Das Panel „Fragile Fakten oder faktische Fragilität? Deutsche Entschädigungen nach 1945 in Theorie und Praxis“ schloss an jüngere Forschungsfragen nach dem Verhältnis von Wahrheit und Wiedergutmachung an und brachte theoretische Überlegungen mit empirischen Beispielen zusammen. Das Panel bestand aus zwei stärker theoretisch akzentuierten Beiträgen von Constantin Goschler und Daniel Siemens sowie drei Vorträgen von Sheer Ganor, Anna Corsten und Iris Nachum, die sich auf innovative Weise empirischen Beispielen widmeten. Die stärker empirischen Beiträge des Panels nahmen sich vor allem der Frage nach konkreten Strategien von Holocaustüberlenden an, Entschädigungsleistungen zu erhalten, verwiesen dabei aber auch immer auf theoretische Überlegungen.
Mit einer „Epistemologie der Wiedergutmachung“ befasste sich CONSTANTIN GOSCHLER (Ruhr-Universität Bochum). Er ging der Frage nach, wie sich faktisches Wissen gegenüber der Wiedergutmachung in der Nachkriegszeit verhielt. Die Politik der Wiedergutmachung, getragen vom Bundesfinanzministerium, beschrieb er als „inkrementalistisches Verfahren“, das auf Änderungen im Konzept der NS-Verfolgung reagierte, sei es durch neu bekannt gewordene Fakten oder aber eine Veränderung des Interpretationsrahmens zum Beispiel durch Forderungen anderer Opfergruppen wie im Falle der Zwangsarbeiter:innen im Deutschen Reich. Dieser „bürokratisch-legalistische Ansatz des Bundesfinanzministeriums“ wurde nach 1990 in Frage gestellt, als US-Gerichte nach einer zivilrechtlichen Logik nach den Gewinnen von angeklagten Firmen fragten, die von nationalsozialistischen Verbrechen profitiert hatten.
SHEER GANOR (Minnesota) befasste sich mit den Praktiken der transnationalen Beweissammlung, Kommunikation und der Herausbildung gemeinsamer Narrative deutsch-jüdischer Antragsteller:innen im Wiedergutmachungsverfahren, womit sie die theoretischen Überlegungen Goschlers auf eine empirische Basis stellte. Ausgehend vom Appell von Julius Preuss, der 1940 nach Südamerika geflüchtet war, bereits in Kriegszeiten Material für spätere Ansprüche zu sammeln, zeigte sie anhand mehrerer Beispiele, wie die Wiedergutmachung „eine administrative Notwendigkeit für deutsch-jüdische Antragsteller:innen schaffte, sich mit Orten, Menschen und Vergangenheiten zu verbinden“. Dabei zeigte sie, dass sich Antragsteller:innen und Zeug:innen ihre Aussagen so tätigten, dass sie mit der deutschen Verwaltungs- und Legalsprache im Wiedergutmachungsprozess zusammenpassten. In Richtung dieser Einpassung von Aussagen in die Form des Verfahrens wurde auch von beteiligten Rechtsanwält:innen geraten, um die Erfolgschancen des Verfahrens zu erhöhen. Im Sinne der Terminologie Goschlers kann der Befund von Ganor als Anpassung an die bürokratische und rechtliche Epistemologie der Wiedergutmachung interpretiert werden.
Auch der Vortrag von ANNA CORSTEN (Jena) lässt aufseiten der bayerischen Verwaltung eine „Epistemologie der Verfolgung“ erkennen, die sich vor allem am Inkrafttreten der Nürnberger Rassegesetze am 15. September 1935 orientierte, Perspektiven auf eine Verfolgung auf extralegaler Grundlage aber entweder aus Gründen der juristischen Eindeutigkeit oder im eigenen Interesse außer Acht ließ. Ihr Fallbeispiel hierfür war der Wiedergutmachungsprozess der Erben Tuchmann, die Rückerstattung für ihre vor diesem Datum veräußerten Grundstücke (die für das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg benötigt wurden) beantragten. Die Verwaltungsbeamten argumentierten im Prozess, dass es sich nicht um einen Zwangsverkauf gehandelt habe und dieser auch ohne Verfolgungsmaßnahmen stattgefunden hätte. Daher sei nun der Staat Bayern der Eigentümer. Die Wiedergutmachungskammer strebte einen Vergleich an und sprach die Grundstücke dem bayerischen Staat zu, verpflichtete diesen aber zu einer Abfindung der Wiedergutmachungsansprüche, die an Bayern abgetreten wurden. Zu einer Anerkennung des Zwangsverkaufes oder diskriminierender Maßnahme vor entsprechender Gesetzeslage kam es allerdings nie, vielmehr mussten die Erben in den folgenden Jahren Beweise vorbringen, dass sie die Reichsfluchtsteuer bezahlt hätten, da ansonsten Bayern diese einbehalten würde – ein Beweis, den es aufgrund der Bedingungen von Flucht nicht mehr gab. Auf Ebene der historischen Forschung unterstreicht der Vortrag, dass diese sich noch mehr den Personen und Perspektiven der Bürokratie zuwenden sollte, die die Diskriminierungen aus der NS-Zeit im Wiedergutmachungsverfahren fortschrieben.
Eine neue Perspektive auf die Lastenausgleichsverfahren entwickelte IRS NACHUM (Jerusalem) in ihrem Vortrag, der den Fall eines Lastenausgleichsantrags des nach 1945 vertriebenen sudetendeutschen Unternehmers Rudolf Laurer behandelte. Laurer verlangte Entschädigung für eine Ziegelfabrik, die zuvor im Besitz des jüdischen Unternehmers Robert Reiser gestanden hatte. Im Kern ging es um die Frage – ganz ähnlich zu jener im Vortrag von Anna Corsten – zu welchem Zeitpunkt die Fabrik in Laurers Eigentum übergegangen war, konkret wem diese am 1. Oktober 1938, dem Einmarsch der Wehrmacht ins Sudetenland, gehört habe. Im Prozess stellte Laurer die Eigentumsübertragung von Reiser als „untadeliges Geschäft“ dar: Den Erwerb einer seit 1930 stillgelegten Ziegelfabrik zu einem geringen, bar entrichteten Kaufpreis, das just am 1. Oktober 1938 in Prag abgeschlossen wurde. Die Erben Reisers stellen 1960 ebenfalls einen Antrag auf Lastenausgleich, bekamen allerdings die Mitteilung, dass sie nicht antragsberechtigt seien, da die Veräußerung freiwillig erfolgt sei. Die Behörde tendierte – auch aufgrund der fehlenden Beweise seitens der Erben Reiser – dazu, Rudolf Laurer Glauben zu schenken, obwohl auch dieser seinem ursprünglichen Antrag keine schriftlichen Beweise, sondern lediglich unvollständige Zeugenaussagen beifügen konnte. Erst ein vom Anwalt der Reisers beigebrachter Grundbuchauszug, der einen Verkauf erst im Juni 1939 belegte, veranlasste das Ausgleichsamt zu Nachfragen bei Laurer. Der Fall Laurer gegen Reiser sei insofern exemplarisch, als dass er die Betrugsversuche von Ariseuren in der Nachkriegszeit zeigte, die aufgrund personaler Netzwerke und Beweisnot der früheren Eigentümer in der Lage waren, auf Basis falscher Fakten und Zeugnisse Lastenausgleichzahlungen zu erhalten, ohne dass sie dafür strafrechtlich belangt wurden.
DANIEL SIEMENS (Newcastle) untersuchte unter Rückgriff auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns die Glossen von Walter Schwarz in der Zeitschrift „Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht“ (RzW; erschienen von 1949 bis 1981) in Hinsicht auf die „Möglichkeiten und Grenzen der Kritik an der deutschen Wiedergutmachung“ sowie den Einfluss jener auf den politischen Diskurs sowie die rechtliche und administrative Praxis. Mit diesem Vortrag wendete sich Siemens dem innerjuristischen Diskurs über die Wiedergutmachungsgesetzgebung zu und den Einfluss, den dieser auf politische Diskussionen hatte. Leitend waren die von Luhmann entwickelten Konzepte der „Zweckprogrammierung“ und „konditionalen Programmierung“, nach denen Entscheidungen in politischen Systemen oder Organisationen getroffen werden. Kritik gegen die Wiedergutmachungsgesetzgebung könnte – im Falle der Zweckprogrammierung – im Falle des Ausbleibens gewünschter Folgen immer geäußert werden, im Falle der konditionalen Programmierung sei aber nur eine Kritik desjenigen möglich, der die Regelung erlassen habe und einzelne Entscheider seien der Kritik enthoben. Entscheidenden Einfluss auf die Kritik am Wiedergutmachungsrecht hatte die Übernahme der Schriftleitung durch Walter Schwarz im Jahr 1957. Hatte bis dahin die Kritik am Wiedergutmachungsrecht vor allem auf die konditionale Programmierung gezielt (so zum Beispiel durch die Kommentierung und Kommunikation wichtiger rechtssetzender Entscheidungen), eröffneten seine Glossen die Möglichkeit einer „justizkonformen Justizkritik“, die auch Kritik an der Zweckprogrammierung des Wiedergutmachungsrechts ermöglichte. In einer seiner ersten Glossen kritisierte er unter anderem den Umgang mit der Beweisnot der Antragsteller:innen, von dem bereits eindrucksvoll der Vortrag von Iris Nachum zeugte, richtete die Kritik aber auch an eine Anwaltschaft, die mit den Verfahren auf schnellen Gewinn aus sei. Weiterhin kritisierte er, dass die ausufernde Bürokratie der Wiedergutmachung gerade älteren Antragsteller:innen die Gerechtigkeit verwehrte. Den Einfluss der RzW auf den politischen Diskurs sieht Siemens in der Kritik an der konditionalen Programmierung, indem Aufklärung über die nationalsozialistische Verfolgung für Anwält:innen Informationen im Falle von Beweisnot zur Verfügung stellte. Auf der anderen Seite hätte wäre aufgrund dieses Ansatzes die Kritik an der Zweckprogrammierung zu kurz gekommen, da das Ziel gewesen sei, mit der Kritik Anerkennung innerhalb der Jurist:innen zu finden, was gewisse Handlungsformen ausschloss.
In der Diskussion wurde deutlich, dass ein großes Interesse und ein großer Forschungsbedarf im Bereich der Praktiken der Wiedergutmachung bestehen. Ein größerer Komplex der Diskussion waren Fragen nach den Praktiken von Akteuren, wie den „Entscheidern“ in der Lastenausgleichs- und Wiedergutmachungsbürokratie, den beteiligten Rechtsanwälten und den Netzwerken von Ariseuren. Die Sachbearbeitenden in den Ämtern waren zum Beispiel nicht juristisch oder historisch geschult, auch spielte der direkte Zugang zum Amt eine große Rolle: während Ariseure vor Ort waren und direkt vorsprechen konnten, waren die jüdischen Antragstellenden, die häufig im Ausland lebten, auf den Korrespondenzweg angewiesen.
Die angeregte Diskussion im Panel konnte sich vor allem deswegen entfalten, da die Beiträge in hervorragender Weise ineinandergriffen und enge Verbindungen zueinander aufwiesen. So schlug der anfängliche Beitrag Goschlers theoretische Schneisen in das Thema des Panels, die durch die empirischen Befunde von Ganor, Corsten und Nachum gestützt wurden und damit zur weiteren theoretischen Durchdringung beitrugen. Vorträge und Diskussion vermochten hier zu zeigen, welche Erkenntnisse über die Beschäftigung mit Verwaltungshandeln und den Entscheidern zutage kommen können. Die Frage nach dem Einfluss von Verwaltungs- und Justizkritik durch Jurist:innen auf die politische Debatte über die Wiedergutmachung – aufgeworfen durch den letzten Vortrag von Siemens – verdient hier gewiss noch mehr Aufmerksamkeit.
Ob es für dieses Panel des Mottos des Historiker:innentags „Fragile Fakten“ bedurft hätte, mag dahingestellt bleiben, vielmehr schien es in den Wiedergutmachungs- und Lastenausgleichsverfahren darum zu gehen, die einzelnen Fälle von Verfolgung unter die feststehende Tatsache der NS-Verfolgung zu subsumieren – was im Spannungsfeld von bürokratischer Logik und Beweisnot der Antragstellenden schwer zu leisten und vermutlich durchaus im Sinne der Verwaltung war (wie das Beispiel Nachums zeigt). Eine faktische Fragilität des Wunsches nach Gerechtigkeit für Verfolgte kann man so vor allem aufseiten der deutschen Verwaltung verorten.
Sektionsübersicht:
Sektionsleitung: Daniel Siemens (Newcastle) / Iris Nachum (Jerusalem)
Constantin Goschler (Bochum): Die Epistemoloigie der Restitution: Verbrechen, Justiz und Wahrheit in der deutschen Wiedergutmachung
Sheer Ganor (Minnesota): In Validation of Their Pasts: Assembling Facts and Making Memory in Reparation Claims
Anna Corsten (Jena): Deutsche Bürokratie, nationalsozialistische Vergangenheit und brüchige Fakten: Restitutionsfälle des Vermögens des Zweckverbandes Reichsparteitag Nürnberg
Iris Nachum (Jerusalem): „Ein Netz aus Lügen?“ Entschädigungsanträge von vertriebenen „Ariseuren“
Daniel Siemens (Newcastle): Historische Gerechtigkeit auf dem Rechtsweg? Die Zeitschrift „Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht“ (1949-1981) und ihr Einfluss auf die deutsche Wiedergutmachung