalten (Gewalt) auszumachen“, sagte Riess, der in seinem Vortrag Gewaltakte zwischen athenischen Bürgern analysierte.

Der physische Akt der Gewalt
Für Riess kommt es in einem kulturwissenschaftlichen Sinne besonders darauf an, die symbolische Bedeutung von Gewalt im athenischen Sozialgefüge herauszuarbeiten. Wie es Athen ohne reguläre Polizeikräfte schaffte, Gewalt so zu reduzieren beziehungsweise verstehbar zu machen, dass die Polis im 4. Jahrhundert stabiler als viele andere griechische Stadtstaaten war, zählte zum erweiterten Erkenntnisinteresse des Vortrags. Bei der Interpretation der athenischen Quellen legte Riess dabei einen engen Gewaltbegriff zugrunde: „Ich verstehe unter Gewalt einen physischen Akt, mit dem ein Mensch einen anderen schädigt oder die Absicht hat, dies zu tun.“ Wenn man sich frage, wie Sinn konstituiert und bestimmten sozialen Praktiken zugeschrieben würde, und welches die Bedeutungsträger seien, vor allem in vormodernen, semi-oralen Gesellschaften, so stoße man unweigerlich auf die Bedeutung von Ritualen. „Meiner Studie liegen somit die Ritual- und Performanzstudien zu Grunde.“ Mit diesem methodischen Ansatz könne man die heterogenen Quellen des 4. Jahrhunderts kombinieren und integrieren. Bei den herangezogenen Quellengattungen handelte es sich um die attischen Gerichtsreden, die Fluchtäfelchen und die Alte Komödie des Aristophanes. „Sie alle führten ursprünglich einen Gewaltdiskurs, der rituell eingebettet war, performativ auf“, unterstrich der Althistoriker. Exemplarisch soll hier kurz auf die Gerichtsreden und die Komödie eingegangen werden.

Die Diffamierung des Gerichtsgegners als politisches Statement
Zunächst arbeitete Riess den Gewaltdiskurs, der in allen öffentlichen Veranstaltungen von den Gerichtshöfen über das Rathaus und die Volksversammlung bis hin zum Drama performativ inszeniert wurde, am Beispiel der attischen Gerichtsreden heraus: „Obgleich wir keinen Zugriff auf die tatsächlichen Geschehnisse haben, können wir sehr wohl erkennen, wie der Gewaltdiskurs bei den Rednern strukturiert ist. Die Bedeutung von Gewalt wurde dichotomisch definiert oder, ritualdynamisch gesprochen, dichotomisch konstruiert. In diesem dynamischen Prozess wurde die Interpretation dessen, was Gewalt darstellte und bedeutete, rhetorisch und damit stark standpunktabhängig verhandelt“, sagte Riess. Der Sprecher, unabhängig davon, ob er als Angeklagter oder als Verteidiger sprach, suchte seinen Widersacher immer als unverantwortlichen Schuldigen zu delegitimieren und zu diffamieren, ihn als das diametral Andersartige darzustellen, als Anti-Bürger, hybristischen Tyrann und Barbaren.

Theatralisch inszenierter Diskurs
Desweiteren analysierte Riess Aristophanes’ Komödien unter den Gesichtspunkten Hybris, Slapstick und gewaltsame Umzüge im privaten Festkontext („kômoi“) in ihrem Gewaltpotential. Auch die Aufführung eines Theaterstücks im Kontext der religiösen Feste der Lenäen und der Großen Dionysien war rituell, das heißt räumlich und situativ gerahmt, so dass die Theateraufführung als Ganzes als Ritual betrachtet werden kann. Riess zeigte auf, dass Hybris bei Aristophanes die gleiche Bedeutungsoffenheit wie bei den Rednern zeige. Die indirekte Problematisierung der Gewalt auf der Bühne als tyrannisch, barbarisch und hybristisch sei am Ende so wirkungsvoll in der Alten Komödie wie die Stigmatisierung des Gegners entlang ähnlicher Linien in den Gerichtsreden. Obgleich der Slapstick immer komisch bleibe, verstand es Aristophanes, so Riess, ihn mit einem gewissen Problembewusstsein aufzuladen. Einmal mehr offenbart sich die diskursive und semantische Offenheit der aristophanischen Komödie, so dass man in Analogie zur offenen Textur des athenischen Rechtes durchaus von der offenen Textur der Alten Komödie sprechen könne.

Öffentlicher Diskurs über Gewalt war nicht nur Angelegenheit der Oberschichten
Das Aushandeln des Gewaltbegriffes und die Beantwortung der Frage nach legitimer Gewaltanwendung wurden in Athen in rituell abgegrenzten Räumen unter Anwesenheit eines entscheidungsfindenden Publikums durchgeführt. Die Vergleichbarkeit von Gerichtsreden und Komödien besteht in der performativen Qualität ihres ursprünglichen Aufführungskontextes und damit im jeweils theatralisch inszenierten Diskurs über Gewalt. Der öffentliche Diskurs über Gewalt war vor allem eine Angelegenheit der Oberschichten. Als Richter oder Zuschauer im Theater waren aber auch die Unterschichten an der Bildung eines gesellschaftspolitischen Basiskonsenses in Blick auf die Gewalt beteiligt, der wiederum die konkrete Einhegung von Gewalt begünstigte.

Argumentationsmuster für Kriege
Über „The Shifting Boundaries of Violence: Five Cultural Models for Going to War (and Not Going to War) in Greek and Roman Antiquity” sprach abschließend JON E. LENDON (Charlottesville / Heidelberg). In bestimmten Generationen hat es nach seiner Darstellung immer wieder unterschiedliche Argumentationsmuster für den Beginn eines Krieges oder dessen Abwendung gegeben. Wenn man vom „Wahrheitsgehalt“ einer von einem antiken Historiker oder Redner getroffenen Behauptung absieht, ist es möglich, eine Fülle von Aussagen darüber zusammenzustellen, warum ein Krieg geführt oder nicht geführt werden sollte, und damit eine Geschichte des diachronen Wandels hinsichtlich der dominanten Motive zu schreiben, aus denen heraus Griechen und Römer in den Krieg zogen - Motive, die jede Generation als eindeutig legitim betrachtete.

Rache als wichtigstes Motiv für Kriegsbeginn
Mit zahlreichen Beispielen stellte Lendon seine These vor, dass für die klassischen Griechen das höchste Motiv für einen Krieg die Rache war und dass die dazugehörigen Argumentationsmuster „eine aus den homerischen Pfaden der Überlieferung gewachsene Tradition“ sei. „Die Ilias präsentierte den Trojanischen Krieg als eine Auseinandersetzung der Vergeltung, und wie wir von Herodot wissen, akzeptierten die späteren Griechen diese Diagnose“, sagte Lendon. Weil der Trojanische Krieg als mythischer Beispielskrieg den Griechen immer als Orientierung diente, sei es nicht verwunderlich, dass die Rache infolgedessen das wichtigste Motiv war, um einen Krieg zu beginnen.

Tapferkeit als römische Traditionslinie
Die Römer der republikanischen Zeit hatten dagegen nach Lendons Darstellung in diesem Zusammenhang zwei implizit voneinander abweichende Sichtweisen. „Die erste können wir bei Caesar ausmachen, der meinte, ein Krieg müsse von Männern mit Tapferkeit geschlagen werden, um die Tapferkeit von anderen zu übertreffen.“ Cicero und Livius meinten dagegen, eine kriegerische Auseinandersetzung sollte von der Verteidigung der eigenen Person, der Verbündeten und der Ehre an sich geleitet sein. Beide Begründungsmuster hätten den griechischen Vergeltungsgedanken abgeworfen. Selbstverständlich spiele die Verteidigung der Ehre aber auch bei vielen attischen Rednern schon eine enorme Rolle. Lendon stellte die Hypothese auf, dass die nach Tapferkeit suchende Mentalität der Republik eine alte römische Tradition gewesen sein könne und die defensive Herangehensweise an einen Krieg - nicht zuletzt in den Augen vieler Römer - ein Resultat des griechischen Einflusses gewesen sein mag.

Auch wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analysen im römischen Kriegsdenken
Zu Beginn des römischen Imperiums sei noch ein neues Leitmotiv zur den nach Tapferkeit suchenden und defensiven Argumentationsmustern hinzugekommen: Besonders bei griechischen Autoren der Kaiserzeit gebe es eine Gegnerschaft zu weiteren römischen Expansionen, da diese in einer finanziellen Kosten-Nutzen-Analyse kritisch dargestellt wurden. So werde kommuniziert, Britannien würde mehr kosten, wenn man es halte, als es an Einnahmen überhaupt einbringen könne. „Die Herkunft dieses Gedankengangs, so angewandt in der Außenpolitik, liegt im Dunkeln. Er spielt weder in der griechischen noch in der vorherigen römischen Tradition eine Rolle“, betonte Lendon. Diese Form der Außenpolitik habe eher mit dem Denken von Händlern und Schiffskapitänen zu tun, die eine der Quellen des griechischen Wissens über Geographie waren.

Historischer Wandel der Kriegsrechtfertigung
Die Gründe, in einen Krieg zu ziehen, haben also eine Geschichte. Sie waren im Verlauf der klassischen Antike historischem Wandel unterworfen, wobei kulturelle Erklärungs- und Rechtfertigungsmodelle einander ablösten. Die treibenden Faktoren dieser Geschichte sollten nicht im idiosynkratischen Erleben von Diplomatie und Krieg gesucht werden, sondern zunächst in den spezifischen Erziehungsmodellen und kulturellen Erwartungen der Entscheidungsträger, von den von Homer besessenen Griechen des 5. Jahrhunderts v. Chr. bis hin zu den rhetorisch geschulten Römern des 4. Jahrhunderts n. Chr.

Zusammenfassung
Als Ergebnis der Sektion sind zwei Befunde festzuhalten, zum einen die grundsätzliche Alterität des antiken von unserem heutigen Gewaltbegriff. Während Gewalt in modernen westlichen Gesellschaften grundsätzlich negativ konnotiert ist, scheint der Gewaltbegriff in der Antike sehr viel bedeutungsoffener gewesen, ja Gewalt oftmals sogar „neutral“ gesehen worden zu sein. Zum anderen bedingte jedoch gerade dieses flexible Verständnis von Gewalt zahlreiche komplexe Aushandelungsmechanismen, die, oftmals ritualisiert durchgeführt, es den Zeitgenossen sehr wohl auch erlaubten, Gewalthandlungen richtig einzuschätzen und darauf angemessen zu reagieren. Während in modernen westlichen Demokratien Gewalt also a priori per Gesetz definiert ist, unterlag das Gewaltverständnis antiker Menschen einem ständigen Perspektivenwechsel, der sich, für uns noch heute greifbar, in diversen Ritualen und Medien niedergeschlagen hat, die es weiter zu erforschen und kulturwissenschaftlich fruchtbar zu machen gilt.

Sektionsübersicht:

Martin Zimmermann (München): Literarische Gewaltbilder als Medien moralischer, politischer und kultureller Grenzziehungen

Susanne Muth (Berlin): Bilder der Gewalt – Annäherung an eine historische Interpretation medialer Gewalt

Werner Riess (Chapel Hill): Ritualisierungen von Gewalt im Athen des 4. Jhs. v. Chr.

Jon Lendon (Charlottesville / Heidelberg): The Shifting Boundaries of Violence: Four Cultural Models for Going to War in Greek and Roman Antiquity


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