Um die Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen kommt in der deutschen Geschichtswissenschaft derzeit kaum jemand herum: beim jüngsten „Historikertag“ (ja, er heißt noch immer so) fand erstmals eine Diskussionsveranstaltung über #metoo in der Geschichtswissenschaft statt, die so viele Menschen verfolgen wollten, dass das vor Ort versammelte Publikum trotz der parallelen Zoom-Übertragung den Raum sprengte und dann in einen größeren Hörsaal wechseln musste. Zwei Tage später rang die Mitgliederversammlung mit der nicht nur vom Arbeitskreis für Historische Frauen- und Geschlechterforschung eingeforderten Verabschiedung des generischen Maskulinums im Titel der zweijährigen zentralen Fachkonferenz. Noch aber hat der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands dazu keine Entscheidung gefällt, und das ist symptomatisch: Der Feminismus als politisch-epistemologisches Projekt hat in den letzten Jahren an Zugkraft gewonnen; politische Strukturen, alltägliche Lebenswelten und auch die Wissenschaften sind deshalb im Wandel. Aber nicht alles findet Zustimmung, der Widerstand ist mitunter massiv, der Ton manchmal sehr scharf, der Frontverlauf verhärtet.
Für die Geschlechtergeschichte kann man diese aktuelle Konstellation ebenso als Steilvorlage sehen wie als Belastung. Sie gilt manchen nicht nur als Fachzusammenhang, sondern immer noch als Politikum, und mitunter werden Geschlechterhistoriker:innen regelrecht bedroht. Gerade in dieser unruhigen Gemengelage ist das auf H-Soz-Kult von fünf namhaften deutschen Historiker:innen vorgelegte Positionspapier „Geschlechtergeschichte. Herausforderungen und Chancen, Perspektiven und Strategien“ besonders wertvoll. Denn es ist auffallend unaufgeregt im Ton sowie differenziert und ausbalanciert in der Sache. Hier werden keine scharfen Attacken gefahren, und es werden auch keine zugespitzten Positionen entwickelt, die den Widerspruch regelrecht provozieren. Stattdessen zielt der Text darauf „aktuelle Diskussionen zu bündeln und neue Debatten anzustoßen“, und zwar immer mit Blick auf das, was die Geschlechtergeschichte in Deutschland in all ihrer Vielfalt, mit ihren zahlreichen koexistierenden, aber auch konkurrierenden Ansätzen und Perspektiven zumindest tendenziell verbindet und was auf dieser Grundlage produktiv diskutiert werden kann. Gebeten um einen Kommentar, möchte ich daher vor allem die Lektüre des Papiers selbst empfehlen, und zwar nicht nur Personen aus der Geschlechtergeschichte, sondern auch solchen, die (noch) nicht in diesem Bereich tätig sind.
Die Autor:innen präsentieren die Geschlechtergeschichte als vielfältiges, lebendiges, fest etabliertes und inzwischen auch stark ausdifferenziertes Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft und bescheinigen dieser eine „bemerkenswerte Erfolgsgeschichte“. Dafür gibt es gute Gründe, gerade in Deutschland. Die Geschlechtergeschichte verfügt hierzulande über renommierte Vertreter:innen, anerkannte Fachorgane und mitgliederstarke Fachvereine, in der deutschen Wissenschaftslandschaft ist sie stabil verankert. Zudem bestehen mit der Geschichtswissenschaft und den Gender Studies gleich zwei akademische Plattformen, auf denen sie potentiell wirken und in deren Rahmen man Geschlechtergeschichte auch studieren kann. Allerdings garantiert diese doppelte institutionelle Verankerung keineswegs, in beiden Bereichen ausreichend gehört zu werden, und auf beiden Seiten steht die Geschlechtergeschichte vor großen Herausforderungen. Das möchte ich im Folgenden erläutern, das Positionspapier dabei aufgreifend, pointierend und weiterdenkend.
Im Spannungsfeld von Gender Studies und Geschichtswissenschaft
Dass die Beziehung der Geschlechtergeschichte zu den Gender Studies keine leichte ist, sprechen die Autor:innen selbst an, die an der geschichtswissenschaftlichen Identität der Geschlechtergeschichte keinen Zweifel lassen. Gleichzeitig sei diese, so wird erinnert, seit ihren Anfängen stark interdisziplinär orientiert und habe viele Anregungen aus anderen Disziplinen aufgenommen. Die Gender Studies „widmen historischen Perspektiven in den letzten Jahren allerdings immer seltener die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Zurzeit dominieren sozialwissenschaftliche Ansätze das Feld. Historiker:innen sollten hier aktiv den Austausch suchen und ihre Kompetenzen einbringen“. Das Positionspapier ruft die Geschlechtergeschichte also dazu auf, einer Versozialwissenschaftlichung der Gender Studies entgegenzuwirken oder zumindest einen bewussten Kontrapunkt zu setzen. Dabei ist die relative Vernachlässigung historischer Perspektiven in den Gender Studies nur das eine Problem. Hinzu kommt, dass sozialwissenschaftliche Perspektiven auch dann noch eingesetzt werden, wenn es um Geschichte geht. Das betrifft einen bestimmten Umgang mit Quellen und die Frage der Übertragbarkeit gegenwartsbezogener Theoreme, aber auch die Funktionen der Auseinandersetzung mit Geschichte: aus intrinsischem Erkenntnisinteresse oder aufgrund des Bedürfnisses, durch die Vergangenheit die Gegenwart zu verstehen, oft auch zu verändern? Geschichtswissenschaft ist eine Pendelbewegung, denn geprägt vom Heute nähert sie sich dem Gestern und kehrt von dort in das Heute zurück, während die Sozialwissenschaften – pointiert gesprochen – ein stärker instrumentelles Verhältnis zur Vergangenheit pflegen.
Das Papier benennt die Marginalisierung historischer Perspektiven in den Gender Studies ungewöhnlich deutlich als neue Herausforderung für die Geschlechtergeschichte. Die alte Herausforderung, nämlich die lange Randständigkeit der Geschlechtergeschichte im eigenen Fach, wird dagegen auffallend wenig problematisiert. „Fragen und Themen“ der Geschlechtergeschichte, heißt es vielmehr zufrieden, „beschäftigen auch den geschichtswissenschaftlichen Mainstream“. Das freilich ist zwar insofern richtig, als viele und auch etablierte Personen Geschlechtergeschichte betreiben – den Status einer Subkultur hat sie weit hinter sich gelassen Aber große Teile des Fachs sind weiterhin erstaunlich „geschlechtsblind“. Mit dieser in der Geschlechtergeschichte früh entwickelten Formel war nicht nur gemeint, dass sich große Teile des Fachs wenig für Geschlechterverhältnisse als Thema interessierten, sondern auch und grundlegender, dass sie die analytische Relevanz von gender als ein historisch gewachsenes Instrument der Strukturierung sozialer, politischer und diskursiver Ordnungen in vielen Bereichen verkennen. Zur Veranschaulichung sei an die Debatten der deutschen und europäischen Bürgertumsforschung erinnert. Dabei ging es um die Frage, ob Frauen (genauer: als Frauen markierte Menschen) vom bürgerlichen Emanzipationsprojekt partiell exkludiert wurden, weil das Projekt ein unabgeschlossenes, unvollendetes war, oder ob ihre Exklusion für die Genese des bürgerlichen Projekts selbst konstitutiv gewesen sei. In dieser zweiten, geschlechterhistorisch informierten Perspektive ist die Analyse bürgerlicher Geschlechterverhältnisse nicht nur für jene relevant, die sich dafür genuin interessieren, sondern für alle anderen auch. Das bürgerliche Projekt, so das Argument, wurde durch eine spezifische Geschlechterdichotomie erst ermöglicht, und wer dieses Projekt verstehen will, der kommt um geschlechterhistorische Perspektiven daher nicht herum – ganz unabhängig davon, ob er oder sie sich sui generis für diese interessierte oder nicht. Bezeichnenderweise hat sich diese geschlechterhistorisch informierte Perspektive in der Bürgertumsforschung nie ganz durchsetzen können, und dieser Befund lässt sich verallgemeinern: zwar hat sich die Geschlechtergeschichte als eigenständiger Bereich in der Geschichtswissenschaft etabliert, aber viele sehen darin weiterhin ein Spezialthema, das mit der eigenen Forschung nichts zu tun hat. Gehen etwa Synthesen pflichtschuldig doch auf Geschlecht ein, dann wird im ungünstigsten Fall ein Abschnitt über Frauen und Familie integriert, was hinter die Einsichten der Geschlechtergeschichte befremdlich zurückfällt. Denn diese behandelt Geschlecht als eine mehrfach relationale Kategorie, die eben nicht deckungsgleich ist mit der Kategorie Frau, die wiederum nicht deckungsgleich ist mit der Kategorie Familie, auch wenn Gelehrte der europäischen Aufklärung genau das behaupteten – mit Effekten bis heute.
Warum wird die partiell immer noch bestehende Geschlechtsblindheit der Geschichtswissenschaften, die im Papier an manchen Stellen durchaus anklingt, nicht als zentrale Herausforderung beschrieben? Nun, dahinter könnte eine gewisse Parzellierung des Fachs stehen, das in sehr unterschiedliche kommunikative Arenen aufgesplittert ist, so dass Historiker:innen aus der Geschlechtergeschichte die Geschlechtsblindheit mancher Kolleg:innen vordergründig wenig tangiert. Auch Defätismus mag eine Rolle spielen. Denn es ist schon ermüdend, mit welcher Nonchalance geschlechterhistorische Perspektiven von manchen Historiker:innen weiterhin abgetan werden und welchen Missverständnissen sie dabei aufsitzen. Noch immer hört man als Antwort auf die Frage, wie ein Projekt mit der Kategorie Geschlecht umgeht: in meiner Forschung geht es vor allem um Männer, zu den Frauen bin ich noch nicht gekommen. Solche Aussagen fallen nicht nur hinter die Einsichten der Geschlechtergeschichte zurück, weil Geschlecht eben nicht gleich Frau ist. Sondern sie sind auch noch tentativ sexistisch. Es wird suggeriert, Frauen trügen zur untersuchten Geschichte nichts bei (was sich bei näherem Hinsehen regelmäßig anders darstellt) und man brauche sich um Geschlecht als Ordnungskategorie nicht kümmern, weil auch sie ein Spezialfall sei, eine Zusatz-Perspektive, die einzunehmen sich nur lohnt, wenn man sich für Randständiges interessiert.
Das Positionspapier könnte solchen immer noch vorkommenden Missverständnissen mit mehr Deutlichkeit begegnen, auch wegen der thematischen Bereiche, die es ausführlicher vorstellt. Es sind vorrangig ausgerechnet solche, in denen es bereits aus Sicht der Akteure dezidiert um Geschlechterverhältnisse geht: Feminismus etwa, Sexualität, queere Identitäten, care-Arbeit unter anderem, auch wissenschaftliche Diskurse über Geschlecht werden erwähnt. Es sei daher an dieser Stelle hinzugefügt, dass die Geschichte heterosexueller weißer Männer in ihren Funktionen als Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler ebenfalls ein hochrelevantes Feld der Geschlechtergeschichte ist und dass alle, die sich mit solchen Akteuren beschäftigen, von einer geschlechterhistorisch informierten Perspektive profitieren können. Darüber hinaus ist Geschlecht zumindest in der westlichen Moderne eine zentrale diskursive Ordnungskategorie gewesen, welche die Entwicklung von Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft, von Recht und Wissenschaft entscheidend geprägt hat. Geschlechtergeschichte behandelt daher eine Strukturkategorie historischen Wandels, die für das Fach insgesamt relevant ist.
Das Papier ist da etwas moderater. Es verortet Geschlechtergeschichte, wenn ich richtig sehe, vorrangig als ein Feld in der Geschichtswissenschaft statt als übergreifende Perspektive und kritischer Reformimpuls potentiell jedweder Geschichtswissenschaft. Auch dafür gibt es gute Argumente. Erstens ist das so abgesteckte Terrain noch immer von eindrucksvoller Größe und es ist zweifellos von enormer Bedeutung. Zweitens ist ein eher arbeitsteiliges Selbstverständnis eine effektive hochschulpolitische Strategie, denn so lassen sich Lehrstühle mit der Denomination Geschlechtergeschichte besonders kohärent begründen und wohl auch leichter durchsetzen. Man lässt den Kolleg:innen ihr Feld und kümmert sich um das eigene. Dennoch ist Geschlecht eine Kategorie, die in vielen Bereichen der Geschichtswissenshaft weiterhin eklatant vernachlässigt wird, obwohl sie so ungemein erkenntnisfördernd ist. Folglich hat die Geschlechtergeschichte über die Bestellung des eigenen Felds hinaus eine doppelte Aufgabe, nämlich die Gender Studies für die historische Veränderbarkeit von Geschlechterkonstruktionen zu sensibilisieren und die Geschichtswissenschaft von der empirischen Relevanz sowie dem analytischen Mehrwert der Kategorie Geschlecht zu überzeugen. Letzteres ist weiterhin wichtig.
Perspektiven: Geschlechtergeschichte im Mainstream
Denn das Interesse an Geschlechterverhältnissen nimmt zwar zu, aber noch immer wird Geschlechtergeschichte als Spezialgebiet abgetan. Außerdem kommt mit dem neuen Interesse ein neues Risiko hinzu: Ebenso wie in den Gender Studies Forschung existiert, die historisch argumentiert, ohne geschichtswissenschaftlich zu sein, könnte es in Zukunft auch vermehrt geschichtswissenschaftliche Studien geben, die sich mit Geschlechterverhältnissen beschäftigen, ohne den politisch-epistemologischen Prämissen der Geschlechtergeschichte zu folgen. Eine antifeministische Geschlechtergeschichte ist nur dann ein Widerspruch in sich, wenn man die Genese dieses Felds als Vermächtnis interpretiert. Wird nicht vereinzelt längst Forschung über Männer verfasst, die diese gegen die angebliche Gender-Mafia verteidigen möchte? Gibt es nicht Projekte, die Geschlechterverhältnisse zum Thema machen (oft geht es auch hier um Männer und Männlichkeiten), ohne antifeministisch zu sein, aber auch, ohne sich in der Geschlechtergeschichte verorten zu wollen? Das wäre durchaus erlaubt, aber weiterführender ist, die geschlechterhistorischen Diskurse der letzten Jahrzehnte zur Kenntnis zu nehmen. Es lässt sich davon viel lernen, es ist wichtig, auf diesem elaborierten Gebiet nicht hinter die differenzierten Erkenntnisse der Forschung zurückzufallen und es ist unnötig, das Rad neu zu erfinden.
Die Geschlechtergeschichte darf sich mithin über das Interesse an ihren Fragen und Themen freuen und sie braucht dringend eigenständige Lehrstühle, von denen aus das Forschungsfeld gezielt gestaltet wird. Aber parallel muss sie weiterhin um die Anerkennung geschlechterhistorischer Perspektiven im Fach insgesamt kämpfen, auch das ist eine zentrale Aufgabe. Die Debatte über die Relevanz der Kategorie Geschlecht in Feldern, die damit vordergründig wenig zu tun zu haben scheinen, ist versandet und könnte wieder aufgegriffen werden. #metoohistory ist ohnehin eine Herausforderung für das Fach insgesamt. Vielleicht ist daher gerade jetzt ein guter Zeitpunkt für einen Neuanfang in einer schwierigen Beziehung. Das Verhältnis von Geschlechtergeschichte und dem Mainstream des Fachs war lange geprägt von asymmetrischen Aufmerksamkeiten und wechselseitigen Vorwürfen. Dieses Stadium lässt das Positionspapier aber eindrucksvoll hinter sich und darin zeigt sich eine neue Souveränität als inzwischen fest etablierter Teilbereich des Mainstreams. Das bildet eine gute Grundlage, um alte Konfliktlinien ad acta zu legen und in das Gespräch zwischen der Geschlechtergeschichte und Anderen im Fach neu einzusteigen. Mit H-Soz-Kult haben die Autor.innen bereits das dazu passende Forum gewählt. Und vielleicht folgt auf den ersten Scoping Workshop ja ein zweiter, nämlich zu Geschlechtergeschichte und Geschichtswissenschaft?