Von den ersten Jahren seines Rücktritts und seiner Krankheit bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren das Werk Friedrich Nietzsches sowie seine Person und sein Leben Gegenstand leidenschaftlicher Debatten, die alle Bereiche der Kultur zunächst in Europa und dann weltweit beeinflussten. Weit über das "Phänomen Nietzsche" oder die verschiedenen "Nietzscheanismen" hinaus hatte das Vermögen des Philosophen eine Tragweite, die über eine bloße kulturelle Modeerscheinung hinausging. Nietzsches Philosophie bildete Jahrzehnte lang einen unumgänglichen theoretischen Bezugspunkt, ein Laboratorium von Kategorien und Denkmodellen, auf die sich die unterschiedlichsten Akteurinnen und Akteure des kulturellen und intellektuellen Lebens der Zeit stützten.
Bevor die akademische Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg den Philosophen Nietzsche durch die Etablierung wissenschaftlicher und philologischer Ansätze vor Vorurteilen und voreingenommenen Lesarten bewahrte, hatte Nietzsches Philosophie bereits einen Grad an Verbreitung und Berühmtheit erlangt, die sie zu einer der wichtigsten kulturellen Phänomene des Jahrhunderts machte. Die Aufmerksamkeit unserer Tagung richtet sich auf die ersten Leserinnen und Leser, die noch frei von festen hermeneutischen Schemata waren und auf den Nietzsche "ante litteram", vor dem Kanon. Montinaris Anregung folgend, werden wir uns fragen, was "Nietzsche lesen" in den ersten Jahrzehnten der Rezeption seines Werkes bedeutete. Diese Frage ist von zentraler Bedeutung, denn es handelt sich um die entscheidenden Jahrzehnte, in denen der Philosoph zum Mythos wurde, in denen aber auch ein regelrechter "Kampf um Nietzsche" entbrannte. Dieser führte zu zahlreichen idiosynkratischen Entstellungen seines Denkens, gegen welche die Nietzsche-Kritik bis heute ankämpft.
Im Spektrum der frühen Rezeption des Philosophen werden wir die vielen Wege der Verbreitung seines Denkens verfolgen. Das geschieht durch die Stimmen seiner ersten "Leserinnen und Leser", die- und derjenigen, die ihn persönlich kannten, der Intellektuellen, die ihn zuerst entdeckten oder kritisierten, der Künstlerinnen und Künstler, die sich von ihm inspirieren ließen, der populären und politischen Bewegungen, die sich um ihn scharten, und der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich seine philosophischen Prinzipien zu eigen machten und sie auf ihre spezifischen Forschungsgebiete anwendeten. Ziel dieses Überblicks ist es, zu erforschen, was an diesen ebenso vielfältigen wie reichhaltigen und freien Zugängen zu Nietzsches Denken originell, gültig und potenziell produktiv war. Zugleich sollen auch die Quellen der bis heute andauernden Vorurteile gegenüber Nietzsches Philosophie identifiziert und wo möglich falsifiziert werden.
Die Beiträge können sich mit den verschiedenen Nietzsche-Lesarten befassen, die die Etappen seines europäischen und weltweiten Erfolgs zwischen den 1890er und den 1930er-Jahren prägten. Sie können auch die Rolle von Nietzsches Philosophie im Denken und Wirken von Vertreterinnen und Vertretern solch unterschiedlicher Wissensgebiete wie der Philosophie, der Kulturkritik, der religiösen Erneuerung, des Sozialismus, des Konservatismus, des Zionismus, des Feminismus, der utopischen Entwürfe, der dystopischen Prophetien, der Kunst, der Musik, der Literatur sowie der Psychoanalyse und Anthropologie, der Kunstgeschichte, Religions- und Literaturwissenschaft betreffen.
Sektionen:
1. Nietzsche im Spiegel seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen
2. Nietzsche in Literatur und Kunst
3. Nietzsche zwischen utopischen Bewegungen und Gesellschaftskritik
4. Nietzsche und die Humanwissenschaften
5. Der Kampf um Nietzsche
Keyspeakers:
- Steven Aschheim (Hebrew University of Jerusalem)
- Christian Benne (København Universitet)
- Scarlett Marton (Universidade de São Paulo)
- Paul Bishop (Glasgow University)
- Vivetta Vivarelli (Università degli Studi di Firenze)
- Hans Gerald Hödl (Universität Wien)
- Katharina Grätz (Universität Freiburg)
- Graham Parks (Universität Wien)
Abstract (max. 350 Wörter) und CV bis zum 31. Mai 2023 an: info@nietzsche-gesellschaft.de.