Kompromisse im Mittelalter. Erkundungen eines vernachlässigten Themas

Kompromisse im Mittelalter. Erkundungen eines vernachlässigten Themas

Organisatoren
Jan-Hendryk de Boer (Duisburg-Essen), Jessika Nowak (Wuppertal), Shigeto Kikuchi (Tokio)
PLZ
digital
Ort
-
Land
Deutschland
Fand statt
Digital
Vom - Bis
25.11.2022 -
Von
Jan-Hendryk de Boer, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Am 25. November 2022 fand der erste einer losen Reihe von Zoom-Workshops zu Kompromissen im Mittelalter statt. Organisiert worden ist die Veranstaltung von Jan-Hendryk de Boer (Duisburg-Essen), Jessika Nowak (Wuppertal) und Shigeto Kikuchi (Tokio) in Kooperation mit dem Forschungsverbund „Kulturen des Kompromisses“. Ziel war es, das bislang vernachlässigte Thema der Rolle von Kompromissen aus verschiedenen Perspektiven zu erhellen. Wie das Eingangsreferat von JAN-HENDRYK DE BOER (Duisburg-Essen) zeigte, ist in der mediävistischen Forschung viel über die Bedeutung von Konsens als Mittel der Lösung politischer und sozialer Konflikte nachgedacht worden, ohne dass dabei aber immer die erforderliche begriffliche Präzision herrschte. Wenn in mittelalterlichen lateinischen Quellen von „consensus“ die Rede ist, dürfe das nicht umstandslos mit „Konsens“ im heutigen Sinne gleichgesetzt werden. Vielmehr decke der Quellenbegriff zahlreiche Arten und Weisen ab, Übereinkünfte herzustellen. Darunter fielen gemäß der heutigen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Terminologie, die etwa für das Forschungsprojekt „Kulturen des Kompromisses“ leitend ist, auch Einigungen, bei denen beide Seiten schmerzhafte Zugeständnisse machen, aber im Grundsatz bei ihren differierenden Positionen bleiben. Diese seien als Kompromisse zu unterscheiden von Konsensen, bei denen alle Beteiligten inhaltlich unter Revision ihrer Ausgangsansprüche übereinkämen. Schließlich gehöre zum mittelalterlichen Verständnis von „consensus“ auch die Mehrheitsentscheidung, die vom unterlegenen Part inhaltlich nicht gebilligt, aber ohne gewaltsamen Widerstand hingenommen werde. Für künftige Forschungen gelte es, diese verschiedenen Spielarten von „consensus“ in mittelalterlichen Quellen in den Blick zu nehmen.

Wie das aussehen könnte, zeigten die folgenden Beiträge: SHIGETO KIKUCHI (Tokio) untersuchte Verhandlungen und Kompromisse in der Karolingerzeit. Dabei zeigte er, inwiefern Tausch als Kompromissversuch gedeutet werden kann. In den Quellen finde sich hier zumeist die Rede von einer „convenientia“ zur Bezeichnung einer Vereinbarung zwischen zwei oder mehr Parteien. Besonders häufig werde dieser Ausdruck gebraucht, wenn von einer Kompensation durch die Partei gesprochen werde, die faktisch ihre Ansprüche durchgesetzt habe. Tausch als Gabe und Gegengabe sei eine Technik gewesen, um Rechte und Ehre der Beteiligten zu wahren, was wiederum Voraussetzung für eine gelingende und dauerhafte Konfliktregulierung gewesen sei. Anhand verschiedener Quellenbeispiele des 9. Jahrhunderts konnte Kikuchi zeigen, wie Urkunden Konflikte erzählten, um sie in einen Tauschhandel münden zu lassen, der jene gelöst habe. Einen Tausch einzugehen, habe sich dabei als wirksame Technik erwiesen, Kompromisse praktisch zu realisieren.

MARCEL BUBERT (Münster) widmete sich der im 11. und 12. Jahrhundert intensiv geführten Debatte über die Frage, ob Mönche predigen und lehren dürften. Patristische Gewährsmänner wie Hieronymus schienen eindeutig dafür zu sprechen, dass diese Tätigkeiten nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehörten. Unter mittelalterlichen Autoren fanden sie Zustimmung, aber auch vorsichtigen Widerspruch. Dabei konnte die Autorität der Kirchenväter nicht einfach ignoriert werden, zugleich war den veränderten Ansprüchen der Mönchsorden Rechnung zu tragen. Hier, so Bubert, habe sich angeboten, nach Kompromisslösungen zwischen konkurrierenden Geltungsansprüchen zu suchen, ohne diese inhaltlich einfach zu verwerfen. Eine Lösungsmöglichkeit bot die scholastische Methode, mit der solche Widersprüche in eine Lösung überführt werden konnten. Am Beispiel des Rufinus von Bologna zeigte Bubert, wie ein solches Kompromissangebot aussehen konnte: Differenziert wurde zwischen verschiedenen Arten von Mönchen, für die unterschiedliche Lehren galten. Zugleich wurden die Autoritäten historisiert: Indem deren Aussagen an spezifische kulturelle Geltungsbedingungen rückgebunden wurden, erschienenen sie für die hochmittelalterliche Moderne nur noch als eine mögliche Position, die für die eigene veränderte Lebenswelt nur relative Geltung beanspruchen konnte.

MASAKI TAGUCHI (Tokio) behandelte aus rechthistorischer Sicht das Rechtgebot im deutschen Spätmittelalter als Kompromiss vor dem Kompromiss. Damit stellte er die wichtige Frage nach den Vorbindungen von Kompromissen. Diese seien nicht selbstverständlich, sondern hätten ihrerseits Möglichkeitsbedingungen. Kompromisse seien in diesem Sinne mitunter auf vorausgehende Kompromisse angewiesen, um überhaupt realisiert werden zu können. Bei dem Rechtgebot handele es sich um das Angebot, sich einem Gericht zu stellen oder eine bestimmte Leistung zu erbringen, auf dass ein Rechtsstreit oder Gewalt vermieden würden. In der Forschung sei die Geschichte des Rechtsgebots bislang kaum behandelt worden. Entstanden sei es im späten 14. Jahrhundert, wie Taguchi anhand zahlreicher deutschsprachiger Quellen zeigen konnte. Die Akteure hätten mit ihrem Rechtgebot ihre Bereitschaft bekundet, einen Konflikt durch einen Kompromiss zu lösen. Das Rechtgebot habe sich dabei sukzessive als klar konturierte Praktik entwickelt, die somit als Technik allen Beteiligten bereitgestanden habe, um eine gewaltsame Eskalation zu vermeiden und in den Modus der Kompromissfindung zu wechseln. Das Rechtgebot als Kompromiss sei damit zu einer Voraussetzung für weitergehende Kompromisse geworden.

MARIKO JACOBY (Duisburg-Essen) warf zum Abschluss einen Blick in das frühneuzeitliche Japan und trug damit zum Anspruch der Veranstaltung bei, Kompromisse historisch und kulturell vergleichend zu untersuchen. Sie behandelte Einigungen und Vergleiche („naisai“) in der Edo-Zeit. Eine begriffsgeschichtliche Bestandsaufnahme leitete sie zu der Überlegung, inwiefern Zwang etwa durch eine intervenierende Obrigkeit, aber auch als Sachzwang durch natürliche Gegebenheiten Kompromisse ermöglicht oder zumindest beeinflusst habe. Naisai wurden als Technik vorgestellt, die Einigung in zivilrechtlichen Auseinandersetzungen ermöglicht hätten. Scheiterte eine Einigung auf lokaler Eben, sei es häufig zu einer Intervention der Obrigkeit gekommen, die die Beteiligten zu einer Kompromissfindung gebracht habe. Eingesetzt worden seien sie beispielsweise bei Streit um die Nutzung von Ressourcen. Ihre Überlegungen konkretisierte Jakoby anhand des 1799/1800 ausgetragenen Konflikts um den Bewässerungskanal Higashigawa Yōsui, in dem verschiedene Dörfer miteinander um die Wassernutzung stritten. Der Shogunatsmagistrat von Osaka habe eine Einigung angeordnet und damit die Aushandlung eines Kompromisses erzwungen. Nur so hätten auch zwei kompromisslos agierende Dörfer zur Kooperation gebracht werden können. Entgegen mancher theoretischer Position sei also der Rolle von verschiedenen Zwängen als Voraussetzung für die Suche nach Kompromissen künftig stärker zu berücksichtigen.

In den lebhaften, interdisziplinär geführten Diskussionen nach den Vorträgen zeigte sich durchweg die Relevanz des Themas. Kompromisse sind zweifellos ein wichtiger Gegenstand für die mediävistische Forschung, um mittelalterliche Gesellschaften zu verstehen. Sie finden sich dabei nicht nur auf dem Feld der Politik, sondern auch im Recht, der Wissenschaft oder bei Ressourcenkonflikten. Diese ersten Probebohrungen sollen am 03. Februar 2023 mit einem weiteren Zoom-Workshop fortgesetzt werden.

Konferenzübersicht

Jan-Hendryk de Boer (Duisburg-Essen), Jessika Nowak (Wuppertal), Shigeto Kikuchi (Tokio): Begrüßung

Jan-Hendryk de Boer (Duisburg-Essen): Kompromisse im Mittelalter erforschen. Einführende Überlegungen

Shigeto Kikuchi (Tokio): Verhandlungen und Kompromisse in der Karolingerzeit

Marcel Bubert (Münster): Dürfen Mönche predigen und lehren? Ja, aber… Kulturelle Bedingungen einer Kompromissbildung im 11./12. Jahrhundert

Masaki Taguchi (Tokio): Auf dem Weg zum Kompromiss: Rechtgebot im deutschen Spätmittelalter

Mariko Jacoby (Duisburg-Essen): Zwischen Kompromiss und Zwang: Einigungen und Vergleiche (naisai) bei Ressourcenkonflikten in der Edo-Zeit (1603–1868)

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