HT 2018: Dis/ability – Alltag – Geschlecht. Erkundungen im Feld der interdisziplinären Dis/ability History

HT 2018: Dis/ability – Alltag – Geschlecht. Erkundungen im Feld der interdisziplinären Dis/ability History

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Raphael Rössel, Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Die (historischen) Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderungen sind nicht hinreichend mit individuellen körperlichen oder geistigen Abweichungen erklärbar. Für die Disability History waren und sind Handlungsspielräume behinderter wie nichtbehinderter Menschen stets von ihrem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen sowie der Bewertung verkörperter Devianzen als „leistungs(un)fähig“ respektive „fürsorgebedürftig“ bestimmt. Diese Handlungsspielräume waren, so die Grundannahme dieses Panels, darüber hinaus relationiert durch weitere Ungleichheitssysteme, in Vormoderne wie Moderne in besonders hervorstechender Weise durch Geschlechterordnungen.

Unter der Sektionsleitung von CORDULA NOLTE (Bremen) und GABRIELE LINGELBACH (Kiel) wurden epochenübergreifend verschiedene Ansätze vorgestellt, die versprechen, Verzahnungen von Geschlecht und Behinderungen analytisch fassbar zu machen. Die im deutschsprachigen Raum weiterhin junge Disability History – so argumentierte Nolte in ihrer Einführung – erfahre zurzeit erste spaltende Tendenzen. Während die Kontroverse der heuristischen Reichweite des Ansatzes zwischen Segment- und Totalgeschichte erste Demarkationslinien konturiert habe, zeichne sich das Fach nach wie vor durch seine hohe Integrationskraft interdisziplinärer Herangehensweisen aus. Als weiteres verbindendes Element wertete sie den geteilten Grundsatz, dass historische Behinderungsphänomene nicht allein stehen, sondern stets mit weiteren Differenzmerkmalen interagieren.

EVA CERSOVSKY (Köln) eröffnete mit einer Mikrostudie zur Vergabe von Beihilfe- und Almosenzahlungen in der freien Reichsstadt Straßburg während der Reformationszeit (1523-1564). Sie rekurrierte hierbei vor allem auf obrigkeitliches Schriftmaterial zur Gewährung von Unterstützungszahlungen in Phasen persistenter Abwesenheit von Gesundheit. Insbesondere bei Männern seien gesundheitliche Beeinträchtigungen zur Bedrohung geschlechtlicher Rollenanforderungen geworden – vor allen Dingen die Aussicht auf Berufsuntätigkeit bedrohte die Aufgabe der Familienernährung. Die Beihilfeanliegen von Männern wurden nicht nur deutlich häufiger mit Verweis auf Arbeitsunfälle gestellt, sondern auch deutlich häufiger positiv beschieden. Stets habe hierbei die Ursache der Beeinträchtigung nach geschlechtlich codierten Bewertungsstandards als moralisch legitim anerkannt werden müssen. Die Wichtigkeit männlicher Erwerbstätigkeit sei in Einzelfällen sogar auf die Deutungen weiblicher Behinderungen ausgegriffen, wie Cersovsky am Beispiel der „Dorech Magred“ (1539) argumentierte, deren geistige Beeinträchtigung durch die nicht-zünftische Arbeit ihres Ehemannes erklärt wurde. Spenden und Almosen seien insgesamt an individuellen medizinischen und pflegerischen Bedarf angepasst und die jeweiligen Zuwendungen auch nach geschlechtlichen Arbeitslogiken ausgezahlt worden. So haben die Beamten bei festgestellter Invalidität und Arbeitsunfähigkeit eines Mannes dessen finanzielle Unterstützung an die Ehefrau auszahlen können.

Insgesamt skizzierte Cersovsky „flexible Deutungen“ der Reichsbeamten, die bei der Bemessung der Unterstützungsleistungen geschlechtlich ausdifferenzierte Bewertungsstandards für Beeinträchtigungen anwenden konnten – aber nicht mussten. Reformatorische Verwerfungen – den sieben caritativen Einrichtungen unter Ratsaufsicht wurde 1523 die offene Einrichtung der Almosenbehörde zur Seite gestellt – haben zusätzlich den Druck auf die Betroffenen erhöht, bei schwankenden Budgets die eigene Beeinträchtigung als Resultat sittlich-moralisch vertretbarer Umstände und damit die eigene Situation als beihilfebedürftig darzustellen.

MAREIKE HEIDE (Hamburg) analysierte den Gebrauch von Prothesen in der Frühen Neuzeit als Vehikel zur Wiederherstellung gesellschaftlicher und damit auch geschlechtlicher Normalität. Heide nutzte hier das Instrumentarium der Artifact History, die Gegenstände nicht nur als Objekte menschlichen Wissens und Gebrauchs sieht, sondern Realien durch ihre schiere Präsenz auch als aktiv partizipierende Akteure wertet. Prothesen agierten, so Heide, als sichtbarer Verweis auf die Behinderung der Träger/innen. Neben den Objekten und deren gezeichneten Repräsentationen untersuchte sie auch chirurgisches Schriftgut. Hierfür betonte sie, dass darin Fragen nach der Ermöglichung gesellschaftlicher Reintegration durch Erfüllung ästhetischer Normen den medizinischen Erhalt von Körperfunktionen überwogen. Dies habe neben kosmetischen Augenprothesen in einem Fall auch für die Bereitstellung einer Penisprothese gegolten, die aus chirurgischer Sicht für den Träger zwar nicht zum Erhalt der Urinierfähigkeit, wohl aber für die Performation von unbeschädigter Männlichkeit unabdingbar gewesen sei.

Prothesen seien zeitgleich zu ritterlichen und gräflichen Repräsentationsobjekten avanciert, bei denen laut Heide ebenfalls die Funktionalität hinten anstand. Vom 15. bis 17. Jahrhundert, wie die Referentin unter anderem anhand Götz von Berlichingens „Eiserner Hand“ und dem „Silbernen Bein“ Friedrichs II. von Hessen-Homburg argumentierte, wurden hochtechnisierte Prothesen bei sozial hochgestellten Männern zu einem Mittel, um die zugeschriebenen Nichtfähigkeiten gesellschaftlich sichtbar zu überwinden. Besonders kunstvolle, modische, multifunktionale oder in besonders frappierender Weise echten Gliedmaßen ähnelnde Stelzen und Armersatze seien daher immer wieder instandgesetzt, erneuert oder umgebaut worden. Im (nichtöffentlichen) Alltag seien diese vielfach schweren und schwergängigen Konstruktionen allerdings deutlich weniger benutzt worden als funktionale Varianten. Prothesen, so lässt sich Heides zentrale These zusammenfassen, dienten in der Frühen Neuzeit vielfach der Aufhebung der sozialen Auswirkungen von Behinderungen, nicht unbedingt der reinen (Wieder-)Herstellung der Funktionen der jeweiligen Körperteile.

In einer ersten Diskussionsphase wurde diese These auf die Probe gestellt und mit Blick auf moderne Enhancement-Konzepte hinterfragt. Gerade da der repräsentative Charakter vieler Kunstglieder darin bestanden habe, einer „natürlichen“ Extremität besonders zu ähneln, bezweifelte Heide, dass vormoderne prothetische Normalisierung als direkter Zwischenschritt zu gegenwärtigen Vorstellungen von menschlicher Erweiterbarkeit gewertet werden könne.

Die kurzfristig verhinderte EMMA SHEPLEY (London) vertrat BIANCA FROHNE (Kiel) und zeigte anhand von häuslicher Schriftlichkeit Herausforderungen einer Wissensgeschichte von Behinderungen im frühneuzeitlichen Alltag. In Familien- und Hausbüchern, die explizit der familiären Sicherung virulenter Wissensbestände für die Hausgemeinschaft dienten, wurden auch zeitgenössische Vorstellungen über die Entstehung von Behinderungen archiviert. Gleichzeitig wurde in diesen Quellen über Geburten behinderter Familienangehöriger berichtet. Jedoch seien Deutungsangebote zur Erklärung von Behinderung – etwa astrologische Sternkonstellationen, Tierkreiszeichen- oder Temperamentenlehre – in diesen Büchern zwar gesammelt, auf eigene Familienmitglieder jedoch nicht immer oder nur partiell angewandt worden.

Bei Fremden war dies laut Frohne deutlich offener, hier wurde etwa die geschlechtlich ausdifferenzierte Theorie des „Versehens“ angewandt. Diese Imaginationslehre erklärte kindliche Gebrechlichkeit mit der Gedankenwelt der schwangeren Mütter. Dass die Deutung einer O-Beinstellung eines der Familie bekannten Neugeborenen damit erklärt wurde, dass die werdende Mutter an einen o-beinigen Spanier gedacht habe, jedoch als komödiantischer Kommentar zu werten sei, verdeutliche, dass auf diese Wissensbestände im Alltag flexibel verwiesen werden konnte.

Frühneuzeitliche Hausbücher seien somit vor allem ein Akt familiärer Kommunikation gewesen. Beispielhaft zeigte Frohne dies an von den familiären Autoren entscheidend gekürzten Abschriften von Studien zu absonderlichen Körpern und sogenannten „Wundermenschen“ im 16. Jahrhundert. Den Verfassern ging es, so die Referentin, um repräsentative Aufbereitung von religiösen oder astrologischen Erklärungen, welche gleichzeitig Spezial- und Alltagswissen waren. Dies habe jedoch nicht unbedingt eine Anwendung dieser Konzepte miteingeschlossen, sondern sei erst der Beginn langwieriger Deutungsprozesse von Behinderungen in Familiengemeinschaften gewesen. Die Analyse der vormodernen Lebenslagen behinderter Menschen dürfe daher nicht unhinterfragt annehmen, dass die zeitgenössischen (Experten-)Vorstellungen über Behinderungen auch den (familiären) Alltag determinierten.

SEBASTIAN SCHLUND (Kiel) diskutierte anhand von Privilegierungs- und Diskriminierungspraktiken innerhalb des bundesdeutschen Behindertensports den analytischen Mehrwert des Intersektionalitätsansatzes für die Disability History. Intersektionalität sieht soziale Positionierungen als Resultat des Zusammenspiels verwobener, an individuelle Identitätsmerkmale geknüpfter Ungleichheitssysteme. Schlund betonte das feine Sensorium dieses Ansatzes für Differenzierungen innerhalb und Wechselwirkungen zwischen Identitätskategorien.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhoben kriegsversehrte Männer mit Verweis auf Militärdienst und dem dadurch entstandenen „Ehrenmal“ Anspruch auf einen entschädigenden „Dank des Vaterlandes“ in Form staatlicher Unterstützung zur Körperbetätigung. Anliegen sogenannter „zivilbehinderter“ Männer seien hingegen im neugegründeten Versehrtensportverband marginalisiert worden. Die Ursache der Behinderung habe daher in den 1950er- und 1960er-Jahren als Hierarchisierungsmerkmal innerhalb des fast ausschließlich von Männern betriebenen Sports fungiert. Kriegsversehrte Männer konnten, so Schlund mit Verweis auf Raewyn Connells Theoriebildung, über die Betonung der Ursache ihrer Behinderung eine Position „hegemonialer Männlichkeit“ aufbauen.

Körperbehinderten Frauen hingegen riet der Verband bis in die 1970er-Jahre vom aktiven Sport dezidiert ab. Durch Rekurs auf eine essentialisierte weibliche Eitelkeit sei mithin vor dem „seelischen Schaden“ gewarnt worden, den die öffentliche Präsentation eines devianten weiblichen Körpers zur Folge haben könnte. Erst nach einem Verblassen der Dominanz kriegsversehrter Männer und der Ausrichtung der sozialliberalen Behindertenpolitik auf gesellschaftliche Teilhabe in den 1970er-Jahren, so die These des Referenten, war es auch körperbehinderten Frauen möglich eigene Sportveranstaltungen durchzuführen.

Am persistentesten sei jedoch die Bruchlinie zwischen körperlich und geistig behinderten Menschen gewesen, die sich bis in die Gegenwart durch die Trennung der Paralympics und der Special Olympics manifestiere. Getragen durch eigene Vorurteile haben sich Verbandsfunktionäre gegen eine Aufnahme von geistig behinderten Menschen bis in die 1990er-Jahre gewehrt.

Laut Schlund erlaubt Intersektionalität, die Kategorie der Behinderung weiter auszudifferenzieren und nach weiteren intrakategorialen Brüchen – hier Ursache beziehungsweise Art von Behinderungen sowie interkategorialen Verflechtungen – hier die persistente Exklusion körperbehinderter Frauen zu fragen. Er plädierte aber abschließend dafür, diesen geschichtswissenschaftlich bisher selten angewandten Ansatz pragmatisch und kontextabhängig dort einzusetzen, wo er den größten heuristischen Ertrag verspricht.

In der Schlussdiskussion wurden Querverbindungen zwischen den Vorträgen hergestellt. Trotz aller Unterschiede der Lebenslagen behinderter Menschen in Mittelalter, Früher Neuzeit und im 20. Jahrhundert wurden epochenübergreifende Kontinuitäten genannt, namentlich beharrliche Diskurse der prothetischen Normalisierung und die Bedeutung der Wiederherstellung von vorrangig männlicher Arbeitskraft. Die große Lücke auf dem Panel zwischen Früher Neuzeit und neuester Zeitgeschichte, so merkte Lingelbach an, könne auch als erneuter Beleg dafür gelten, dass Analysen zum 19. Jahrhundert (besonders für den deutschsprachigen Raum) ein großes Desiderat der Disability History bleiben.

Insgesamt wurde der Selbstanspruch des Panels einer tiefergehenden Exploration des extrem diversen und interdisziplinären Forschungsfeldes zur Geschichte von Behinderungen überzeugend eingelöst. Durch die Fokussierung auf Verschränkungen von Behinderungen mit der Kategorie „Geschlecht“ konnten verschiedene Instrumentarien für unterschiedliche epochale und lokale Kontexte vorgestellt werden, die verflochtene Ungleichheitssysteme nicht nur sichtbar, sondern endlich auch erklärbar werden lassen. Diese sich erweiternde Werkzeugkiste kann auch die theoretischen Diskussionen um Reichweiten der Disability History weiter befruchten und Impulsgeber dieser andauernden Selbstverständigung sein. Gewonnen hätte das Panel durch eine tiefergehende Auslotung der alltäglichen Handlungsmacht und der geschlechtlichen Selbstbilder behinderter Menschen. Während die meisten Vorträge Verflechtungen von Disability und Gender über den Diskurs der Experten, Eltern und Beamten analysierten, fehlten in weiten Teilen die Aneignungen, Zurückweisungen oder Hinterfragungen der geschlechtlichen Lebensrealitäten durch die als behindert klassifizierten Subjekte selbst. Es bleibt weiterhin eine der größten, vielleicht sogar die größte Herausforderung der Disability History, die Stimmen behinderter Menschen lauter hörbar zu machen und ihre jeweiligen Handlungsspielräume abzustecken. Eine Diskussion dieses Desiderats hätte dem Panel auch erlaubt zu fragen, wie die vorgestellten Ansätze der Artifact History, der Wissensgeschichte oder die Perspektive der Intersektionalität dieses Problem schmälern könnten. Dennoch verdeutlichte diese sehr anschauliche Zusammenführung erneut den Mehrwert eines thematisch gebündelten Blicks über die Epochengrenzen und könnte ein Auftakt dafür sein, die historischen Lebenslagen behinderter Menschen zu enthomogenisieren und ihre Kontinuitäten und Wandlungsprozesse nuancierter zu erforschen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Cordula Nolte (Bremen) / Gabriele Lingelbach (Kiel)

Eva Cersovsky (Köln): Blind Fraw – bresthaft Man. Überlegungen zu Beeinträchtigung, Versorgung und Geschlecht in Städten des 15. und 16. Jahrhunderts

Mareike Heide (Hamburg): Shaping dis/ability? Prothesen und Behinderung in der Frühen Neuzeit

Bianca Frohne (Kiel): Gott schick alle ding zum besten: Wissensbestände und Alltagsbezüge in frühneuzeitlichen Haus- und Familienbüchern aus Sicht der Disability History

Sebastian Schlund (Kiel): Dis/ability und gender im westdeutschen Behindertensport. Eine intersektionale Analyse