Identität als Erzählung. Antike Perspektiven im Kontext

Identität als Erzählung. Antike Perspektiven im Kontext

Organisatoren
Simon Grund, Universität Tübingen; Francesco Padovani, Alexander von Humboldt-Stipendiat, Universität Tübingen (Universität Tübingen)
Ausrichter
Universität Tübingen
Förderer
Mommsen-Gesellschaft; Gesellschaft für Antike Philosophie
PLZ
72072
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Fand statt
Hybrid
Vom - Bis
13.10.2023 - 14.10.2023
Url der Konferenzwebsite
Von
Simon Grund, Philologisches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen

Am 13. und 14. Oktober 2023 fand die 10. Kleine Mommsen-Tagung mit dem Thema „Identität als Erzählung. Antike Perspektiven im Kontext“ in den renommierten Senatsräumen der Universität Tübingen statt. Die Tagung unter der Leitung der Organisatoren Simon Grund (Tübingen) und Francesco Padovani (Tübingen) widmete sich dem politisch und kulturwissenschaftlich aktuellen Thema der Identität in einem interdisziplinären Dialog der verschiedenen altertumswissenschaftlichen Disziplinen, das heißt der Klassischen Philologie, der Alten Geschichte, der antiken Philosophie und der Klassischen Archäologie. Dabei bildete das Konzept der „Erzählung“ – verstanden in einem weiten kultursemiotischen Sinn, der neben literarischen Texten auch visuelle und materielle Artefakte oder Dokumente umfasst – eine gemeinsame methodische Ausgangsbasis der einzelnen Beiträge. Das Ziel der Tagung war nicht nur ein präziseres Verständnis von Theorie und Praxis personaler und kollektiver Identität(en) in den Kulturen der Antike, sondern auch das Bemühen, „die Diskussionen um Identitätsfragen zu versachlichen“, wie Werner Rieß, Vorsitzender der Mommsen Gesellschaft, in seinem Grußwort hervorgehoben hat. Dieses offene Verständnis von Identität als Erzählung sollte also bewusst von einer Übernahme ideologischer Deutungsmuster absehen, die den Identitätsdiskurs um die Antike in der Vergangenheit oft geprägt haben.

Um das komplexe Themenfeld von einer möglichst differenzierten Perspektive zu betrachten, wurde die Tagung in drei Panels geteilt:

Das erste Panel mit dem Thema „Konzeptualisierung von Identität“ legte die theoretische Grundlage dafür, Identität in der Antike als ein diskursives und wandelbares Element zu verstehen. Davon zeugt beispielhaft der Fall Ovids und seiner Darstellung der „Stellung des Menschen im Kosmos“, die ROBERT KIRSTEIN (Tübingen) im Eröffnungsvortrag der Tagung skizzierte. In seiner anthropologischen Deutung der Metamorphosen hob er die Sorge des Dichters um den freischwebenden Zustand der menschlichen Existenz hervor, der sich unter anderem in der fortwährenden Verwandlung der Welt manifestiert. In der Metamorphose der dargestellten Figuren, aber auch durch die erzählerische Form selbst thematisieren Ovids Verwandlungsgeschichten auch und insbesondere die fortwährende Suche des Menschen nach seiner Identität. FRANCESCO PADOVANI (Tübingen) stellte eine Schwierigkeit bei der Identifizierung von Identitätserzählungen im modernen Sinne in Bezug auf die griechische Literatur fest. Damit formulierte er einen Zweifel an der grundsätzlichen Übertragbarkeit insbesondere der Foucaultschen Gegenüberstellung zwischen dem Selbst und dem Anderen als Deutungsmuster für die Antike. Dass das Verständnis von Identität in der Antike hingegen einen grundlegend kontextbezogenen und kulturell verhandelbaren Charakter aufweist, betonte SOFIA AGNELLO (Pisa) am Beispiel der Praxis des Schreibens in Rom (besonders im 4.–1. Jhd. v. Chr.). Wie Agnello nachvollzog, beschränkt sich die anthropologische Bedeutung des Schreibens nicht auf die kommunikative Mitteilungsfunktion. Vielmehr stellt das Schreiben eine kulturelle Praxis dar, die auch eine Rolle bei der Gestaltung der Identität einer Gemeinschaft spielt.

Das zweite Panel „Identität als Erzählung“ befasste sich mit der Dekonstruktion von narrativen Selbstdarstellungen in antiken Texten. Als erster Beitrag widmete sich SIMON GRUND (Tübingen) dem Modus der Autofiktion in der Exilliteratur Ovids, insbesondere der Tristien. Diese las er als den Versuch, eine Identität als römischer Dichter in der Situation der Verbannung narrativ zu behaupten: Indem sich in den Texten autobiographische und fiktionale Elemente ununterscheidbar überlagern, wird auch die Identität der Exil-persona in einen ambigen Graubereich „zwischen Dichtung und Wahrheit“ übertragen und so die existenzielle Trennungs- und Verlusterfahrung des Verbanntseins in die strukturale Grunddisposition der Sammlung eingeschrieben. Als nächstes untersuchten KATHARINA BLAAS (Tübingen) und SANNE VAN DEN BERG (St. Andrews/Amsterdam) das Thema der Identitätserzählung als Mittel der persönlichen Selbstbehauptung in literarischen Briefen. Zuerst betrachtete Blaas die lange als repetitiv betrachtete Briefsammlung von Quintus Aurelius Symmachus. Die Geschichte der Veröffentlichung der Briefbücher nach dem Tod des spätrömischen Senators macht deutlich, wie der Bericht über seine persönlichen und politischen Aktivitäten in den Korrespondenzen dazu diente, die soziale Identität seiner eigenen Familie, aber auch seines weiteren Umfelds zu konstruieren. Im Anschluss setzte sich van den Berg mit den Briefen Plinius‘ des Jüngeren auseinander. An einigen aussagekräftigen Beispielen zeigte sie auf, wie die Selbstdarstellung von den sozialen Kontexten abhängig ist, denen Plinius angehörte, und wie sich seine epistolare Identität im Verhältnis zu seinen Gesprächspartnern, sozialen Rollen und Amtsfunktionen verändern konnte.

Das dritte Panel „Identität und Gesellschaft“ legte den Fokus auf das sozial- und kulturwissenschaftlich hochaktuelle Thema der kollektiven Identitätskonstruktion. Die beiden Beiträge von HANNAH SORSCHER (Waterville) und HELENA TELEŻYŃSKA (Warschau) setzten sich mit geschlechterspezifischen Aspekten von Identität auseinander. Sorscher wies insbesondere auf die Darstellung von Figurenkonstellationen und Familienbeziehungen in der römischen Komödie hin. Für Plautus und Terenz, so ihr Argument, lag eine besondere Bedeutung in der Darstellung und Repräsentation von sozial marginalisierten Gruppen (etwa Soldaten und ihre Familien), die nicht nur unkonventionelle Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit implizierte, sondern auch einen anderen Blickwinkel auf die Idee der romanness schafft, die häufig als reines Elitenphänomen betrachtet wird. Teleżyńska hingegen legte den Fokus auf den traditionellen Kanon der lyrischen Dichtung in Griechenland. Dabei ging sie nicht nur auf die unterschiedlichen Konzeptualisierungen „männlicher“ und „weiblicher“ Dichtung ein, sondern wies auch auf die Spannungen hin, die durch die Impersonation von Weiblichkeit durch männliche Dichter erzeugt werden können. BURKHARD EMME (Berlin) zeigte im Anschluss an Beispielen aus der imperialen römischen Sepulkralkultur, auf welche Weise wichtige gesellschaftliche Akteure der Kaiserzeit ihre Identität auch posthum erzählen konnten. Dabei arbeitete er insbesondere auch heraus, dass die visuelle Kunst der Antike strukturelle Spezifika aufweist, die auf eine Besonderheit der Bildersprache und ihrer Rolle für die Konstruktion narrativer Identitäten schließen lassen.

Der letzte Aspekt antiker Identitätserzählungen, der im zweiten Teil des dritten Panels diskutiert wurde, betrifft das Phänomen der Multikulturalität. Im Vortrag von GIORGIA LAURI (Rom) wurde deutlich, dass zahlreiche Integrations- und Umgangsstrategien ethnischer, religiöser und kultureller Minderheiten – hier der jüdischen Diaspora – oft an Identitätsparadigmen ausgerichtet sind. So eröffnen sich zwischen der eigenen zu bewahrenden Identität und der sozial und kulturell dominierenden Mehrheitsgesellschaft auch produktive Zwischenräume, zwischen denen die eigene Identität – etwa als Jude in Rom – fließend in eine andere übergehen kann. Im abschließenden Vortrag führte VERONIKA EGETENMEYR (Koblenz) viele der Fäden dieses vielschichtigen Diskurses zusammen und zeigte am Fallbeispiel des numidischen Königs Massinissa und seiner „multiplen“ Identitäten Missverständnisse antiker und moderner Perspektiven auf. Dabei hob sie darauf ab, dass viele der Versuche, die Identität Massinissas zu erzählen, sowohl in der Antike als auch in der heutigen Zeit von politischen Impulsen beeinflusst sind, die eine Rekonstruktion seiner Herrschaft vor Herausforderungen stellen.

In der Abschlussdiskussion wurden viele der Punkte aufgegriffen, die im Verlauf der beiden Konferenztage als verbindende Elemente der einzelnen Vorträge diskutiert worden waren. Dazu gehörte besonders die Abgrenzung der Konzepte des „Selbst“ und der „Identität“, die zwar in ihrer Charakteristik einer fluiden Eigenbeschreibung einen gemeinsamen Kern aufzuweisen scheinen, dabei aber nicht völlig deckungsgleich sind. Während das „Selbst“ besonders unter der Schablone des „Anderen“ zum Vorschein komme, so ein Ergebnis der Diskussion, lasse sich „Identität“ als meist normatives Konzept beschreiben, das durch seine narrative Kontextualisierung und fortwährende Aktualisierung auch mit einer für sie charakteristischen zeitlichen Dimension versehen ist. Ein zweiter Diskussionspunkt war die Funktion sozialer Rollen und der damit verbundenen Erwartungshaltungen. Dabei zeigte sich ein Konsens in der Ansicht, dass soziale und private Rollen produktiv in die Konstruktion von Identität(en) einbezogen werden können, vergleichbar etwa mit anderen Faktoren wie Habitus, Herkunft und Kultur.

Die durchweg hohe Qualität der Vorträge und die zahlreichen differenzierten Diskussionsbeiträge der persönlich und digital anwesenden Zuhörerinnen und Zuhörer macht uns zuversichtlich, dass es der Kleinen Mommsen-Tagung „Identität als Erzählung“ gelungen ist, den Diskurs um Identität und Antike zu bereichern und durch eine dynamische transdisziplinäre und interkulturelle Auslegung zugleich eine neue Perspektive auf die Thematik aufzuzeigen. Die Beiträgerinnen und Beiträger lieferten zahlreiche Denkanstöße, die zu einem weiteren Nachdenken über die Dynamik von Identitätserzählungen in der Antike und ihrer Übertragbarkeit auf moderne Kontexte anregen.1

Konferenzübersicht:

Francesco Padovani (Tübingen) / Simon Grund (Tübingen): Begrüßung und Einführung

Konzeptualisierung von Identität

Robert Kirstein (Tübingen): ‚Die Stellung des Menschen im Kosmos‘: Ovid, die kritische Theorie und die Krise des Subjekts

Francesco Padovani (Tübingen): The Mask of the Silenus: Narrating Identity in Greek Literature

Sofia Agnello (Pisa): Writing and the Construction of Identity in Ancient Rome

Identität als Erzählung

Simon Grund (Tübingen): Narrative Identity and Ambiguity: The Autofictional Mode in Ovid’s Tristia

[Gianluca Ricci (Kiel): Greekness in Tragedy] (entfallen wegen Krankheit)

Katharina Blaas (Tübingen): Erzählte Identität(en) in den Briefen des Q. Aurelius Symmachus

Sanne van den Berg (St. Andrews/Amsterdam): Pliny the Younger’s Epistles 10 and the Creation of Narrative Identity

Identität und Gesellschaft

Hannah Sorscher (Waterville): Representation and Identity in Roman Comedy

Helena Teleżyńska (Warschau): Stranger, if you should sail to Mytilene…: Female Poetry as a Separate Literary Genre in Hellenistic and Early Imperial Epigrams

Burkhard Emme (Berlin): Identität und visuelle Erzählung in der Kaiserzeitlichen Sepulkralkultur

Giorgia Lauri (Rom): Philo on the Jewish politeia in Alexandria: Alexandrian Judaism between political struggle and self-definition of Identity

Veronika Egetenmeyr (Koblenz): Massinissa – ein Herrscher mit multiplen Identitäten?

Abschlussdiskussion

Anmerkung:
1 Abschließend möchten wir allen Teilnehmerinnen und Teilnehmerinnen, Diskutantinnen und Diskutanten und nicht zuletzt den zahlreichen wissenschaftlichen Hilfskräften danken, die bei den vielen praktischen Angelegenheiten im Hintergrund unterstützt haben. Ein ganz besonderer Dank gilt der Mommsen-Gesellschaft und der Gesellschaft für antike Philosophie (GANPH) für die großzügige finanzielle Unterstützung der Tagung.

Kontakt

E-Mail: simon.grund@uni-tuebingen.de
E-Mail: padovanifrancesco89@gmail.com

https://uni-tuebingen.de/de/250408
Redaktion
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Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
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