Das Ende aller Gewissheiten und die (De-)Stabilisierung von Begriffen - Perspektiven einer Begriffsgeschichte der Gegenwart

Das Ende aller Gewissheiten und die (De-)Stabilisierung von Begriffen - Perspektiven einer Begriffsgeschichte der Gegenwart

Veranstalter
Rüdiger Graf und Martina Steber (ZZF Potsdam und IfZ München-Berlin)
Ausrichter
ZZF Potsdam und IfZ München-Berlin
Veranstaltungsort
Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF)
PLZ
14467
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
05.10.2023 - 06.10.2023
Deadline
03.10.2023
Von
Rüdiger Graf, Abteilung II: Wissen, Wirtschaft, Politik, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Workshop zur Begriffsgeschichte des Faktischen in der Gegenwart

Das Ende aller Gewissheiten und die (De-)Stabilisierung von Begriffen - Perspektiven einer Begriffsgeschichte der Gegenwart

Ein Paradox der jüngsten Diskussionen um „fake news“, „post truth“ und „alternative Fakten“ besteht darin, dass in ihnen alles umstritten ist außer dem Begriff des Faktums selbst. Unbeeindruckt von der postmodernen Dekonstruktion wissenschaftstheoretischer Großbegriffe wie Wahrheit oder Objektivität im angeblichen Übergang von der Moderne zur Postmoderne seit den 1970er Jahren protestierten Wissenschaftler:innen 2017 im „March of Science“ für die Anerkennung ihrer empirisch fundierten Wahrheitsansprüche. In den konfligierenden und einander oftmals diametral widersprechenden Weltdeutungen bezeichnet „Faktum“ auf allen Seiten scheinbar das gleiche: eine angemessene Repräsentation der Welt mit Orientierungsfunktion. Obwohl Herleitung und Begründung des Faktischen markant differieren können, wird dennoch der Begriff gerade im Konflikt gestärkt. Diese begriffliche Stabilisierung widerspricht gängigen Hypothesen über die Entwicklung der Begriffsgeschichte im „Age of Fracture“ (Daniel T. Rodgers), die angesichts der sozio-kulturellen Pluralisierung und der Intensitätssteigerung politischer Konflikte eher eine Verflüssigung, Auflösung oder den Zerfall der Grundbegriffe zur Deutung der politisch-sozialen Welt nahelegen.

Von dieser Beobachtung ausgehend, wollen wir in dem geplanten Workshop zentrale Begriffe zur Beschreibung der Realität untersuchen und danach fragen, ob diese angesichts der Pluralisierung von Weltdeutungen seit den 1970er Jahren und vor allem in den zunehmenden Konflikten über das Faktische – also darüber, was der Fall ist – stabilisiert oder destabilisiert wurden. Auf diese Weise wollen wir den Formen und Ursachen des begrifflichen Wandels in den intellektuellen und politischen Auseinandersetzungen um die Ausdeutung der Welt im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert nachgehen. War gerade der soziale, ökonomische und politische Dissens, war die Infragestellung der Begriffe der Moderne dazu geeignet, begrifflichen Konsens zu erzeugen? Oder unterminierte er vielmehr die Leitbegriffe einer wissenschaftlich gestützten Deutung der Welt wie etwa „Wirklichkeit“, „Wissenschaft“, „Tatsache“, „Risiko“, „Krise“ oder „Differenz“? Was trat gegebenenfalls an ihre Stelle? Und welchen Grad der Stabilität konnten sollte Begriffe erreichen?

Um diese Frage nach der Fragilität und Stabilität von Begriffen zur Beschreibung des Faktischen unter den Bedingungen sich wandelnder massenmedialer Ensembles, globaler Kommunikation in der Leitsprache des Englischen und einer zunehmenden Zahl von Sinnproduzent:innen zu beantworten, sollen die Beiträge über die klassische Begriffsgeschichte hinausgehen. Im Sinne einer historischen Semantik und der Einsicht, dass die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache ist (Ludwig Wittgenstein), sollen sie sowohl konkrete Situationen des Begriffsgebrauchs untersuchen als auch auf digitale Analysen großer Textkorpora zurückgreifen.

Programm

Donnerstag, 05. Oktober 2023

13.30 – 14.00
Begrüßung und Einführung

14.00 – 16.00
Was der Fall ist…

Martina Steber (IfZ, München/Augsburg): Auf dem Boden der „Wirklichkeit“. Antitotalitärer Konsens und politische Sprache in der Bonner Republik
Ernst Müller / Alexander Friedrich (ZfL, Berlin): „Die Fakten stimmen nicht!“ Zur Begriffsgeschichte der Tatsache im vor- und postfaktischen Zeitalter
Moderation: Michael Homberg (ZZF)

16.00 – 16.30
Kaffeepause

16.30 – 18.45
Soziale Beziehungen

Christiane Reinecke (Flensburg): Über Ungleichheit anders sprechen? Zur transnationalen Karriere des Diskriminierungsbegriffs in sozialen Kämpfen und Diskursen
Sina Steglich (München): Das Ich als Vorbehalt. „Sorge“ als Argument in öffentlichen Auseinandersetzungen
Kristoffer Klammer (Freiburg): „Autorität“ und „Wahrheit“ im 20. Jahrhundert – eine Geschichte semantischer Destabilisierung?
Moderation: Martina Steber (IfZ, München/Augsburg)

19.00
Gemeinsames Abendessen

Freitag, 06. Oktober 2023

9.00 – 10.30
Wissenschaftliches Wissen

Désirée Schauz (ZZF, Potsdam): Der Ruf nach wissenschaftlicher Evidenz. Zur semantischen Dynamik von „Wissenschaft“ im Zeichen medialer Kommunikation
Franziska Rehlinghaus (Göttingen): Zeichen, Mutmaßungen und Evidenz – Die vermeintliche Gewissheit des „Indikators“
Moderation: Barbara Picht (ZfL, Berlin)

10.30 – 10.45
Kaffeepause

10.45 – 13.00
Unsichere Zukünfte

Christian Geulen (Koblenz): Die „Krise“ als Konsens: Erfahrung und Erwartung seit 1970
Rüdiger Graf (ZZF, Potsdam): Der Aufstieg des „Risikos“ zwischen Verunsicherung und Kalkulierbarkeit
Simon Specht (ZZF, Potsdam): „Fortschritt sichern“? Gebrauchssituationen eines Grundbegriffs zwischen Erwartung und Gestaltung
Moderation: Falko Schmieder (ZfL Berlin)

13.00 – 14.00
Mittagspause

14.00 – 15.00
Abschlussdiskussion
Kommentar: Willibald Steinmetz (Bielefeld)
Moderation: Rüdiger Graf (ZZF Potsdam)

Kontakt

Professor Dr. Rüdiger Graf
Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Am Neuen Markt 1
14467 Potsdam
graf@zzf-potsdam.de

https://zzf-potsdam.de/en/veranstaltungen/das-ende-aller-gewissheiten-die-de-stabilisierung-von-begriffen-perspektiven-einer
Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger