HT 2021: Rezensionen in der digitalen Transformation

HT 2021: Rezensionen in der digitalen Transformation

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Fabian Dombrowski, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Rezension wandelt sich; sie muss Schritt halten mit aktuellen Entwicklungen im Fach, damit sie ihren Aufgaben genügt, nämlich Ergebnisse zu evaluieren, sichtbar zu machen und zu honorieren. So klang der Grundton der Sektion von H-Soz-Kult, dem VHD und dem NFDI4Memory-Konsortium. Der zielte – wenig überraschend bei den Ausrichtenden – unter anderem auf die digitale Transformation der Geschichtswissenschaften. Es ist keine Neuigkeit, dass jene die Infrastrukturen verändert, in denen wir forschen. Das wird begrüßt, wenn Monografien, Zeitschriften und Sammelbände per Mausklick verfügbar werden (sofern Bezahlschranken und Verlagspolitiken es zulassen). Schwerer tun sich Historiker:innen mit neuen Publikationen, die beginnen hergebrachte Veröffentlichungspraktiken zu ergänzen; dazu gehören Daten, Webseiten und Tools. Findige Rezensent:innen und Rezensionsformate sind gefragt, sich ihrer anzunehmen, doch auch Veröffentlichungsplattformen, die solche Unternehmen mit vorantreiben. Gleichzeitig muss für die Besprechung klassischer Veröffentlichungen überlegt werden, ob sie ihre eigene Digitalisierung ernst nehmen, oder als bloße Abbildung „analoger“ Praxen verharren.

CLAUDIA PRINZ (Berlin) umriss die damit ins Spiel gebrachten Probleme zu Beginn: Wie genau können Rezensionen in diesem sich wandelnden Umfeld eine relevante Position beziehen? Wie ist mit der Flut aktueller Publikationen umzugehen – gerade wenn noch neue digitale Formen hinzu kommen? Welche Rolle spielt es, dass Veröffentlichungen im Print wesentlich leichter an Rezensent:innen zu vermitteln sind als digitale? Fünf Impulsreferate sammelten darauf Antworten und diskutierten diese im Gespräch, geleitet von RÜDIGER HOHLS (Berlin).

Gleich die ersten beiden Redner, THOMAS WERNEKE (Berlin) und PATRICK SAHLE (Wuppertal), gingen vor allem das Thema der Rezension von Digitalem an. Das meinte bei Werneke die Evaluation ganz unterschiedlicher Ergebnisse historischer Arbeit. Die Vielfältigkeit der online Formate illustrierte er mit online Münzpublikationen, Videospielen, living books und mehr; diverse Epochen- und Hilfswissenschaften trügen zu dieser Vielfalt bei. Die Rezensionen solcher Inhalte habe bisher eigentlich nur die Frage nach der usability geeint, also: Wie gut können die Angebote genutzt werden? Wie zugänglich sind sie? Historiker:innen haderten darüber hinaus mit der Nichtabgeschlossenheit von Webangeboten und ähnlichen Veröffentlichungen; ihnen fehle der Umgang mit solchen moving targets. Sie seien ein ständiges "work in progress“, das auch wieder verschwinden könne. Wie soll dann aber im Fall des Verschwindens oder des Veränderns eine Rezension am Material überprüft werden?

Wo Thomas Werneke eher das zu Rezensierende im Blick hatte, verschob Patrick Sahle den Fokus auf die Rezension. Wenn wissenschaftliche Praktiken sich änderten, müsse deren Evaluation sich auch ändern – oder in Sahles Worten "harmonisieren". Um diese Idee zu erörtern, zog er seine Arbeit bei RIDE heran, einer Publikation des von ihm mitbegründeten Instituts für Dokumentologie und Editorik (IDE). Rezensionen dort nähern sich dem Forschungsartikel an (auch damit sie sich in Bewerbungsverfahren als solche anrechnen lassen können): Sie sind unter anderem bis zu 20 Seiten lang, mit ISSN bzw. DOI versehen und durchlaufen einen Peer-Review-Prozess. Rezensent:innen wird ein Fragenkatalog inklusive eines fact sheets an die Hand gegeben. Sahle dachte darüber hinaus weitere Formalisierungen von Forschungsevaluationen an: Zertifizierung der Qualität oder ein eventuelles Monitoring von fluideren Ergebnissen. Das leuchtet ein, veröffentlichen doch Historiker:innen nicht länger einzig Texte – nur hat sich noch kein Vorgehen etabliert, diese zu besprechen, beispielsweise im Hinblick auf Gutachten, Gütesiegel oder als data reviews.

Die folgenden zwei Inputs konzentrierten sich nicht länger auf die Rezension des Digitalen, was aber nicht hieß, dass die Implikationen der Digitalisierung weniger eine Rolle spielten. TIMO LUKS (Gießen) stieg mit einem Statement ein, das bereits bei Sahle kurz anklang: Im Zeitalter von Google hat die Kurzrezension ausgedient; zur reinen Inhaltsinformation würden die online verfügbaren Ressourcen vom Verlagsprogramm bis zum Inhaltsverzeichnis ausreichen. Wobei natürlich auch bereits früher galt, dass eine Rezension nicht in der Absicht geschrieben wurde, Lektüre zu ersetzen; sie hilft Interessierten zu klären, ob die Lektüre lohnt. Luks sah die beste Chance für die wissenschaftliche Rezension in einer Öffnung des Formates hin zum Essay. Das ermögliche Raum, Ergebnisse zu würdigen und sie nicht einfach in reduzierter Form zu reproduzieren (ähnlich wie es Forschungsberichte tun, die aber eher ein Feld kartieren als sich um Einzeltitel zu kümmern). Damit führte die Argumentation von Luks‘ Beitrag zum H-Soz-Kult Forum über den Stand der Rezension hin: Er plädierte auch dort für das Essay, welches neue Perspektiven erschließt, und positionierte sich gegen eine allzu starke Standardisierung der Textsorte.1 In der Diskussion im Anschluss zeigte er auf, dass dies im Sinne der Leser:innen ist und stark positionierte Texte auch einen Dialog anbieten – "dann hat man wenigstens etwas zu streiten!"

Anknüpfend an H-Soz-Kult Beiträge von Barbara Stollberg-Rilinger, Barbara Groß und Olaf Blaschke2 zeigte KATJA CASTRYCK-NAUMANN (Leipzig) auf, wie bedingt der Anspruch eingelöst wird, die internationale Forschung zu rezensieren. Der bedeute häufig nur, über auf Englisch erschienene Literatur zu schreiben. Veröffentlichungen in anderen Sprachen finden seltener Platz. Selbstverständlich wäre es vermessen, generell alle Neuerscheinungen über Ländergrenzen hinweg besprechen zu wollen. Die Lösung läge in einer geschickten Auswahl der Bücher. Manchmal, so diskutierte Castryck-Naumann später, bestünde der Nutzen einer Rezension darin, dass sie Forscher:innen informiere, dass ein Buch auf z.B. Polnisch existiert. Vergleichbar wichtig könne die Wahl einer Rezensent:in sein: Ähnlich wie Timo Luks fragte Castryck-Naumann, ob immer für die erwartbaren Expert:innen optiert werden sollte; jemand von außerhalb eines Feldes mag ebenfalls wertvolle Einordnungen leisten können.

Eine Bruchstelle zwischen dem ersten Block Impulsreferate (Werneke und Sahle) und dem zweiten (Luks und Castryck) wurde deutlich, aber nicht angesprochen – auch in der späteren Diskussion kaum. Für die Evaluation digitaler Forschungsergebnisse wird nach mehr Standardisierung und Formalisierung verlangt; bei der Annäherung mindestens einiger Texte der Digital History an den Schreibhabitus der angewandten Wissenschaften überrascht das kaum. Bei der klassischen Rezension wird der Weg vorwärts eher im Essay gesehen, gerade weil weniger Normierung mehr interessante Perspektiven verspräche. Obwohl die auseinanderstrebenden Vorhaben sich daran erklären, was jeweils rezensiert wird, überrascht das Schweigen schon. Gerade weil Timo Luks bei H-Soz-Kult die Rezension durch die „Eingabemaske“ in die Nähe zur Dystopie rückte3 und weil die Chance des Essayistischen für die Auseinandersetzung mit digitalen Inhalten nicht mal andiskutiert wurde.

Der letzte Beitrag von NIELS EICHHORN (Macon, Georgia) fiel leider kurz aus. Die transatlantische Verbindung stellte sich als technisch instabil heraus und verhinderte, sein Argument in Gänze zu hören. Das war schade, denn die Rolle der Rezensionsplattformen (das meint klassische Journale im Print sowie Webportale) wurde zwar am Rande angesprochen4, aber Eichhorn wollte sie explizit thematisieren. Am Beispiel des H-Net und den dort zugehörigen Redaktionen zeigte er, dass von der Zentrale gewünschte Veränderungen nicht einfach top-down durchgesetzt werden können, möglich sind allein Empfehlungen. Das verweist auf ein Problem, welches jede Forderung nach Veränderung des Rezensionsgeschäfts lösen muss: Die Veränderung kann nicht verordnet werden, die Historiker:innenzunft muss sich davon überzeugt lassen.

Über welche Veränderungen und Überzeugungsvorhaben Redebedarf bestand, zeigte die an die Impulse anschließende Diskussion. Drei ineinander verschränkte Themen dominierten. JÜRGEN DINKEL (Leipzig) brachte sie am Ende nochmal auf den Punkt: (a) der Stellenwert der Monographie, (b) eine gewünschte und zum Teil sogar gefordert Öffnung zu neuen Formaten sowie (c) die Honorierung dieser Formate sowie auch der Rezension als ebenbürtig zu anderen Veröffentlichungen im Textportfolio von Historiker:innen. Gerade im letzten Punkt bestand Konsens. Wenn jemand unter den Anwesenden eine Gegenmeinung vertrat, blieb diese unausgesprochen. Wie anders das im Tagesbetrieb der Historiker:innen aussehen kann, zeigte der Chat parallel zur Veranstaltung. Während Patrick Sahle zwar berichtete, dass Rezensionen und Publikationen wie Podcasts bei einigen Berufungen schon berücksichtigt wurden, und Thomas Werneke hoffte, dass ein Generationenwechsel die Marginalisierung solcher Formate richten könne, zeigte sich Michael Wildt eher skeptisch: Die Fixierung auf das „zweite Buch“ würde noch immer alles überschatten.

Dass solche Selektionskategorien sich oftmals langsam verändern, kann dann schon frustrierend wirken. Gerade wenn die oft verbreitete Neigung in der Zunft bedenkt, Experimente mit neuen Formaten schon vor dem Aufkommen digitaler Publikationen eher zu belächeln. So werden Forscher:innenkarrieren nicht in ihrer Gänze bedacht. Außerdem wächst der Druck zur Monografie; oder in Niels Eichhorns Worten: „Die nächste Monografie ist eben, was die nächste Stelle bringt.“

Jan-Holger Kirsch merkte aber an, dass die neuen Formate sich für die Karriere zu lohnen beginnen, werden sie öffentlich besprochen. Das strich den wesentlichen Unterschied der Rezension auch zu anderen Formen wissenschaftlicher Standardsicherung wie Peer-Reviews oder Gutachten über Projektanträge heraus: Rezensionen schaffen Sichtbarkeit und Reichweite für Themen, Methoden sowie – richtig eingesetzt – neue Praktiken des Forschens und Publizierens. Diese Chance hängt nun daran, wie in der digital transformierten Geschichtswissenschaft eine angemessene Sprache und Form gefunden wird, neue und alte Publikationen und die Arbeit an ihnen zu würdigen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Jürgen Dinkel (Leipzig) / Rüdiger Hohls (Berlin) / Claudia Prinz (Berlin)

Einleitung: Claudia Prinz (Berlin)

Katja Castryck-Naumann (Leipzig) / Niels Eichhorn (Macon, GA) / Patrick Sahle (Wuppertal) / Thomas Werneke (Berlin) / Timo Luks (Gießen)

Schlussbetrachtung: Jürgen Dinkel (Leipzig)

Anmerkungen:
1 Timo Luks, Bücher oder Themen? Inhaltsreferat oder Buchkritik? Überlegungen zum Rezensionswesen, in: Jürgen Dinkel / Rüdiger Hohls / Claudia Prinz (Hrsg.), Buchrezensionen in den Geschichtswissenschaften, H-Soz-Kult, 01.07.2021, https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5211 (16.12.2021).
2 Barbara Stollberg-Rilinger / Barbara Groß, Torwächter oder Marktschreier? Zur Lage des Rezensionswesens in den Geisteswissenschaften, in: Dinkel / Hohls / Prinz (Hrsg.), Buchrezensionen, H-Soz-Kult, 02.07.2021, www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5195 (16.12.2021); Olaf Blaschke, Endzeit der Rezensionen, wie wir sie kennen? Tendenzen im Faktencheck, in: Dinkel / Hohls / Prinz (Hrsg.), Buchrezensionen, H-Soz-Kult, 01.07.2021, https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5193 (16.12.2021).
3 Timo Luks, Bücher oder Themen?
4 Vor allem wurde hier immer wieder auf die Sektion von Frank Rexroth verwiesen, vgl. dafür den Sektionsbericht von Marcel Bubert, HT 2021: Wissenschaftliche Zeitschriften in der Krise?, in: H-Soz-Kult, 11.12.2021, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-9224 (16.12.2021).


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