Zur Zukunft der Archive von Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen. Fachgespräch

Zur Zukunft der Archive von Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen. Fachgespräch

Organisatoren
Hamburger Institut für Sozialforschung / Verband deutscher Archivarinnen und Archivare
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.03.2017 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Anne Vechtel, Archiv Grünes Gedächtnis; Julia Kathke, Landesarchiv Baden-Württemberg

Wichtige Quellen aus den Alternativ- und Protestbewegungen sind gefährdet, weil die Situation der Archive, die sich vorrangig um die Überlieferungssicherung neuer sozialer Bewegungen kümmern, prekär und ihre Zukunft alles andere als sicher ist. Um Perspektiven für diese Archive zu entwickeln, hatten der Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (AK NSB im VdA) und das Hamburger Institut für Sozialforschung zu einem Fachgespräch geladen.

Der Einladung waren Vertreterinnen und Vertreter des Bundesarchivs, der Landes- und Kommunalarchive, der Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Archivverwaltungen des Bundes und der Länder (KLA), der Bundeskonferenz der Kommunalarchive (BKK), der Kulturstiftung des Bundes, der Kultusministerkonferenz, des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement, des Instituts für Zeitgeschichte, der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte, der zeitgeschichtlichen Forschung und den Archivschulen Marburg und Potsdam gefolgt.

Das im Frühjahr 2016 veröffentlichte Positionspapier „Zur Zukunft der Archive von Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen“1 des VdA bildete die Grundlage des Gesprächs. Ausgehend von der Feststellung des Positionspapiers, dass Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen die deutsche Gesellschaft seit 1945 nachhaltig geprägt haben, die Überlieferung der Unterlagen dieser Bewegungen jedoch nicht gesichert ist, sollte aus unterschiedlichen Perspektiven eine differenzierte Bestandsaufnahme vorgenommen und Lösungsoptionen diskutiert werden. Mit diesem Fachgespräch sollte das Thema über die Grenzen der archivischen Fachwelt hinaus in eine weitere Öffentlichkeit getragen werden, um entscheidende Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Politik, Kultur, Forschung und Verwaltung für das Anliegen zu gewinnen.

In seiner einleitenden Bestandsaufnahme ging JÜRGEN BACIA (Duisburg) auf die Entstehung des Arbeitskreises und die Gründe für die Erarbeitung des Positionspapiers ein. Etablierte und Freie Archive seien im Laufe der letzten zehn Jahre aufeinander zugegangen. So hätten die Archivschule Marburg und die Fachhochschule Potsdam Freie Archive jetzt verstärkt im Blick. Im VdA konnte 2009 der Arbeitskreis NSB mit dem Ziel gegründet werden, die Bedeutung Freier Archive stärker ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Das dem Fachgespräch als Arbeitsgrundlage dienende Positionspapier sei ein vorläufiger Höhepunkt, auf dessen Grundlage tragfähige Perspektiven entwickelt werden könnten.

MICHAEL HOLLMANN (Koblenz) legte die Probleme dar, die das Bundesarchiv beim Einwerben von Unterlagen aus sozialen Bewegungen hat. Im neuen Bundesarchivgesetz werde die gesamtgesellschaftliche Überlieferungsbildung als Aufgabe definiert. In der bisherigen archivischen Praxis fänden Aktenübergaben aus neuen sozialen Bewegungen, die oft ausgesprochen staatsfern seien, häufig nur dann statt, wenn es keine anderen Lösungen gäbe. Hollmann konstatierte, dass das Bundesarchiv nur begrenzten Zugang zu diesen Überlieferungen habe. Das Bundesarchiv sei politisch zur Neutralität verpflichtet. Er bestätigte die gesellschaftliche Notwendigkeit und den dringenden Handlungsbedarf, diese Überlieferung öffentlich zugänglich zu machen.

MAX PLASSMANN (Köln) konstatierte vergleichbare Probleme für Kommunalarchive beim Zugang zu Unterlagen aus neuen sozialen Bewegungen. Es sei zwar Konsens, dass die kommunale Überlieferung die gesamte Lebenswelt der städtischen Gesellschaft abbilden sollte, was linke wie rechte Bewegungen einschlösse, trotzdem müssten gravierende Defizite bei Quellen aus neuen sozialen Bewegungen konstatiert werden. Das sei zum Teil mit der ausgesprochenen Staatsferne vieler Bewegungen zu begründen, aber auch mit mangelnden Ressourcen vieler Kommunalarchive. Bestände aus sozialen Bewegungen aktiv einwerben zu können, sei oft sehr zeitaufwändig und erfordere vertrauensbildende Maßnahmen. Perspektivisch würden sich diese Probleme noch vergrößern, weil aktuelle soziale Bewegungen zunehmend digital arbeiteten, was die Überlieferungsbildung und -sicherung vor immense Schwierigkeiten stellen werde. Kommunalarchive seien, wie andere öffentliche Archive auch, oft nur Notfalloption für die Verwahrung von Unterlagen von sozialen Bewegungen.

KLAUS LANKHEIT (München) machte darauf aufmerksam, dass das Institut für Zeitgeschichte grundsätzlich dafür prädestiniert sei, Quellen aus den neuen sozialen Bewegungen aufzunehmen, da es sprengelfrei arbeiten könne und durch eine Bund-Länder-Finanzierung langfristig abgesichert sei. Die Sammlung des Institutsarchivs zu den neuen sozialen Bewegungen kam zunächst durch Mitarbeiter ins Haus und wuchs dann stetig. Sie hat einen regionalen Schwerpunkt auf München und Bayern. Inzwischen hat das Archiv Bestände aus verschiedenen neuen sozialen Bewegungen, wobei konstatiert werden müsse, dass das Institut zu bestimmten Bewegungen nur eingeschränkten Zugang habe. So fehlten Bestände zur Ökologiebewegung. Mit dem Stadtarchiv München und anderen Freien Archiven betreibt das Archiv bereits erfolgreich eine Überlieferungsbildung im Verbund.

DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) referierte über Erfahrungen und Bedarf der Wissenschaft an Quellen aus neuen sozialen Bewegungen. Er betonte die herausragende Position der Bestände in Freien Archiven für die zeitgeschichtliche Forschung. Diese Bestände würden Perspektiven erweitern und die staatszentrierte Sicht auf Gesellschaft aufbrechen. Er machte deutlich, dass Quellen zur Frauen- und Schwulenbewegung sowie aus der DDR-Opposition mittlerweile relativ gut zugänglich seien, weil eine entsprechende Förderung stattgefunden habe. Viele Fragestellungen könnten aber nicht quellengestützt bearbeitet werden, weil bestimmte neue soziale Bewegungen gar nicht im Blick von Archiven seien. Archive sollten breit überliefern. Sie müssten auch nicht schriftfixierte Bewegungen in den Blick nehmen und z.B. Oral-History-Quellen eine größere Bedeutung beimessen. Ihre Überlieferungsbildung sollte zudem perspektivische Entwicklungen wissenschaftlicher Fragestellungen antizipieren.

In der Bilanz stellten die Teilnehmenden des Fachgesprächs fest, dass die öffentlichen Archive den Auftrag, die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit zu überliefern, nur sehr eingeschränkt erfüllen könnten: Sie verfügten weder über genügend Ressourcen noch über die nötige Szenenähe.

Hieran anschließend wurden mögliche Perspektiven vorgestellt und diskutiert. ROBERT KRETZSCHMAR (Stuttgart) beleuchtete Möglichkeiten einer Überlieferung im Verbund mit Freien Archiven. Dabei erläuterte Kretzschmar am Beispiel des Sportarchivs Baden-Württembergs, wie eine Überlieferungsbildung im Verbund funktionieren kann. Bei einer Überlieferung im Verbund sprechen sich verschiedene Träger ab, die Berührungspunkte bei der Überlieferung haben. Sie ist besonders interessant für private Überlieferungen, die durch die archivischen Raster zu fallen drohen. Mit ihr solle die gesamtgesellschaftliche Überlieferung gesichert werden. Voraussetzung dabei sei Verlässlichkeit. Auch Freie Archive könnten Partner in einem Überlieferungsverbund sein, allerdings seien dafür Voraussetzungen sowohl von Seiten Freier Archive wie der öffentlichen Hand zu erfüllen: Auf der einen Seite müssten Freie Archive ihre Sammlungsprofile schärfen, um Doppelüberlieferungen auszuschließen. Auf der anderen Seite müssten sie finanziell so abgesichert sein, dass sie zuverlässige Partner in einem Verbund sein könnten. Zusätzlich zu einer stärkeren finanziellen Unterstützung für Freie Archive betonte Kretzschmar die Notwendigkeit, eine Art Auffangarchiv einzurichten, um Bewegungsarchiven, die aufgeben müssen, eine Bleibe anbieten zu können. Auch er betonte, dass öffentliche Archive aufgrund ihrer Staatsnähe erfahrungsgemäß diese Funktion nicht übernehmen könnten.

Neben der Überlieferung im Verbund als einer Möglichkeit zur Sicherung von Quellen aus sozialen Bewegungen wurde die Option einer Stiftungsgründung diskutiert. MATTHIAS BUCHHOLZ (Berlin) schätzte diese Lösungsmöglichkeit vor dem Hintergrund seiner Arbeit in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur sowohl positiv wie negativ ein. Die Einrichtung der Bundesstiftung habe die Existenz der Oppositionsarchive im Osten zwar sichern können, von einer umfassend absichernden Förderung aller Archive der DDR- Bürgerrechtsbewegung könne aber bei weitem noch nicht gesprochen werden. Neben der Etablierung archivfachlicher Standards in den Ost-Archiven werde Wert auf Archivberatung gelegt und u.a. somit die beiderseitige Vertrauensbildung befördert. Am Beispiel der Havemann-Gesellschaft veranschaulichte er, wie eine sinnvolle Förderung aussehen könnte. Die Havemann-Gesellschaft sei lange in der Projektförderung der Bundesstiftung gewesen, habe ihre Arbeit professionalisiert und werde ab 2018 durch eine Bund-Länder-Finanzierung institutionell gefördert, so dass die Erledigung archivischer Kernaufgaben abgesichert ist. Die Bundesstiftung Aufarbeitung werde mit der Möglichkeit zusätzlicher Projektförderung dabei sein. Er konstatierte eine Schieflage bei der öffentlichen Unterstützung von Archiven der neuen sozialen Bewegungen, die aufgrund der politischen Schwerpunktsetzung die Archive der Bürgerbewegungen im Osten privilegiere und westliche Bewegungsarchive vernachlässige. Generell sehe er derzeit kaum Chancen für eine neue, vom Bund geförderte Stiftung.

ANSGAR KLEIN (Berlin) wies in seinem Beitrag zum Verhältnis von Zivilgesellschaft, Archiven und sozialen Bewegungen auf den Bedarf der heutigen Zivilgesellschaft hin, Wissen zu bündeln, zu managen und als Wissensallmende allen Menschen öffentlich zur Verfügung zu stellen. Archive hätten hier eine besondere Stellung. Sie seien Wissensspeicher für die Zivilgesellschaft und deshalb von öffentlichem Interesse. Sie müssten im Rahmen einer Engagement- und Demokratiepolitik als feste Bestandteile kommunaler Bildungslandschaften etabliert werden. Er machte deutlich, dass die klassische institutionelle Förderung ein Auslaufmodell sei, das Altorganisationen und nicht neue zivilgesellschaftliche Akteure fördere. In der Politik würden derzeit zeitgemäße Förderstrategien diskutiert. Welche Realisierungschancen sie hätten, sei allerdings ungewiss. Erste Ansätze gäbe es z.B. mit der Citizen-Science-Förderrichtlinie. Zudem verwies er auf das Konzept der Strukturförderung, das es ermögliche, auch Vereine mit öffentlichen Aufgaben zu belehnen und sie dafür finanziell zu fördern.

CORNELIA WENZEL (Kassel) schlug abschließend den Bogen zu den Diskussionen im Arbeitskreis Neue Soziale Bewegungen im VdA und dem Positionspapier, dem Anlass für das Fachgespräch. Sie machte deutlich, dass unbezahlte Arbeit und Projektförderung als Lösungen für die Sicherung der Arbeit in Bewegungsarchiven nicht mehr in Frage kämen. Ihrer Meinung nach könne es verschiedene Lösungen geben, die allerdings nicht kostenlos zu haben seien. So müssten die Archive vor Ort, öffentliche wie Freie, verstärkt aufeinander zugehen, zusammenarbeiten und ihre Forderungen in die Politik einbringen. Dafür sei mit dem Positionspapier eine nützliche Argumentationshilfe geschaffen worden. Freie Archive müssten untereinander die Überlieferung im Verbund weiterentwickeln und konsequenter praktizieren. Zusätzlich sei ein mit ausreichenden Mitteln ausgestattetes Auffangarchiv notwendig, das subsidiär arbeiten und als Rückfalloption für aufgebende Bewegungsarchive fungieren müsse.

In der Abschlussdiskussion herrschte Einigkeit darüber, dass die bereits vorhandenen Strukturen immer dort gefördert werden sollten, wo eine Absicherung durch Kommune oder Land bereits vorhanden sei oder möglich scheine. Diese Aufgabe könnte nur von den Archiven vor Ort angegangen werden. Das Subsidiaritätsprinzip stehe nicht zur Debatte.

Die Teilnehmenden des Fachgesprächs waren sich einig, dass darüber hinaus ein Auffangarchiv notwendig sei, um gefährdete Bestände aufnehmen zu können. Ein solches Auffangarchiv solle weitere Aufgaben und Kompetenzen übernehmen. Es müsse so ausgestattet sein, dass es die Koordinierung der Tätigkeiten der Freien Archive unterstützen sowie Beratung und Professionalisierung, Fortbildung und Ausbildung, Netzwerkbildung und die Sicherung von Archivgut übernehmen könne.

Hierzu soll eine Arbeitsgruppe gebildet werden, die einen Projektantrag für eine Machbarkeitsstudie ausarbeitet. Diese Aufgabe wurde an den VdA übertragen.

Das Fachgespräch trug die bisher nur in den Grenzen der archivischen Fachwelt geführte Diskussion über die Überlieferungen der neuen sozialen Bewegungen in Freien Archiven erfolgreich in eine breitere Öffentlichkeit. Neue Unterstützerinnen und Unterstützer konnten gewonnen werden, so dass am Ende der Tagung eine Perspektive für das weitere Vorgehen entwickelt werden konnte.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Moderation: Clemens Rehm, Landesarchiv Baden-Württemberg

Ralf Jacob, VdA - Verband Deutscher Archivarinnen und Archivare e.V.
Reinhart Schwarz, Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS)

I. Bestandsaufnahme

Hintergrund und Intentionen des Positionspapiers
Jürgen Bacia (Arbeitskreis Überlieferungen der Neuen Sozialen Bewegungen)

Dokumente sozialer Bewegungen in Archiven der öffentlichen Hand. Das Bundesarchiv und die Dokumente Sozialer Bewegungen
Michael Hollmann (Präsident des Bundesarchivs)

Dokumente sozialer Bewegungen in Kommunalarchiven
Max Plassmann (Bundeskonferenz der Kommunalarchive)

Dokumente sozialer Bewegungen im Institut für Zeitgeschichte
Klaus Lankheit (Archivleiter des Instituts für Zeitgeschichte)

Erfahrungen und Bedarf der Wissenschaft
Detlef Siegfried (Universität Kopenhagen)

Erfahrungsaustausch

II. Suche nach Lösungen

Überlieferung im Verbund auch mit Freien Archiven?
Robert Kretzschmar (Präsident des Landesarchivs Baden-Württemberg)

Stiftung hilft immer?
Matthias Buchholz (Archivleiter der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED Diktatur)

Zivilgesellschaft, Archive und soziale Bewegungen
Ansgar Klein (Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement)

Problemlösungsideen
Cornelia Wenzel (Arbeitskreis Überlieferungen der Neuen Sozialen Bewegungen)

Diskussion: Wie weiter? Entwicklung konkreter Schritte

Anmerkung:
1 Das Positionspapier „Zur Zukunft der Archive von Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen“ wurde 2016 als Veröffentlichung des VdA herausgegeben, zudem im Mai 2016 im „Archivar“ abgedruckt und auf der Homepage des VdAs veröffentlicht: siehe „Zur Zukunft der Archive von Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen“. Positionspapier des VdAs zu den Überlieferungen der neuen sozialen Bewegungen, in: Der Archivar 2 (2016), S. 179-186; siehe auch: https://www.vda.archiv.net/arbeitskreise/ueberlieferungen-der-neuen-sozialen-bewegungen.html (10.03.2017).


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