Katholizismus im Umbruch? Michael Kardinal von Faulhaber und die katholische „Ordnung“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Katholizismus im Umbruch? Michael Kardinal von Faulhaber und die katholische „Ordnung“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Kritische Online-Edition der Tagebücher von Michael Kardinal von Faulhaber (1911-1952) (IfZ München - Berlin); Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster
PLZ
80539
Ort
München
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
10.10.2022 - 11.10.2022
Von
Frederice Charlotte Stasik / Nicole Götzelmann, Ludwig-Maximilians-Universität München

Kardinal Michael von Faulhaber wurde 1869 geboren, bezeugte die Revolution als Erzbischof (ab 1921 als Kardinal) von München und Freising in Bayern, den Aufstieg der Nationalsozialisten, setzte sich im „Dritten Reich“ für die Belange der Kirche ein und erlebte das Nachkriegsdeutschland in Bayern unter amerikanischer Besatzung und die Gründung der Bundesrepublik, bevor er 1952 starb. Die Konferenz widmete sich ausgehend von Kardinal Faulhaber diesen politischen, gesellschaftlichen und theologischen Umbrüchen.

Einführend verortete HUBERT WOLF (Münster) die Tagung vor dem Fragenhorizont des DFG-Projektes „Kritische Online-Edition der Tagebücher von Michael Kardinal von Faulhaber (1911-1952)“ und verwies auf die Möglichkeit, aus diesen eine Innenperspektive Faulhabers zu gewinnen. Für Wolf stand fest, dass Faulhaber den Entwicklungsgedanken ablehnte und einen persönlichen Wandel ausgehend von der katholischen Naturrechtlehre ausschloss.

Das erste Panel eröffnete TILMAN DECKERS (München) mit seinen Thesen über die Haltung und politisch-theologische Positionierung Faulhabers zu den beiden Weltkriegen. Faulhabers Einstellung gegenüber Krieg und staatlicher Autorität blieb in den Jahren 1914 bis 1945 im Grunde konsistent: Krieg erschien Faulhaber – theologisch begründet durch das Gehorsamkeitsdogma des 4. Gebots – zunächst als eine legitime politische Option zur Friedenswahrung und -wiederherstellung. Infolgedessen sah Faulhaber den Ersten Weltkrieg nicht nur als gerechten Krieg an, sondern auch als Chance für den deutschen Katholizismus im Sinne eines Gottesgerichts über eine von der Moderne zermürbten katholisch-sittlichen Weltordnung. Dabei ist die Quellenlage zur Faulhabers Positionierung hinsichtlich des Ersten Weltkrieges wesentlich besser als zum Zweiten Weltkrieg: Die katholische Kirche stand allerdings insgesamt in einem eher ambivalenten Verhältnis zum NS-Staat. Die individuelle Wahrnehmung des Kardinals bezüglich des Kriegsleides und der „dämonischen“ Kriegsführung während des Zweiten Weltkrieges, auch durch seine Kriegsmüdigkeit bedingt, führte seinerseits zu einer friedlicheren Rhetorik, jedoch aber nicht zur Opposition gegenüber dem Nationalsozialismus, auch diese staatliche Obrigkeit war als gottgesetzt zu achten. So kam Deckers zur Beurteilung, dass Faulhaber seine Position als unpolitisch verstand und somit die politische Dimension seiner Position marginalisierte.

GERALD J. STEINACHER (Lincoln) schloss im Rahmen seines Beitrages nach 1945 an, basierend auf seinem aktuellen Forschungsprojekt über die Rolle des Vatikans bei der Fluchthilfe vor der alliierten Justiz (sog. Rattenhilfe) und die Haltung des Vatikans zu den Kriegsverbrechenprozessen – fußend auf den nun einsehbaren Archivalien des Vatikanisch Apostolischen Archivs. Der katholische Ansatz bestand generell in der Verurteilung von Rachehandlungen und in Vergebung gegenüber den Tätern mit dem durch die christlichen Werte der Vergebung und Barmherzigkeit geprägten Ziel, einen Schlussstrich unter die jüngste Vergangenheit zu ziehen. Fünf Punkte rückte Steinacher in den Fokus: das päpstliche Votum der Vergebung von Strafe zur Überwindung kriegerischen Übels und eine Ablehnung der „radikalen“ Lösung der Entnazifizierung als Einfallstor für den Kommunismus, Vorbehalte gegen die Nürnberger Prozesse, kirchliche Fluchthilfe nach Übersee sowie die kirchliche Diskreditierungskampagne gegen die Kriegsverbrecherprozesse. Weniger eindeutig positioniert sei die Rolle des Vatikans bezüglich des Umgangs mit einzelnen NS-Verbrechern einzuschätzen: Steinacher benannte dies als ein Spektrum, das von schützendem Eingreifen gegen Strafverfolgung bis zu aktiver Fluchthilfe reichte. Von ungemein wichtiger Bedeutung ist in Anbetracht dieser Positionen allerdings die Rolle der Opfer des Nationalsozialismus, die, wie Steinacher nachdrücklich betonte, in diesem Kontext keine Würdigung seitens der katholischen Kirchenführung erfuhren.

Im Anschluss an diese Einschätzungen der christlich-theologischen und politischen Handlungs- und Wertemaximen Faulhabers und der katholischen Kirche kommentierte – mit Verweis auf die religiösen Eigenlogiken – WIM DAMBERG (Bochum), der auf die nicht außer Acht zu lassende antisemitische Dimension der Rache-Rhetorik des Vatikans im Umgang mit den Kriegsverbrecherprozessen verwies. Damberg ergänzt zum Vortrag von Deckers, dass das traditionsgeschichtliche Motiv der Strafe Gottes für die Sünden des Volks (der Abfall von JHWH) als theologisches Begründungsmuster noch weit bis in die 1950er-Jahre diskutiert wurde. Paradox erscheine dies, da Kollektivschuld als Politikum seitens der Kirche verurteilt wurde. Eine nähere Auseinandersetzung mit der diesbezüglichen Position Faulhabers erscheint als lohnenswert.

Im Fokus des zweiten Panels stand der Ordnungs- und Hierarchiebegriff Faulhabers und die daraus folgenden Implikationen für seine Haltung zur demokratischen Staatsform zwischen Kaiserzeit und den ersten Nachkriegsjahren.

MORITZ FISCHER (München) führte Ordnung als begrifflich-biografischen Kern der Ideenwelt Faulhabers ein, der es vermag, Faulhabers Verhältnis zu politischen Systemen aufzuschlüsseln. Dabei stellte er eine starke Kontinuität der Leitidee der Ordnung im Denken Faulhabers fest. Der Ordnungsbegriff ließe sich über drei Dimensionen erschließen: Ordnung sei zum einen als Stabilisierungsversuch der Moderne in Opposition zum „modernen“ Sittenverfall und der schwindenden christlichen Durchdringung der Gesellschaft anzusehen. Zum anderen ergebe sich der Ordnungsbegriff in der konfessionellen Separierung und der Einheit des Katholizismus. Des Weiteren, abgeleitet von seinem politischen Ordnungsbegriff, sah Faulhaber einen Bruch in der Revolution 1918 und sah die darauffolgende demokratische Staatsform als Chaos, die keine Ordnung durch Gehorsam ermöglichen könne und als Verstoß gegen das 4. Gebot. In diesem Ordnungs- und Sittlichkeitsbegriff und anhand Faulhabers Liberalisierungskritik machte Fischer den gemeinsamen Nenner zum NS-Regime aus, der einen „modus vivendi“ ermöglichen konnte. Daraus ergebe sich auch, dass Faulhaber in der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten keinen Bruch, sondern einen Fortschritt in der Wiederherstellung von Sittlichkeit, Antibolschewismus und Antiliberalismus sah. Im Gegensatz zu den gängigen Forschungspositionen sah Fischer Faulhabers Ordnungsidee nicht in seiner Rolle als sozialer Aufsteiger begründet, sondern stets in seiner dörflichen Herkunft verhaftet.

Anhand von Beispielen aus den Tagebüchern Faulhabers illustrierte SUZANNE BROWN-FLEMING (Washington) den Umgang Faulhabers mit jüdischen Displaced Persons, die in katholischen Münchner Familien, Ordensklöstern oder Wohnheimen untergebracht wurden. Die Online-Edition der Faulhaber-Tagebücher macht in dieser Angelegenheit ebenso eine aufschlussreiche Quelle für das Verhältnis zu Kardinal Aloisius Muench aus, der seit 1946 als Apostolischer Visitator in München für Flüchtlingsangelegenheiten zuständig war. Brown-Fleming konstatierte ein beiderseitiges Unvermögen, die Fehler und Unterlassungen der katholischen Kirche während und nach dem Krieg und der Shoah aufzuarbeiten. Inwieweit Muenchs vorurteilbehaftete Einstellung gegenüber Juden, denen er Rachepläne an den Deutschen nachsagte, in ihren in den Tagebüchern dokumentierten Gesprächen auch auf Faulhaber abfärbte beziehungsweise übereinstimmte, könne nur schwer beurteilt werden. Doch gingen Faulhaber und Muench eher auf die auf katholischer Seite, unter anderem von Geistlichen, geäußerten Bedürfnisse im Umgang mit den Displaced Persons in München ein.

Anschließend führte THOMAS SCHLEMMER (München) in das parteipolitische Denken Faulhabers ein und untersuchte die Verbindung zwischen der katholischen Kirche und der CSU. Die Gründung der CSU als symbiotisches Verhältnis zwischen Partei und Kirche sei nur unzureichend bearbeitet, Faulhaber biete sich hier als Sonde an. Dabei bemerkte Schlemmer einen doppelten Einfluss: einerseits im Kontext der polyzentrischen Gründung der CSU, andererseits im Kontext von Personalfragen wie auch der Kommunikation zwischen dem Episkopat und den Führungsfiguren der selbsternannten „Staats- und Ordnungspartei“ des Freistaats. Zugleich aber nahm Faulhaber explizit Abstand davon, parteipolitische Personalentscheidungen direkt zu beeinflussen. Eine scheinbare Passivität des Kardinals in derartigen Fragen lasse sich jedoch durch die Funde in seinem Nachlass nicht weiter annehmen, so könne die parteipolitische Präferenz zugunsten der CSU als unausgesprochene Unterstützung verstanden werden. Damit blieb Faulhaber eher „ein Akteur im Hintergrund“. Die oberflächliche Befürwortung der politischen Zusammenarbeit von katholischen und evangelischen Christen in einer Sammelpartei sei einzuschätzen als ein pragmatisches Bündnis gegen Sozialdemokratie und Kommunismus und fuße in der gemeinsamen christlichen Erfahrung mit NS-Diktatur und Kirchenkampf. Nach Schlemmer betrachtete Faulhaber die CSU als die bestmögliche Option, um eine katholische beziehungsweise christliche Position in den politischen Neubeginn nach 1945 einzubringen.

ELKE SEEFRIED (Aachen) warf in ihrem darauffolgenden Kommentar die Frage auf, ob sich aus Faulhabers Ordnungs- und Politikverständnis nicht eine zwangsläufige Demokratiegegnerschaft attestieren lassen könne. Zur Beurteilung erscheine insbesondere ein Vergleich mit weiteren Bischöfen sinnvoll. Auffällig bei den Überlegungen zu Faulhaber sei, dass dieser einen historischen Ordnungsgedanken auf Basis der Romantisierung der mittelalterlichen Ordnungsidee, sowohl der Reichseinheit als auch der ständischen Idee, aufgreife und nun gegen die parlamentarische Demokratie anwende. Zudem konzentrierte sich Faulhaber nach 1933 eher auf die Differenz zwischen Getauften und Nicht-Getauften und weniger auf die zwischen Christen und Juden. Darüber hinaus reichte Seefried die Frage in das Plenum, ob in Anbetracht der Abneigung gegenüber dem Entwicklungs- und Fortschrittsgedanken seitens Faulhabers dennoch Lernprozesse festzustellen sind. Solche können etwa in Faulhabers Zustimmung zu einer bikonfessionellen Partei gesehen werden. Mit Blick auf Faulhabers zurückhaltenden Umgang mit jüdischen Displaced Persons blieben diese Lernprozesse jedoch aus.

OLAF BLASCHKE (Münster) arbeitete unter Rezeption der Homogenitätsthese der sozialen Eckdaten von Bischöfen von Antonia Leugers die Gemeinsamkeiten der Bischöfe im Kontext katholischer Ordnungsschemata heraus und widmete sich der Frage, inwieweit Faulhaber ein Repräsentant dieses Amtskollegenmilieus sei. Dazu griffe er auf zwei Parameter zurück. Zunächst konzentrierte er sich auf vier ordnungsstiftende Deutungselemente: 1. Entchristlichung (früher-jetzt), 2. Dualismus (wir-sie) zwischen zwei Weltanschauungen, 3. Opferrolle (Opfer-Täter) einer Christen-/ Kirchenverfolgung, 4. Opposition (Widerstand-Kollaboration) der katholischen Kirche. Anschließend periodisierte er diese über folgende Zeitphasen: 1. Weimarer Zeit, 2. Frühphase des NS-Regimes, 3. Ernüchterung bis 1945, 4. 1945-1950: a) Umgang mit der NS-Vergangenheit und b) Bewältigung der Gegenwart. Blaschke zählte die Kategorie Antisemitismus bewusst nicht zu den Deutungselementen, da diese nicht das tägliche Denken der Bischöfe bestimmt habe und bewertete dies als ein von den Bischöfen größtenteils mit Desinteresse belegtes – und nach 1945 als ein marginalisiertes – Nebenthema. Nach diesem erleuchtenden Durchgang durch die verschiedenen Kategorien schlussfolgerte Blaschke, dass Faulhaber als Mensch und Kleriker ein eigenes Profil besaß, auf das sowohl Eigeninitiativen wie die Enzyklika „Mit brennender Sorge“, aber auch die zurückhaltende Kritik gegen die Alliierten zurückzuführen sei. Zugleich aber wurde in dem Ordnungsschema deutlich, dass Faulhaber bezüglich der vorgestellten Kategorien ein Vertreter seines Amtskollegenmilieus war und kein Sonderfall.

PHILIPP GAHN (München) fragte mit dem Blick auf die Mikroebene des katholischen Münchens auf Basis des Commonsense-Begriffs von Clifford Geertz nach eben den selbstverständlichen Grundannahmen als dem der Lehre vorrausgehenden. Gahn sah die Bruchstelle eines solchen Commensense in dem Autoritäts-Konzept der katholischen Kirche. Gerade im Kontext von Faulhabers Besuch auf dem Obersalzberg bewertete Gahn Faulhabers Bemühungen um einen „modus vivendi“ mit Hitler als einen Versuch die jeweiligen Kompetenzbereiche einerseits der weltlichen Autorität, anderseits der kirchlichen Autorität abzustecken. Ihm lag viel daran, den Dialog mit dem Regime nicht abreißen zu lassen, strahlte aber dadurch eine Uneindeutigkeit der Botschaft aus. Faulhabers Strategie – ein Versuch, die Gesprächsbasis mit den staatlichen Autoritäten nicht zu verlieren – führte durch die unterschiedliche Interpretation dieses „modus vivendi“ allerdings zu innerkirchlichen Schwierigkeiten, unter anderen basierend auf Differenzen im Verfassungs- und Politikverständnis. Exemplarisch für solche unterschiedlichen Interpretationen, stellte Gahn zwei Positionen aus der Erzdiözese München und Freising vor: Robert Linhardt (1895-1981), ein Moraltheologe, der sich zugunsten des NS-Regimes radikalisierte und Emil Muhler (1892-1963), Münchner Stadtratsabgeordneter für die BVP und Vorsitzender der Zentralstelle für die Katholische Aktion, der die Legalität der Machtübernahme des NS-Regimes hinterfragte.

Ausgehend von seiner Feststellung, dass Hirtenbriefe als Quelle zum Zugang zu bischöflichen Auffassungen zeitgenössischer Probleme zu selten berücksichtigt würden, verglich MARTIN RENGHART (Julbach) die 1914 bis 1919 veröffentlichten Hirtenbriefe der Bischöfe Faulhaber, Bertram und Hartmann. Bei allen Verfassern ließen sich konservativ-paternalistisch und monarchistische Einstellungen ausmachen, doch insbesondere Faulhabers Hirtenbriefe eigneten sich als Quelle aufgrund ihrer sprachlichen und inhaltlichen Klarheit. Renghart konstatierte, dass die zeitgenössische Wirkung der Hirtenbriefe bei Hörern und Lesern, insbesondere bei Bertram zu gering eingeschätzt werde. Ab 1933 würde sich das Verhalten der deutschen Bischöfe weiterhin sehr ähneln, während Differenzen eher in der Zeit des Ersten Weltkrieg festzustellen wären. Renghart zeichnete auf Basis seiner Hirtenbriefe ein positives Bild Faulhabers als eines besonders einfühlsamen Bischofs. In der das Panel abschließenden Diskussion wurden Rengharts Bewertungen bezüglich der zeitgenössischen Wirkung der Hirtenbriefe ausgiebig debattiert.

Dem katholischen Antikommunismus widmete sich ANNE HULTSCH (Wien) aus einer osteuropäischen Perspektive. Basierend auf den katholisch-orthodoxen Unionismus-Bestrebungen in Tschechien könne die gemeinsame Sorge um das Auskommen gläubiger Christen in Sowjetrussland als Ausgangspunkt für den katholisch-orthodoxen Antibolschewismus angesehen werden. Die Referentin stellte vor diesem Kontext antibolschewistische Veröffentlichungen und Predigten Faulhabers, abgedruckt in der christlichen Emigrationspresse Tschechiens, vor. Dabei stellte sie fest, dass diese übersetzt, kommentiert sowie zeitnah und an prominenter Stelle publiziert worden sind wie auch eine generell häufige Erwähnung Faulhabers. Das antibolschewistische Wirken und Schreiben des deutschen Bischofs diente laut Einschätzung der Referentin in Tschechien als Rechtfertigung für ein Einwirken der Kirche auf das öffentliche Leben. Unklar sei bislang jedoch, wie Faulhaber auf die Veröffentlichung seiner Schriften in Tschechien reagierte.

KLAUS UNTERBURGER (München) postulierte vor dem Hintergrund dieser Beiträge einen „Überlebenskampf“ der katholischen Kirche in Deutschland seit dem Ende der Monarchie und der einsetzenden politischen Krisen. Deutlich wurde, dass Rollen- und Feindbilder bei Faulhaber stark präsent sind. Faulhabers Reflexionen zu diesem Wandel ließen die Frage bisher offen, ob er sich nun als mobilisierender „Volksbischof“ neudefiniert habe und somit als ein modernisierter Bischoftyp, welcher sich den Herausforderungen seiner Zeit anpasste. Ebenso blieb die Frage ungeklärt, was die exakten gewissensbegrifflichen Gründe für seine offen ablehnende Haltung gegenüber der Republik und seiner Einstellung zum Nationalsozialismus waren.

Das vierte Panel zu Fragen der Geschlechterordnung im Katholizismus leitete SUSANNE WANNINGER (München) mit ihrer Mikrostudie zur Regensburger Diözesansynode von 1927 ein und untersuchte das Frauenbild der katholischen Obrigkeit und inwieweit der neue Zeitgeist des 20. Jahrhundert auch diese ländlichen Regionen betraf. Sie beschrieb, wie lokale Beschwerden durch Provinzgeistliche über zeitgenössische androgyne Damenmoden, die Zugänglichkeit von Geburtenregelung und über „unweibliche“ Frauensportarten an die Bistumsleitung herangetragen wurden. Zwischen den ausnahmslos männlichen Diözesansynodenteilnehmern kam es wahrscheinlich zu keiner bewussten Auseinandersetzung mit dem Frauenbild, sondern man hielt an dem – an der Mutter Gottes orientierten – idealen katholischen Frauenbild fest. Die Entstehung des Verbandskatholizismus für junge Mädchen sei im Kontext einer Abwehrhaltung gegenüber Neuerungen zu sehen. Die lokalen Einsprüche hätten zudem zur Etablierung eines eigenen Diözesansekretariats geführt, das eigens mit Frauenangelegenheiten betraut war.

Krankheitsbedingt wurde der Vortrag von FRANZISKA NICOLAY-FISCHBACH durch Moritz Fischer in einer Kurzfassung vorgestellt. Ausgangpunkt waren die in den Tagebüchern Faulhabers fast täglich notierten Besucherinnen, die nicht selten im Zusammenhang mit Engagement in katholischen Frauenlaienvereinen standen. Zugleicht stand dieser rege Kontakt mit verschiedenen Frauen auf unterschiedlichen Ebenen im Kontrast zu Faulhabers traditionellen Frauenbild sowie den Klagen über die Sittenlosigkeit und Geburtenrückgang, wodurch sich ein eher ambivalentes Gesamtbild ergebe.

KIRSTEN HEINSOHN (Hamburg) kommentierte und verwies auf das Desiderat der Auseinandersetzung mit Männlichkeitsbildern im Katholizismus. Als erkenntnisversprechend warf Heinsohn die Frage nach Geschlechterordnungen in den verschiedenen sozialen Gruppen sowie die Frage nach der tatsächlichen Praxis dieser auf. Zudem stellte Heinsohn die These auf, dass Faulhabers Wandel hinsichtlich Geschlechterordnungen im Zusammenhang damit stehe, dass Faulhaber den Frauenvereinskatholizismus als Mittel zum Zweck sah, um der Entchristianisierung entgegen zu wirken. Der Klerus kam diesbezüglich in Bewegung, da die Geistlichen sich im Alltag damit konfrontiert sahen, doch die Kirchenleitungsebene betraf dies nur marginal. In der anschließenden Diskussion wurde gerade von Moritz Fischer Faulhabers Rolle als Seelsorger für Frauen, aber auch mit Blick auf Verbandsfragen betont. Elke Seefried hob Faulhabers Engagement im Kontext des Frauenwahlrechts und des Frauenstudiums hervor.

Die von ANDREAS WIRSCHING (München) geleitete Abschlussdiskussion stellte einerseits die Individualität Faulhabers gemeinsam mit dem Typus des charismatischen Volksbischofs in den Vordergrund, zugleich aber auch seine Verhaftung als homo theologicus. Andererseits sticht bei der Betrachtung Faulhabers nach 1918 der Ordnungsgedanke hervor. Die Kontinuitätsfrage bezüglich Faulhabers Denken stellt sich auch generell im Kontext des bayrischen Episkopats bezüglich gesellschaftlicher Brüche. Eine Annäherung an die Person kann nur aus mehreren Perspektiven gelingen, um seine politischen, theologischen und biografischen Verflechtungen wie auch sein eigenes Amtsverständnis zwischen Ordnung und Kontinuität würdigen zu können. Dabei beschrieb Wirsching Faulhaber als einen Bischof und Kardinal zwischen Tradition und Moderne. In der Auseinandersetzung mit der Person Faulhabers hat sich im Verlauf dieser Tagung gezeigt, dass die Kenntnis über theologische Traditionslinien und Erklärungsmuster wegweisend sind, um Faulhaber verstehen zu können.

Konferenzübersicht:

Panel I: Neuordnung des Gewissens? Die katholische Kirchenführung im Umgang mit Schuld und Sühne
Moderation: Wim Damberg (Bochum)

Tilman Deckers (München): Gewissen und Neuordnung. Michael Kardinal von Faulhaber nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg

Gerald J. Steinacher (Lincoln): Vergeben und Vergessen? Reaktionen der katholischen Kirchenführung zu Nürnberger Prozessen und Entnazifizierung 1945-1955

Panel II: Faulhaber und die politische Neuordnung im Nachkriegsdeutschland
Moderation: Elke Seefried (Aachen)

Moritz Fischer (München): Ordnung, Hierarchie – Demokratie? Michael Kardinal von Faulhaber, das Ordnungsdenken und sein Verhältnis zur Demokratie

Suzanne Brown-Fleming (Washington): Nachkriegsrechnung: Kardinäle Michael Faulhaber und Aloisius Muench, 1946-1952

Thomas Schlemmer (München): Faulhaber und die CSU. Christliche Demokratie und katholische Kirche im ersten Nachkriegsjahrzehnt

Abendvortrag: Olaf Blaschke (Münster): Ein Bischof wie andere? Faulhaber als Repräsentant seines Amtsbrüdermilieus

Panel III: Christliche Weltanschauung in der „Zeit der Ideologien“
Moderation: Klaus Unterburger (München)

Philipp Gahn (München): „Autorität“ im Kampf der Weltanschauungen

Martin Renghart (Julbach): Der politische Wandel nach dem Ersten Weltkrieg in den Hirtenbriefen der deutschen Bischöfe Faulhaber, Bertram und Hartmann“

Anne Hultsch (Wien): Unionismus und Antibolschewismus – zwei Seiten einer Medaille?

Panel IV: Geschlechterordnungen im Katholizismus
Moderation: Kirsten Heinsohn (Hamburg)

Franziska Nicolay-Fischbach (München): Michael Kardinal von Faulhaber und die Frauen

Susanne Wanninger (München): Die Regensburger Diözesansynode von 1927 und das Frauenbild der katholischen Obrigkeit

Abschlussdiskussion
Leitung: Andreas Wirsching (München)

Redaktion
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