Robert Loth, Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin
Donnerstag, den 11. Januar 2024 ‒ 19:15 Uhr
Hartmut Böhme: »Schlaf der Vernunft: Zur politischen Deutung von Müdigkeit, Schlaf, Schlafwandeln, Traum und Erwachen«
‒ mit Ulrike Vedder
Ausgehend von Francisco Goyas Capriccios zum »Schlaf der Vernunft« werden wesentliche Zustände sowie Grenzphänomene des Schlafes untersucht. Nach einer überblicksförmigen Sicherung der wesentlichen Phänomene des Schlafes werden die semantischen Felder skizziert, die dazu geführt haben, dass Erscheinungsweisen und Praktiken des Schlafes metaphorisch gedeutet wurden. Dadurch wurden z.B. Müdigkeit, Schlaf, Schlafwandeln, Traum und Erwachen, die eigentlich leibliche und phantasmatische Zustände oder Vorgänge sind, zu ›Quellgebieten‹ von Metaphern: diese fügten den politischen Zuständen oder Handlungen kulturellen ›Sinn‹ hinzu. So wurden dem politischen System Bedeutungsebenen implantiert, welche die Begrenzung des Politischen auf das Bewusste und Diskursive als definierende Merkmale der Politik infragestellen oder gar aufheben. Halluzinatorische oder somnambule Kollektiv-Zustände gehören demnach ebenso zum Politischen wie traumartige Illusionen oder eine erschöpfende Fatigue von je einzelnen Subjekten. Aber auch politische Aufbruchsbewegungen können als ‚Erwachen‘ aus einem allgemeinen Zustand des Dämmerns und des Unbewussten gedeutet werden. Im 20. Jahrhundert wurden die pharmazeutischen und toxischen Mittel entscheidend, die sämtliche Ebenen und Grenzzustände des Schlafes in ein ‚Regime‘ verwandeln. Hat diese ‚Verkünstlichung‘ des Schlafes und des Wachens auch eine regulative, womöglich anästhetisierende und manipulative Kraft im Politischen entwickelt? – Naturwissenschaftliche Perspektiven auf den Schlaf werden hier nicht zum Thema. Vielmehr werden Spuren der Sprache und der kulturellen Imagologie verfolgt, welche unsere Sicht auf die Politik erweitern können.
HARTMUT BÖHME: Literatur- und Kulturwissenschaftler, bis zu seiner Emeritierung Professor für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin; Böhme war Leiter verschiedener Forschungs-Projekte – unter anderem des Sonderforschungsbereichs Transformationen der Antike, des Graduiertenkollegs Codierungen der Gewalt im medialen Wandel; Gastprofessor an verschiedenen Universitäten in den USA und in Japan sowie Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie in Weimar und am kulturwissenschaftlichen Institut Essen; zu seinen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkten gehört neben der Kulturtheorie und der Literaturgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert die Kulturgeschichte seit der Antike, die Theorie und Geschichte des Fetischismus, die Wissenschafts- und Bildgeschichte und die historische Anthropologie und Psychohistorie.
Donnerstag, den 25. Januar 2024 ‒ 19:15 Uhr
Samantha Harvey: »Brain on Fire: Insomnia and Sleepwriting«
‒ mit Stefan Willer
Über den Zusammenhang von Schlaflosigkeit und Kreativität ist viel gesagt und geschrieben worden, und diese Diskussionen konzentrieren sich oft auf einen einseitigen kausalen Zusammenhang von Kreativität als einer Ursache für Schlaflosigkeit. »Ich glaube, diese Schlaflosigkeit kommt nur daher, daß ich schreibe«, schreibt Kafka in seinen Tagebüchern. Dies wiederum führt zu einer Vielzahl von Künstlern und Schriftstellern, die unter Schlaflosigkeit gelitten haben, und zu vielen Anekdoten, die sich um das drehen, was die Schriftstellerin Marie Darrieussecq »die Fantasie der Auserwählten« nennt – die Vorstellung, dass Schlaflosigkeit symptomatisch für einen überdurchschnittlich klugen, wachen und erhabenen Geist ist; einen Geist, der in jedem Sinne des Wortes wach ist. Was aber ist mit dem umgekehrten Zusammenhang von Schlaflosigkeit und Kreativität? Nicht dass, inwiefern oder warum Kreativität Schlaflosigkeit verursacht, steht dann in Frage, sondern vielmehr die Auswirkungen von Schlaflosigkeit auf die Kreativität. Wie wirkt sich Schlafentzug auf den Akt des künstlerischen Schaffens aus? Welche Rolle spielt vor allem das Schreiben im Leben eines Schlaflosen – was bedeutet es, mit einem ›brain on fire‹ zu schreiben?
Der Vortrag befasst sich mit etwas, was man als »Sleepwriting« bezeichnen könnte – Schreiben in der Dämmerungszone extremen Schlafentzugs, Schreiben als Ersatz für Schlaf. Kann Schreiben eine Form des luziden Träumens sein, ein Surrogat für das, was in wachen Nächten fehlt? Vielleicht ein Weg, um unbewusste Prozesse auszudrücken und zu sortieren; ein Mittel der Vernunft und ein Weg zurück ins Leben, um sich lebendig zu fühlen? Der Vortrag sondiert diesen Bereich des »Sleepwriting«, um zu hinterfragen, wie die Schlaflosigkeit die Kreativität eines Schriftstellers anregt und beeinflusst, was verloren geht, wenn der Schlaf unzureichend oder nicht vorhanden ist, und was es dort zu finden gibt.
SAMANTHA HARVEY: Britische Autorin, Senior Lecturer für creative writing an der Bath Spa University; seit ihrem Debüt »The Wilderness« (2009) veröffentliche Harvey drei weitere Romane, die von der Kritik äußerst positiv aufgenommen und für den Man Booker Prize, den Orange Prize und den Guardian First Book Award nominiert wurden; in deutscher Sprache erschien zuletzt 2022 »Das Jahr ohne Schlaf« bei Hanser Berlin.
Die Lecture findet in englischer Sprache statt.
Donnerstag, den 08. Februar 2024 ‒ 19:15 Uhr
Michael Hochgeschwender: »Evangelikalismus und wokeness: Zur gesellschaftlichen Funktion der Semantik des Erwachens«
‒ Ethel Matala de Mazza
Neuzeitliche religiöse Erweckungsbewegungen und die postmoderne Wokeness bezeichnen höchst vage Größen, da es sich in der Regel um Fremdzuschreibungen handelt oder wenigstens um Selbstzuschreibungen, die dann im gesellschaftlichen Diskurs umgedeutet wurden. Allein dies macht es schwer, Inhalte und Ziele präzise zu bestimmen. Vor allem aber beziehen sie sich, gleichgültig wie man sie genau versteht, auf höchst unterschiedliche Grade von Wachheit. Während nämlich religiöse Erweckungsbewegungen einen Prozeß des Erwachens in den Mittelpunkt stellen, verlangt Wokeness Wachsamkeit. Dennoch gilt auch umgekehrt: Religiöse Erweckung verlangt nach Wachsamkeit, Wokeness nach einer Form des Erwachens, wobei beide im „Schlaf“ einen negativen Bezugspunkt finden. Der Vortrag geht anhand von Beispielen aus den USA der Frage nach, was jeweils unter „Schlafen“, „Erwachen“ und „Wachsamkeit“ verstanden wird und welche gesellschaftlichen und politischen Folgen dieses Verständnis nach sich zieht.
MICHAEL HOCHGESCHWENDER: Kulturhistoriker, Professor für nordamerikanische Kulturgeschichte, empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie an der Ludwig-Maximilians Universität München; seine Forschungsinteressen gelten vor allem der Geschichte der USA in der Antebellums- und Bürgerkriegsepoche sowie in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg, der Frauen- und Geschlechtergeschichte der USA, der Geschichte des US-amerikanischen Katholizismus, der Westernisierung und der Kulturgeschichte des Kalten Krieges; Hochgeschwender ist im Beirat der deutschen Gesellschaft für Amerikastudien und Autor zahlreicher Bücher zur Religions- und Kulturgeschichte der USA.