Bielefelder Debatten zur Zeitgeschichte IV: Öffentlichkeit und Demokratie. Wandel und Zukunft eines fragilen Verhältnisses

Bielefelder Debatten zur Zeitgeschichte IV: Öffentlichkeit und Demokratie. Wandel und Zukunft eines fragilen Verhältnisses

Organisatoren
Christina Morina, Universität Bielefeld
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
16.05.2024 - 16.05.2024
Von
Dimitrij Owetschkin, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Wie und in welchen Formen sich das Verhältnis von Öffentlichkeit und Demokratie gestaltet und auf welchen Voraussetzungen die Stabilität dieses Verhältnisses beruht, stellen Fragen dar, die vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen von grundlegender Bedeutung für den Fortbestand eines demokratischen Gemeinwesens sind. Diesen Fragen widmeten sich die vierten Bielefelder Debatten zur Zeitgeschichte, die vom Arbeitsbereich Zeitgeschichte der Universität Bielefeld veranstaltet wurden. Im Mittelpunkt der Tagung stand der Zusammenhang von Öffentlichkeit und Demokratie unter den Bedingungen eines erneuten Strukturwandels – oder vielmehr Strukturbruchs – der Öffentlichkeit (Jürgen Habermas), der mit dem Aufstieg des Internets und der digitalen Kommunikation verbunden ist.1

Ausgehend von dieser Problemstellung führte CHRISTINA MORINA (Bielefeld) in die Thematik und die Zielsetzungen der Tagung unter dem Aspekt der Herausforderungen für die Demokratie und der sich wandelnden Rolle der Medien ein. Im Hinblick darauf sollte sich das Augenmerk bei der Analyse der Beschaffenheit der Kommunikationsstrukturen – orientiert man sich im Anschluss an Habermas und Kant an der normativen Vorstellung vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft – auch darauf richten, inwiefern die „sozialen Medien“ streng genommen als „sozial“ und als „Medien“ im herkömmlichen Sinne zu begreifen sind. Bei Fragen an die Geschichte und die Gegenwart öffentlicher Kommunikation in Demokratien kommen die Erosion und mögliche Neuformierung des Verhältnisses zwischen Öffentlichkeit, Medien und Politik in den Blick, die aus unterschiedlichen – auch disziplinären – Perspektiven beleuchtet werden können. Aus historischer Perspektive treten dabei vor allem Bedingungen und Faktoren einer Stabilisierung bzw. Destabilisierung dieses Verhältnisses in den Vordergrund.

Die Einführung in die Tagung machte außerdem deutlich, dass das Unvorhersehbare ein Wesensmerkmal von Öffentlichkeit darstellt. Auch vor diesem Hintergrund ergibt sich kein einheitlicher Zugang zur Öffentlichkeit. Deren Verständnisse, Interpretationen und Definitionen sind dementsprechend überaus vielfältig. Diese Vielfältigkeit, auch und gerade bezogen auf den Zusammenhang von Öffentlichkeit und Demokratie und seine „Fragilität“, trat deutlich in beiden Gesprächsrunden der Tagung hervor, die einerseits jenen Zusammenhang im Wandel der Zeit ausleuchteten und andererseits seine Gegenwart und Zukunft diskutierten. Da die Bielefelder Debatten, wie Morina betonte, auch ein Forum kritischer Selbstreflexion bilden, schlossen sie zudem die Frage nach Entstehungsbedingungen wissenschaftlicher Expertise selbst ein.

Die erste Diskussionsrunde, moderiert von CLAUDIA GATZKA (Freiburg), widmete sich dem Verhältnis – oder auch dem Beziehungsgeflecht – von Politik und Medien auf der einen und von Demokratie und Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Strukturiert wurde die Diskussion durch drei Themen- und Fragenkomplexe, die zum einen geschichtswissenschaftliche Perspektiven auf die gegenwärtigen Probleme im Verhältnis zwischen Demokratie und Öffentlichkeit, zum anderen Begriffe und Kategorien von Demokratie und Öffentlichkeit bzw. von Politik und Medien selbst sowie mögliche Relationen zwischen diesen Kategorien und schließlich deren historische Wirkungszusammenhänge betrafen.

UTE DANIEL (Braunschweig) stellte in ihrem Impulsvortrag heraus, dass Diskurse über Medien stets auch Diskurse über die Gesellschaft – aus der heraus diese Medien entstehen und wirken – waren und sind. Vor diesem Hintergrund enthält auch die Frage nach der Zäsur zwischen der Zeit der analogen und der digitalen Medien die Implikation einer Gegenwartsdiagnose. Dieser Zusammenhang wird beispielsweise bereits an der Konzeptualisierung von Öffentlichkeit bei Ferdinand Tönnies in seiner „Kritik der öffentlichen Meinung“ deutlich. Bei Tönnies wurde die „richtige“ öffentliche Meinung – gewissermaßen als Stimme der Vernunft – vom Bürgertum vertreten. Ein vergleichbares Narrativ findet sich, reformuliert, auch bei Jürgen Habermas, bei dem im Kontext seiner eigenen Gegenwart, der frühen Bundesrepublik, die Verlustgeschichte der (bürgerlichen) Öffentlichkeit dominant war.

Auch das andere von Daniel angeführte Narrativ in der Geschichte der Medien und des Journalismus, das auf den Aufstieg der Medien durch die Entwicklung der Technik abhebt und diesen Aufstieg damit positiv bewertet, impliziert ein bestimmtes Gesellschaftsbild und bleibt ebenfalls mehr auf die Gegenwart bezogen. Somit ist die historische Zäsur zwischen analog und digital aus Sicht von Daniel eher als Gegenwartsdiagnose zu verstehen, während sie für analytische Zwecke weniger geeignet ist.

TILL VAN RAHDEN (Montreal) machte in seinen Ausführungen darauf aufmerksam, dass ein Gemeinwesen – res publica – nicht notwendigerweise demokratisch sein muss. Während sich das Verständnis von Demokratie als Gemeinwesen von Freien und Gleichen seit Kant und Hume durch das Merkmal öffentlicher Kritik auszeichnete, thematisierten im 20. Jahrhundert etwa Mario Rainer Lepsius, Siegfried Kracauer oder Hannah Arendt das Scheitern der Demokratie, totalitäre Propagandaformen – in denen kein Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge bestand – oder Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus, und in der Traditionslinie von John Dewey und Walter Lippmann sprachen Wissenschaftler wie Michel Crozier von der „Unregierbarkeit“ demokratischer Systeme. Damit plädierten sie für Expertenwissen und gegen die Demokratieform. Vor dem Hintergrund der Problematik eines spezifisch demokratischen Verständnisses von Wirklichkeit ergab sich für van Rahden, dass Demokratie als Herrschaftsstruktur nicht selbsttragend, sondern an weitreichende kulturelle und soziale Voraussetzungen eines demokratischen Zusammenlebens geknüpft ist.

Die Diskussion bewegte sich u. a. um die in der Thematisierung der Entwicklung von Öffentlichkeit und ihrem Verhältnis zur Demokratie enthaltenen Implikationen von Gegenwartsdiagnose und Vergangenheitsanalyse. Van Rahden wies dabei auf die Beschleunigung durch die Entwicklung der Medientechnologien hin und Daniel betonte sowohl die bereits frühere Existenz von „Echokammern“ durch Zeitungen als auch – im Unterschied dazu – den zentralistischen Charakter des Fernsehens, das eine gemeinsame „Fernsehwelt“ schuf. Auch van Rahden unterstrich die Bedeutung einer stärkeren Kreuzung der Diskussionskreise ab den 1960er Jahren. Im Zusammenhang mit der von der Moderatorin Gatzka aufgeworfenen Frage nach der Synchronität der Berichterstattung – die auch früher gegeben war, aber in der aktuellen Entwicklung der digitalen Medien mit einem Fehlen von „Gatekeepern“ (wie Herausgebern oder Besitzern etc.) einhergeht – argumentierte Daniel, dass Gatekeeper nicht verschwunden, sondern andere geworden seien, während van Rahden auf den Niedergang der Lokalzeitung als das größte Problem im Kontext der Verlustgeschichte der Öffentlichkeit hinwies.

Einen weiteren Schwerpunkt der Diskussion bildeten die Zusammenhänge zwischen dem Verständnis und den Begrifflichkeiten von Demokratie und der Entwicklung oder auch Kritik der Medien. Auch in dieser Hinsicht wurde deutlich, dass diese Zusammenhänge überaus komplex sind. So kann Demokratie, wie van Rahden ausführte, mit Luhmann als einzig mögliche Form für die Erhaltung gesellschaftlicher Komplexität begriffen werden. Andererseits verstanden sich auch nicht im eigentlichen Sinne demokratische Herrscher und Regime selbst durchaus als „demokratisch“. Als Unterscheidungskriterium zwischen demokratischen und nichtdemokratischen Herrschaftsformen kann, bezogen auf die Medienordnung, die Anwesenheit bzw. Abwesenheit von Zensur und Medienfreiheit oder -pluralismus fungieren, wobei, wie Daniel zeigte, die Reduktion des Medienpluralismus etwa durch Vertrustung bereits im 19. Jahrhundert thematisiert wurde und auch die Zensur – beispielsweise unter der Flagge der Bekämpfung von Fake News, gerade in Zeiten des Wahlkampfs – durchaus in anderen, neuen Formen fortbestehen kann. In diesem Kontext wies van Rahden auch darauf hin, dass aus der Perspektive der Öffentlichkeit ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen Demokratie und Diktatur – außer den Kriterien der Zensur und Meinungsfreiheit – im Sinne eines „Kampfes um Anerkennung“ oder Zugangs zur Öffentlichkeit besteht. Demokratie bedeutet in dieser Hinsicht eine nicht hintergehbare Vielheit.

Der zweite Tagungsblock widmete sich unter der Moderation von CHRISTINA MORINA (Bielefeld) demokratietheoretischen Perspektiven auf Öffentlichkeit, wiederum in ihrem fragilen Verhältnis zur Demokratie in Gegenwart und Zukunft, vor allem aus rechtlicher und soziologischer Sicht. Die Öffentlichkeitsproblematik sollte dabei zum einen als Frage der – im doppelten Sinne des Wortes – Verfassung des Gemeinwesens und zum anderen in Bezug auf ihre Rolle bei der Stabilisierung bzw. Destabilisierung demokratischer Ordnungen erörtert werden.

STEFFEN MAU (Berlin) unterschied in seinem Eingangsstatement im Anschluss an Friedhelm Neidhardt drei Öffentlichkeitsebenen – interpersonale, Versammlungs- und Medienöffentlichkeit – und verwies auf eine starke Rollendifferenzierung als Merkmal der Medienöffentlichkeit. Zu den Funktionen von Öffentlichkeit gehören aus dieser Sicht Transparenz-, Validierungs- und Orientierungsfunktion. Im Hinblick auf die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart der (medialen) Öffentlichkeit sah Mau mehr Diskontinuitäten als Kontinuitäten, was etwa in der Ökonomisierung von Medienfunktionen zum Ausdruck kommt. Auch die starke Affektorientierung von „sozialen Medien“ führe zu mehr Misstrauen. Zwar erfolgt in diesem Rahmen zunächst eine offenere Kommunikation, jedoch hat eine algorithmische Übersteuerung von polarisierten Meinungen gewissermaßen eine gefühlte Polarisierung zur Folge. Zugleich bleibt die Abgrenzung zur anderen Gruppe Teil des kommunikativen Spiels.

THOMAS WISCHMEYER (Bielefeld) ging in seinem Impuls auf die Rolle der digitalen Medien und ihre Regulierung aus juristischer Perspektive ein und betonte eine geradezu explosionsartige Entwicklung der Normsetzung auf diesem Gebiet. Somit gebe es in diesem Bereich nicht zu wenig, sondern im Gegenteil viele Regeln. Im Hinblick darauf stellte Wischmeyer in den letzten etwa fünf Jahren einen Paradigmenwechsel im Umgang mit der digitalen Öffentlichkeit fest. Öffentlichkeit lässt sich somit nicht ohne Recht denken. In diesem Kontext stellt die individuelle Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich nicht nur ein Abwehrrecht dar, sondern sie ist für eine demokratische Verfassungsordnung konstitutiv. Dies gilt noch mehr für freie und zumal auch für öffentlich-rechtliche Medien. Vor diesem Hintergrund sind Rechtssetzungsaktivitäten in diesem Bereich darauf gerichtet, die Öffentlichkeit zu sichern. Im Hinblick darauf fragte Wischmeyer auch, ob es ausreiche, wenn die Grenzen des Sagbaren im Online-Bereich die gleichen sind wie im analogen und welche Rolle dabei dem Staat zukommt.

In der Diskussion griff Mau erneut die Problematik der mit dem Aufkommen der digitalen Medien verbundenen Zäsur in der Entwicklung von Medien und Öffentlichkeit auf und wies auf die Etablierung internationaler (Medien-)Strukturen und proprietärer Märkte hin. Auch die für die Öffentlichkeit besonders relevante Frage nach dem Verbindenden spitzt sich in dem Maße zu, in dem unter Umständen kein gemeinsamer Begriff von Wirklichkeit erkennbar wird. Vor diesem Hintergrund kann durch soziale Medien – als Reaktion auf empfundene Geltungsverluste – Gewaltbereitschaft gefördert werden. Unter solchen Öffentlichkeitbedingungen werden auch Parteien eher zu Randfiguren der Meinungs- und Willensbildung und stattdessen wird ein Diskurs über Ersatzpolitik geführt.

Auch Wischmeyer betonte, dass es keine Landes- oder Kommunalöffentlichkeit gebe und stattdessen die Beschaffenheit von Öffentlichkeit disjunktiv sei. In Anknüpfung daran und an die Frage von Öffentlichkeit als Problem der Verfassung hob Mau gleichermaßen die soziale Strukturierung von Öffentlichkeit, die sich zum Teil vom Elitediskurs abkoppelt, und die Bedeutung des Öffentlichkeitszugangs, der stark bildungs- und einkommensabhängig ist, hervor. Unter diesen Bedingungen hängen die Regulierung der sozialen Medien und die Regulierung bzw. die Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zusammen. Die Schwierigkeiten einer solchen Reform – d. h. auch ihre Grenzen – sind mit der Pfadabhängigkeit der Entwicklung der Medien in Deutschland verbunden. In diesem Kontext wird auch die Problematik der Aufrechterhaltung von Lokalmedien relevant. Da diese Medien eine hohe Bedeutung für die Identität der Menschen vor Ort haben, hielt Mau eine öffentliche Unterstützung der Lokalmedien für denkbar. Wischmeyer verwies hingegen auf das Argument der Staatsferne, das gegen eine solche Unterstützung spräche. Gleichwohl konnte auch für Wischmeyer eventuell die Notwendigkeit einer Fortentwicklung des rechtlichen Rahmens in Richtung einer möglichen Unterstützung geprüft werden.

Am Schluss der Diskussion warf Christina Morina die Frage auf, inwiefern die erörterten negativen Tendenzen in der Entwicklung von Öffentlichkeit oder etwa gestiegene Möglichkeiten digitaler Überwachung ein Problem des Kapitalismus darstellten. Wenngleich dieser Aspekt nicht erschöpfend behandelt werden konnte, führt er, wie Mau herausstrich, zur Frage nach der Regulierung der Monopolmärkte und damit insgesamt nach den gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Dies beinhaltet auch das Problem des politischen Umgangs mit dem digitalen Kapitalismus.

Im Ganzen haben die Bielefelder Debatten gezeigt, dass die Problematik von Öffentlichkeit und Demokratie in ihrem wechselseitigen, „fragilen“ Verhältnis im Wandel der Zeit – und in ihrer Aufeinanderbezogenheit – vor allem mehrperspektivischer Zugänge bedarf, um den Antworten auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen näherzukommen. Setzen Diskurse über Medien und Öffentlichkeit stets ein bestimmtes Gesellschaftsbild voraus und impliziert eine Auseinandersetzung mit deren Geschichte zugleich eine Gegenwartsdiagnose, kommt erneut die Frage nach dem Verbindenden von Öffentlichkeit(en) bzw. ihren Wahrnehmungen und, zumal im Hinblick auf die Medien- und Demokratiepolitik, nach der Rolle des Staates auf. Bei den unterschiedlichen Perspektiven auf diese Problematik erscheint es darüber hinaus sinnvoll, das Demokratiekonzept nicht auf den Bereich des Politischen zu beschränken. Demokratie wäre in dieser Hinsicht nicht nur als politische, sondern auch etwa als soziale Demokratie zu begreifen und – bezogen auf Geschichte, Gegenwart und Zukunft – entsprechend analytisch zu erfassen.

Konferenzübersicht:

Christina Morina (Bielefeld): Einführung

Panel 1
Moderation: Claudia Gatzka (Freiburg)

Ute Daniel (Braunschweig) / Till van Rahden (Montreal): Res publica im Wandel der Zeit. Zum Zusammenhang von Demokratie und Öffentlichkeit in historischer Perspektive

Panel 2
Moderation: Christina Morina (Bielefeld)

Steffen Mau (Berlin) / Thomas Wischmeyer (Bielefeld): Demokratie braucht Öffentlichkeit. Zur Gegenwart und Zukunft eines fragilen Verhältnisses

Anmerkungen:
1 Jürgen Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin 2022.