HT 2023: Russlands Krieg gegen die Ukraine. Von der Stabilität zurück zur Fluidität der Staatsgrenzen – europäische Geschichte als Scherbenhaufen

HT 2023: Russlands Krieg gegen die Ukraine. Von der Stabilität zurück zur Fluidität der Staatsgrenzen – europäische Geschichte als Scherbenhaufen

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Heidi Hein-Kircher, Wissenschaftsforum, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung - Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Marburg

Der Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 markierte eine über den postsowjetischen Raum hinausgehende Zäsur. Bis dahin gab es trotz der russischen Annexion der Krim und des von Russland geführten Kriegs in der Ostukraine seit 2014 immer noch Hoffnungen, auf eine Eingrenzung oder ein Abklingen des territorialen und militärischen Konflikts zwischen dem größten und dem zweitgrößten Staaten Europas. Verstöße gegen die von der Sowjetunion mitinitiierten und von Russland weiterhin formal getragenen Grundsatzdokumente der Vereinten Nationen (UNO) und Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind trotz eskalierender Gewalt erfolgt. Diese Regelbrüche werden gleichzeitig sowohl mit neo-imperialen Geschichtsbildern legitimiert als auch paradoxerweise mit dekolonialen Versatzstücken des Konzepts einer multipolaren Welt getarnt und die international vereinbarte Unveränderlichkeit von Staatsgrenzen mit geradezu beliebig konstruierten Szenarien vermeintlich außer Kraft gesetzt. Daher führte der Beginn des Angriffskrieges letztlich auch zur Wirkungslosigkeit der regelgeleiteten Prinzipien von Koexistenz der Blöcke seit 1945 und vor allem das grundlegende Prinzip der territorialen Integrität der europäischen Staaten in der europäischen Nachkriegsordnung. Die von Bundeskanzler Scholz im Februar 2022 postulierte „Zeitenwende“ bezog sich auf einen Scherbenhaufen europäischer (und deutscher) Außenpolitik.

Ausgehend von diesem aktuellen Hintergrund diskutierten die teilnehmenden Panelist:innen die Historizität des – so die Ausgangsthese – relativ jungen Konzepts fester und unveränderlicher Staatsgrenzen im (trans-)regionalen und europäischen Kontext aus verschiedenen disziplinären und regionalen Perspektiven.

STEFAN ROHDEWALD (Leipzig) griff in seinem Eingangsstatement die Frage auf, inwiefern sich das Konzept internationaler Grenzen in Auflösung befände. Hierbei nutzte er den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine als Ausganspunkt, diskutierte aber die Frage an Hand der Bildung Transnistriens (Eigenbezeichnung: Pridnestrowische Moldauische Republik) 1990. Dieses wurde von Russland gestützt aus Moldawien herausgebrochen, ist de facto von diesem unabhängig, wird aber bis heute international nicht anerkannt. Rohdewald sah in der Bildung Transnistriens den Anfang der Infragestellung von Grenzen in Europa, insbesondere im postsowjetischen Raum. Der Georgienkrieg 2008 und schließlich die Annexion der Krim und der Angriff Russlands auf die Ostukraine seien daher weitere Eskalationsstufen. Er verglich sie mit den Pufferzonen, wie sie in der Frühneuzeit vor der Einrichtung linearer Grenzen auch in diesen Gebieten üblich waren. Sie seien aber, wie der Angriff insgesamt, mit dem gegenwärtigen Regelwerk von OSZE und UNO grundsätzlich aber unvereinbar.

GUIDO HAUSMANNS (Regensburg) Statement über die Geographie und Grenzen der Ukraine betonte die Bedeutung des Ersten Weltkriegs und des anschließenden Staatsgründungprojekts für das gegenwärtige ukrainische historische Bewusstsein. An der Konzeption eines ukrainischen Territoriums und dessen Legitimierung hätten ukrainische Geografen wie Stepan Rudnickyi einen wichtigen Anteil, weil hierdurch erstmals eine ukrainische Territorialität und politische Grenzen wissenschaftlich legitimiert worden seien. Hausmann betonte, dass die Ideenwelt dieser Geografen stark durch regionalen (ukrainisch-polnischen) und größeren europäischen (Österreich, Deutschland) Austausch, aber auch durch Abgrenzungen (gegenüber Polen und Russland), geprägt worden sei. Im Gegensatz zu diesen auf „natürlichen“ oder ethnischen Grenzen aufbauenden Konzepten sei am Ende des Ersten Weltkrieges der politische Kontext (vor allem der Friede von Brest Litowsk) ausschlaggebend gewesen. In den 1990er Jahren seien deren Werke wiederaufgelegt worden und hätten Vorstellungen von einer ‚großen‘ Ukraine, die über die Grenzen von 1991 hinausgingen, genährt. Um eine Essentialisierung von Räumen, wie sie etwa in den frühen 1920 Jahren geschehen sei, durch die Historisierung und Kontextualisierung dieses wissenschaftlichen Erbes, so Hausmanns Fazit, für die Ukraine wie für das ganze östliche Europa bis heute eine wichtige Aufgabe.

Dagegen erinnerte CORINNE GEERING (Leipzig) an die Bedeutung der sowjetischen Vergangenheit, insbesondere mit Blick auf den Kalten Krieg und den „neuen“ Ost-West-Konflikt. Geering wies darauf hin, dass sich die Sowjetunion in internationalen Organisationen im Zuge der Dekolonisierung der 1950er- und 1960er-Jahre als Befürworterin staatlicher Souveränität sah. Diese hätte das entsprechende völkerrechtliche Regelwerk mitgetragen, obwohl dies etwa im Widerspruch zu dem militärischen Einschreiten in die Angelegenheiten der Staaten des Warschauer Pakts stand. Zugleich hätten auch zur Hochzeit des Kalten Krieges die Vertreter der Sowjetrepubliken dem Westen wiederholt das Aufrechterhalten imperialistischer Politik vorgeworfen. Sehr ähnliche Argumente würden heute erneut von staatlichen Vertretern Russlands geäußert. Insgesamt hätten sich aber die Debatten zu staatlicher Souveränität gewandelt und die koloniale Politik Russlands sei in den Vordergrund getreten. Geering beantwortete die Frage, welche Rolle die sowjetische Vergangenheit heute spielte, wenn von einem „neuen“ oder „zweiten“ Kalten Krieg gesprochen wird, aus zwei ambivalenten Perspektiven: Die sowjetische Vergangenheit spiele einerseits gegenwärtig eine sehr große Rolle, da Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion eben auch eine Atommacht sei. Sie habe aber andererseits letztlich keine Bedeutung, da die heutige Situation sich drastisch von derjenigen des Kalten Krieges, insbesondere von den späteren Jahrzehnten der Entspannungspolitik seit den 1970er-Jahren, unterscheide. Hierbei verwies sie auf die internationalen Abkommen im Bereich der Sicherheits-, Wirtschafts- und Handelspolitik, wodurch die Prinzipien der „staatlichen Souveränität“ und „territorialer Integrität“ an Bedeutung gewonnen hätten. In deren Folge sei 1994 das Budapester Memorandum verfasst worden, wodurch die Rückführung von Atomwaffen aus der Ukraine nach Russland erfolgt sei. Somit verdeutlichte Geering, dass die völkerrechtliche Situation klarer sei als in anderen Dekolonisierungsprozessen. Jedoch lägen in der fehlenden Durchsetzungsfähigkeit des gesamteuropäischen Regelwerks und der Selbstverpflichtung der Staaten grundsätzliche Probleme, sodass sich in den Debatten über die multipolare Weltordnung eine imperiale bzw. koloniale Perspektive zeige.

NATALIIA SINKEVYCH (München) fokussierte in ihrem Redebeitrag die Rolle der Kirchen für die Definition von politischen Grenzen im östlichen Europa. Hierbei ging sie auf die Politisierung der Religion, den Klerikalismus und die ständige Suche der Kirche nach Protektion durch den Staat und von Spitzenpolitikern ein. Dies habe auch für die gegenwärtige Lage in der Ukraine eine besondere Bedeutung, da auf ihrem Territorium mehrere christliche Konfessionen (vor allem griechisch-katholisch, ukrainisch und russisch-orthodox, armenisch) sowie weitere Religionen koexistierten. Sinkevych verdeutlichte, dass die interkonfessionellen Debatten schon längst die Grenzen der kanonischen Fragen überschritten hätten, dass aber Religion und Kirche wichtige Faktoren für das ukrainische Nationalbewusstsein darstellen würden. Sie würden erheblichen Einfluss auf die Erinnerungskultur und die staatliche Gedächtnispolitik nehmen, sodass die Kirchen- und Religionsgeschichte in der gegenwärtigen ukrainischen Gesellschaft bedeutende Themen sei, um sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Ukraine und der ukrainischen Gesellschaft zu verständigen. Gerade Sinkevychs Beitrag verdeutlichte, dass in den gegenwärtigen Debatten über Konzepte von Fluidität und Stabilität von Grenzen auch kulturelle und konfessionelle Aspekte eine bedeutende Rolle spielen, da sich diese häufig erheblich von den staatlich-territorialen unterscheiden.

In der anschließenden Diskussion, die teilweise über die Fragestellung der Sektion auf Grund des großen Interesses des anwesenden Publikums hinausging, verdeutlichten die Panelist:innen, dass eine transepochale Perspektive wichtige Einblicke in die jeweiligen Argumentationsstrukturen und Geschichtsbewusstsein gäbe. Für die völkerrechtliche Legitimation sei jedoch der Blick in die jüngste Vergangenheit ausreichend. Diese träte ein, sobald ein Staat anerkannt sei und, wie etwa im Falle des ukrainischen Grenzvertrags mit Russland aus dem Jahr 2003, Grenzen bestätigt worden seien. Letztlich hätten alle Staaten ihre jeweilige Geschichte, die Verweise auf frühere Staatlichkeiten seien durch eine historisch fundierte Analyse leicht zu dekonstruieren. Es handele sich angesichts des russischen Nationalismus und seiner messianistischen Haltung um einen Versuch, Dekolonialisierung rückgängig zu machen. Hierbei verdeutlichte Geering, dass es zwei historische Perspektiven auf die Legitimierung der Grenzen gäbe: der Fokus durch Mythenbildung auf Geschichte als Legitimationsgrundlage und derjenige auf die 1990er-Jahre, in denen durch internationale Abkommen die bipolare Ost-West-Trennung nach dem Zerfall der Sowjetunion neu geordnet worden sei.

Hinsichtlich des Verständnisses der ukrainischen Staatlichkeit wurde betont, dass der historische Ukrainebegriff anders als der moderne verstanden würde und es nicht zielführend sei, wenn er nur auf die Orthodoxie reduziert würde. Die sowjetische Grenzziehung insgesamt habe ähnlich wie in Kolonialimperien traditionelle Grenzen infrage gestellt, woraus sich im postsowjetischen Raum Grenzkonflikte ergeben hätten. Insgesamt verdeutlichten die Rede- und umfangreichen und lebhaften Diskussionsbeiträge, wie drängend die Frage nach Veränderlichkeit von (europäischen) Grenzen in der Gegenwart ist. Das Infragestellen von Grenzen, also letztlich deren Fragilisierung, so das abschließende Fazit der Diskussion schaffe Präzedenzen, die über das östliche Europa hinausgingen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Liliya Berezhnaya (Münster) / Anke Hilbrenner (Düsseldorf) / Stefan Rohdewald (Leipzig)

Stefan Rohdewald (Leipzig): Über die Auflösung des Konzeptes internationaler Grenzen

Guido Hausmann (Regensburg): Die Geographie und Grenzen der Ukraine

Corinne Geering (Leipzig): Welche Rolle spielt die sowjetische Vergangenheit heute?

Nataliia Sinkevych (München): Kirche und die Bestimmung der politischen Grenzen im Osteuropa

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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