Inwiefern lässt sich das Hören musikhistorischer Quellen als interdisziplinärer Zugang konstituieren? Wie manifestiert sich Macht in Musik und Geräuschen? Welche Rolle spielen musikalischer (Kultur-)Transfer und Vernetzung? Diesen und weiteren Fragen widmete sich der Workshop unter der Leitung von Elisabeth Natour. Vertreter:innen der Musik-, Geschichts-, Kultur- und Literaturwissenschaft versammelten sich, um auszuloten, wie weit eine interdisziplinäre Kooperation zwischen der Geschichts- und der historischen Musikwissenschaft gehen kann, um Ergebnisse zu generieren, die für beide – und auch für weitere – Disziplinen Relevanz entfalten. Als experimentell erwies sich der Workshop insofern, als dass eine gemeinsame Diskussion des gleichen Quellenmaterials angestoßen wurde: Ein Austausch, der bisher in seltenen Fällen aus unterschiedlichen disziplinären Blickwinkeln heraus getätigt wurde.1
Der Eröffnungsvortrag wurde von HELEN WATANABE-O’KELLY (Oxford) beigesteuert. Jede Inszenierung setze gemäß der Referentin ein Publikum voraus. Dies sei auch im höfischen Zeremoniell beziehungsweise bei Handlungen von konstitutioneller Bedeutung der Fall gewesen, wurde Macht doch durch Inszenierungen vor Zeugen sichtbar – und auch hörbar – gemacht. Watanabe-O’Kelly wies zudem darauf hin, dass nicht alle Festelemente von allen Teilnehmenden auf gleiche Weise rezipiert werden konnten. So vermochte es unter anderem die räumliche Distanz, dass die Sinne bestimmter Anwesender stärker stimuliert wurden. Für meist alle Zeugen sensorisch wahrnehmbar und besonders repräsentativ waren allerdings Feuerwerke. Obgleich die Untertanen dazu angehalten wurden, den Souverän zu sehen, hören, lieben und verehren, durften sie diesem selbst bei festlichen Anlässen nicht zu nahekommen. Die Mächtigen entschieden somit, wie Macht inszeniert und wahrgenommen werden sollte. So versuchten diese aktiv, die Klangwelt zu bestimmen: Von unüberhörbarer Musik und lauten Geräuschen jeglicher Art, denen man sich nur schwer entziehen konnte, zu der verordneten Stille vermochten sie es, die akustische Umwelt ihrer Untertanen zu beeinflussen und damit einen Gestus der Macht zu artikulieren.
Die erste Sektion startete mit der thematischen Einführung. ELISABETH NATOUR (Mainz) präsentierte die Handschrift GB Obl MS Rawl. Poet. 23 der Bodleian Library Oxford, die kurz nach dem Jahr 1635 entstand. Es handelt sich hierbei um ein Textbuch englischsprachiger Hymnen – sogenannter Anthems – und Psalmen, das direkt mit den öffentlichen Gottesdiensten Karls I. von England (1600–1649) in Verbindung gebracht wird. Eine Besonderheit dieser Quelle besteht in der Vermittlung konkreter Praktiken für die musikalische Umsetzung, weshalb nicht nur feierliche Anlässe, Psalm-Texte und Einordnungen im liturgischen Jahr überliefert werden, sondern auch zu nahezu jedem referenzierten Text der dazugehörige Komponistenname genannt wird. Zu einem besonders lohnenden Gegenstand der interdisziplinären Diskussion wird die Quelle auch dadurch, dass sich mehrere zeitgenössische Notenabschriften der dort referenzierten Kompositionen erhalten haben – Textgrundlage, Musik und Benutzungskontext also gleichermaßen gut greifbar erscheinen. Ob es sich bei der Sammlung vielleicht um ein sorgfältig inszeniertes musikalisches Porträt des Königs Karl I. von England handelte, ließe sich gemäß Natour nur durch den interdisziplinären Austausch klären, der ebenso dazu diene, weitere Hypothesen zu generieren und diese in einem nächsten Schritt zu verifizieren beziehungsweise zu falsifizieren.
JOHANNES SÜßMANN (Paderborn) lieferte daraufhin einen Einblick in die Überlieferungsgeschichte und die Materialität des Manuskripts Rawl. Poet. 23. Er widmete sich zunächst der Überlieferungskritik: Bis zum aktuellen Aufbewahrungsort in der Bodleian Library in Oxford nutzten fünf verschiedene Instanzen das Objekt für eigene, zum Teil sehr unterschiedliche Zwecke. So wurde das Manuskript von einer Kuriosität zum Geschenk, zur Reliquie, weiterhin zum nationalen Kulturerbe bis hin zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Die Quelle sei aktuell jedoch noch nicht in Form eines Digitalisats öffentlich zugänglich – ein Umstand, den der Experte bedauerte. In einem nächsten Schritt ging er auf materielle Aspekte ein: Das schwere Buch benötige für die Nutzung ein Lesepult. Darüber hinaus verfüge es über einen ledernen, mit Vergoldungen dekorierten Einband, was auf die Exklusivität der Quelle hinweist. Nutzungsspuren seien festzustellen, müssen aber nicht zwangsläufig vom ursprünglichen Nutzungskontext stammen. Auf Initialen, Buchmalereien oder anderem Dekor sei verzichtet worden. Dies weise darauf hin, dass es sich wahrscheinlich nicht um ein Repräsentationsmedium, sondern eher um ein Objekt handelte, das einen praktischen Verwendungszweck erfüllte. Die Handschrift sei ebenfalls nüchtern und pragmatisch; von unterschiedlichen Schreibern sei schon aufgrund der minimalen Abweichungen im Schriftbild auszugehen. Bei der Frage, weshalb der Inhalt nicht direkt gedruckt worden sei, wies Süßmann auf die nicht beschrifteten Leerseiten des Manuskripts hin: Wahrscheinlich verfolgten die Verfasser das Ziel, die Sammlung über einen längeren Zeitraum zu erweitern. Das Objekt war somit noch nicht abgeschlossen, sondern auf einen dynamischen Zuwachs angelegt.
Im Impuls von CHRISTIAN LEITMEIR (Oxford) wurde deutlich, dass nicht mit Sicherheit von einer persönlichen Nutzung durch Karl I. ausgegangen werden kann. Schon seit dem 18. Jahrhundert werde die Frage verhandelt, ob die existierenden Indizien auf einen Gebrauch im königlichen Dienst hinweisen: So ist der Quelle ein Brief von 1732 beigefügt, in dem angegeben wird, Karl I. habe die Handschrift persönlich benutzt. Daraus ergeben sich weitere Unklarheiten: Inwiefern wurde das Manuskript ursprünglich verwendet? Wurde es vielleicht von König Karl I. gebraucht, um der musikalischen Darbietung besser zu folgen? Hatte der Monarch somit einen privilegierten Zugang zum liturgischen Vorgang? Welche Autoren verfassten das Manuskript? Ist die Liste dokumentarisch oder konzeptuell angelegt – oder vielleicht sogar beides? Diese Fragen seien selbst in der Gegenwart anhand einer quellenkritischen, interdisziplinären Annäherung nicht abschließend zu beantworten. Der Musikwissenschaftler vermutet, dass das Textbuch im Rahmen der Planung des Zeremoniells durch den Zeremonienmeister zum Einsatz gekommen sein könnte. Leitmeir betonte zudem die textliche Grundlage der Anthems, insbesondere die Auswahl bestimmter Bibelpassagen und Psalmen, in denen die Figuren David und Salomo sehr ambivalent erscheinen: Sowohl als schillernde Königsfiguren als auch als sündigende und somit defizitäre Herrscher. Die musikalischen Stücke ließen sich in Form von Analogien auf den regierenden Souverän applizieren.
Im Rahmen der offenen Diskussion wurde resümiert, dass es sich um eine überaus komplexe Quelle handle, die selbst mit einem interdisziplinären Fokus schwer zu erschließen sei. Klaus Pietschmann (Mainz) gab wichtige Hinweise, wie die Quelle in sakralen sowie höfischen Musizierpraktiken deutlicher verortet und möglicherweise die Überlieferungspraxis in Zusammenhang mit anderen Quellen der höfischen Kapelle näher eingegrenzt werden könnte. Er verwies auf Parallelen zur Polyphonie der päpstlichen Kapelle und ihren Kopiertraditionen. Matthias Schnettger (Mainz) merkte an, dass die Auswahl, Anordnung und Adaptierung der teils älteren Texte trotz der verschiedenen Zeithorizonte der Kompositionen, die zum Teil aus der Zeit Elisabeth I. stammten, Hinweise auf einen spezifischen, zeitgebundenen Nutzungskontext und ihre direkte (politische) Funktion in der Liturgie, aber auch vor dem Hintergrund der Rolle Schottlands in den 1630er-Jahren geben können. Zugleich betonte er, dass die Zuspitzung des Konflikts zum Bürgerkrieg als solche den Zeitgenossen zum Entstehungszeitpunkt der Quelle nicht in gleicher Weise vor Augen stand wie Historiker:innen der Gegenwart. Watanabe-O’Kelly kommentierte die sehr heterogene sprachliche Qualität der Texte, die zum Teil, wie Leitmeir zeigte, musikalisch geschickt aufgefangen wurde. Insofern ließen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den analytischen und interpretatorischen Annäherungen der Impulsgeber feststellen, die aus diversen fachlichen Perspektiven auf die Quelle blickten. Der Wunsch nach Methoden, die in mehreren Disziplinen bei der systematischen Analyse und Interpretation von musikhistorischen Quellen – im Sinne eines Instrumentariums der vereinfachten historischen Musikanalyse – effektiv genutzt werden können, wurde daraufhin von mehreren Teilnehmenden artikuliert.
Nach dem Hörimpuls einer Rekonstruktion der Hymne Hearken, ye nations durch William Hunt aus dem Jahr 2022 – einer Komposition, die auch in der zuvor diskutierten Handschrift enthalten ist – entwickelte sich eine kritische Debatte über Potentiale und Herausforderungen von Rekonstruktionen frühneuzeitlicher Stücke.2 So sei eine musikalische Darbietung stets auch eine ästhetische Interpretation, welche den notierten musikalischen Inhalt erst für ein Publikum zugänglich macht. Dies berge allerdings auch die Gefahr, dass bestimmte Aspekte hervorgehoben werden, die im 17. Jahrhundert nicht betont wurden. Außerdem seien der Text und auch die Besetzung modifiziert worden, was das Stück eindeutig verändere. Ferner sei es auch beim Hörzugang zu einem Stück wichtig, die Fragestellung anzupassen, um Nutzen und Beschränkung der Methodik gleichermaßen transparent zu machen.
Im folgenden nicht-öffentlichen Teil des Workshops wurde anhand verschiedener Beispielquellen aus den Kapellen Karls I., Henrietta Marias oder auch Hofpoeten mit offenen oder versteckten musikalischen Bezügen der Zusammenhang von Material, Fragestellung und disziplinären Traditionen vertiefend diskutiert.
Die vielseitigen Perspektiven und anregenden Diskussionen des Workshops haben verdeutlicht, dass sich der interdisziplinäre Austausch auch künftig als wertvoll und sogar als überaus notwendig erweist. So lassen sich bestimmte Fragestellungen erst unter Einbezug unterschiedlicher Expertisen und methodischer Zugänge angemessen bearbeiten. Trotz einer minutiösen Quellenkritik und unterschiedlicher fachlicher Zugänge konnten jedoch nicht alle Fragen zufriedenstellend beantwortet werden. So blieben Hypothesenbildungen und Spekulationen hinsichtlich musikhistorischer Quellen auch den Teilnehmer:innen des Workshops nicht erspart. Selbstverständlich bieten multiple Perspektiven dennoch einen eindeutigen Mehrwert: Historiker:innen können bestärkt werden, ihre Scheu vor Quellen mit musikalischem Bezug zu verlieren. Andere Fachdisziplinen und ihre spezifischen methodischen sowie theoretischen Annäherungen können wiederum in die historische Forschung produktiv integriert werden. Insofern unterstreicht der Workshop das bereits im Kontext der Sound Studies erkannte Potential einer engeren interdisziplinären Zusammenarbeit.
Konferenzübersicht:
Eröffnungsvortrag
Helen Watanabe-O’Kelly (Oxford): Macht inszenieren, Macht sehen, Macht hören. Feste der frühen Neuzeit und ihr Publikum
Begrüßung und Vorstellung
Elisabeth Natour (Mainz): Begrüßung und Vorstellung
Sektion I: Das MS Rawl. Poet. 23 – „Die“ Sammlung der königlichen Kapelle unter Karl I. (reg. 1625–1649) von England?
Elisabeth Natour (Mainz): Einführung des MS Rawl. Poet. 23
Johannes Süßmann (Paderborn): Impuls – Überlieferungsgeschichte und Materialität
Christian Leitmeir (Oxford): Impuls – Status und Überlieferung
Sektion II: Mehr Interdisziplinarität wagen – alles eine Frage geeigneter Quellen?
Diskussion weiterer Quellenbeispiele im forschenden Austausch
Anmerkungen:
1 Als Vorläufer ließe sich die Konferenz „Autopsie eines Gesamtkunstwerks: das Chorbuch der Münchner Jahrhunderthochzeit von 1568“ aus dem Jahr 2016 anführen, die von Björn R. Tammen und Nicole Schwindt organisiert wurde und an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien stattfand. Weiterhin sei auf die anschließende Publikation hingewiesen: Björn R. Tammen / unter Mitwirkung von Nicole Schwindt (Hrsg.), Autopsie eines Gesamtkunstwerks. Das Chorbuch der Münchner Jahrhunderthochzeit von 1568 (troja. Jahrbuch für Renaissancemusik, Bd. 15, 2016), Open-Access-Publikation 05.11.2020, in: https://journals.qucosa.de/troja/issue/view/196 (30.07.2024). Während Tammen und Schwindt eine multiperspektivische Diskussion des Gegenstands anvisierten, zielte Natour zudem auf eine gewinnbringende Auseinandersetzung mit Interdisziplinarität.
2 William Hunt, From Byrd to Gibbons by way of Hooper. The performance of consort anthems from the golden era with illustrative reference to a critical edition of three anthems by Edmund Hooper, Dissertation in 2 Bd., Birmingham City University 2022, in: https://www.open-access.bcu.ac.uk/14054/ (29.07.2024). Die musikalische Rekonstruktion ist Teil des „The Orlando Gibbons Project“. Die CD, von welcher der Hörimpuls abgespielt wurde, trägt den Titel: In Chains of Gold. The English Pre-Restoration Verse-Anthem, Vol. 2. Magdalena Consort, Fretwork, His Majestys Sagbutts and Cornetts, Signum Records 2020.