Historisches Verstehen ist nicht nur das Ziel geschichtswissenschaftlicher Hermeneutik, es ist vielmehr in die DNA der Hermeneutik eingeschrieben: Welt und Mensch – eine Grundannahme der Hermeneutik – sind nur in ihrem »Gewordensein« (Johann Gustav Droysen) zu verstehen. Die in der Tradition der Phänomenologie stehende Biographieforschung untersucht Lebensläufe, weil sie dem Paradigma folgt, menschliches Handeln sei das Ergebnis eines Prozesses, habe also immer eine Vorgeschichte. Nur wenn man diese berücksichtigt, sei es möglich, menschliches Handeln zu verstehen. Diese mikrohistorische Perspektive erfährt durch Untersuchungen zur Soziogenese gesellschaftlicher Phänomene ihre makrohistorische Erweiterung. Nicht selten teilt sich der hermeneutisch verfahrende Fächerkanon Quellenkorpora oder Forschungsdaten, die mit je eigenen Perspektiven, Fragestellungen und methodischen Ausprägungen untersucht werden. Durch die Digitalisierung ist das ›hermeneutische Handwerk‹ bedeutenden Veränderungen ausgesetzt. Ob originär digitale Daten/Quellen (»born digital(s)«) oder durch exorbitante Retrodigitalisierungsprojekte verfügbare historische „Big Data“, es gilt Heuristik, Quellenkritik und hermeneutisches Arbeiten grundlegend zu überdenken (vgl. Graham et al. 2016). Eine ganze Fülle von Fragen drängt sich auf. Zum Beispiel:
- Wo liegen Gewinn und Risiken der breiten, spontanen und häufig offenen Verfügbarkeit von Daten/Quellen?
- Was geht bei der Vermittlung durch die Digitalisierung sensorisch verloren?
- Wie sind Originale und Fälschungen im digitalen Raum zu identifizieren?
- Welche Suchmechanismen und Strukturierungswerkzeuge helfen bei der Spurensuche im digitalen Raum? Und wie bestimmen sie darüber mit, was gefunden wird?
- Unterstützen digitale Daten, Computer und Algorithmen den Prozess historischen Verstehens oder droht die digitale Vermittlung auf verschiedenen Ebenen den Erkenntnisgewinn zu verschleiern?
- Wie kann sichergestellt werden, dass durch die auf Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik beruhenden Verfahren maschinellen Lernens die Außenseiter und Randphänomene nicht vom mathematischen Mittelwert verschluckt werden?
- Kann die Geschichtswissenschaft, um zwischen den Disziplinen zu vermitteln, basales Handwerkszeug bereitstellen und bei der Entwicklung algorithmengestützter hermeneutischer Verfahren unterstützen?
Wenn man diesen letzten ›Thread‹ weiterspinnt, stellt sich die Frage, inwiefern hermeneutisches Verstehen auch Perspektiven für die Erforschung Künstlicher Intelligenz bietet: Die fundamentalen Prinzipien des Erfahrens durch Anschauung oder Zuhören kann man auf primitive Weise im massenhaften Sammeln digitaler Daten wiederfinden, auch das diachrone Herleiten und synchrone Einordnen wird je nach Methode beim Training der KI-Modelle angedeutet. Sind hier Synergien zwischen Geisteswissenschaften und Informatik denkbar, um KI-Systeme zu optimieren und gleichzeitig verständlicher zu machen? Diesen Fragen möchten wir im Panel ›Dimensionen historischen Verstehens im digitalen Raum‹ nachgehen, das Beispiele aus der Praxis der Digital Humanities mit methodischen und theoretischen Reflexionen verbindet, und rufen zur Einsendung von Paper Proposals auf.
Ein Vortrag ist auf 20 Minuten (plus 20 Minuten Diskussion) angesetzt. Das Proposal kann auf Deutsch oder Englisch eingereicht werden und sollte nicht mehr als 200 Wörter umfassen.
Die Deadline für Zuschriften ist der 30. November 2021.
Einsendeadresse: dennis.moebus@fernuni-hagen.de
Veranstalter:innen: Dr. Almuth Leh, Dr. Dennis Möbus
Hier finden Sie den vollständigen Sammel-Call für alle vier Panels: https://www.fernuni-hagen.de/forschung/schwerpunkte/digitale-kultur/jahrestagung2022.shtml