Literatur als eine Form der Konfrontation mit der Wirklichkeit und zugleich der Entwicklung von Möglichkeitsräumen über diese Wirklichkeit hinaus, hat sich in der Moderne zu einem der zentralen und vielfältigen Mittel des Widerstands entwickelt. Der Kampf gegen politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Missstände, wie er der klassischen Widerstandsliteratur eigen ist, wird in seinen Möglichkeiten und seiner Komplexität noch potenziert, wenn sich der Gestus des Widerstands aus einer Situation doppelter Defizienz heraus bildet. Der Status als Teil einer a priori ihrer Rechte nicht sicheren, zeitweise aktiv verfolgten Minderheit konnte und kann ebenso lähmend wirken, wie er andererseits die Notwendigkeit von Widerstand im Bewusstsein von jüdischen und jüdisch gelesenen Literatinnen und Literaten besonders deutlich hervortreten lassen konnte und kann.
Die Ambiguität des Widerstandsbegriffs in der europäisch-jüdischen Literatur hat denn auch zur Folge, dass sich der Ausdruck des Widerstands in ganz unterschiedlicher Weise ausdrückte – er konnte sich einfügen in allgemeine Widerstandsbewegungen wie die marxistische (etwa bei Anna Seghers oder Walter Benjamin), konnte aber gerade auch aufgrund der jüdischen Zugehörigkeit, bzw. Abstammung ein Alleinstellungsmerkmal und Inkompatibilität mit breiter formierten Widerstandsbewegungen markieren (etwa bei Heinrich Heine).
Mit dem Überhandnehmen totalitärer Systeme sowohl in Europa seit den 1920er und dann insbesondere in den 1930er Jahre, von denen gerade aus jüdischer Sicht die NS-Herrschaft in zunehmendem Masse als existenzbedrohend wahrgenommen wurde, erhielt der Begriff des Widerstands eine nochmals weit brisantere Bedeutung, sowohl was die Dringlichkeit wie auch was (v.a. im sich ausweitenden Machtbereich des Dritten Reiches) die Bedrohung betraf, die damit verbunden war. In den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit wurden gerade bewaffnete oder in anderer Weise aktivistische Erscheinungsformen des Widerstands gegen den NS-Macht- und verfolgungsapparat von verschiedenen Systemen als Legitimationsgrundlage der Gesellschaft instrumentalisiert, was einer Anerkennung subtilerer Formen des Widerstands, wie sie literarisch u.a. in privaten Aufzeichnungen (Tagebüchern, Lyrik, Briefen, privaten Aufzeichnungen etc.) geleistet wurden, lange im Weg stand.
Die im Laufe der Geschichte erfolgte retrospektive «Privatisierung» des Widerstands soll aber nicht verdecken, dass es gerade auch im Umgang mit der Vergangenheit selbst – Widerstandsliteratur gibt, sei es gegen das «Gedächtnistheater» in Deutschland (Y. Michal Bodemann / Max Czollek), gegen die Reinwaschung eigener Nationalgeschichten in Ländern Osteuropas, aber auch gegen die Ausblendung von dunklen Flecken in der Geschichte Israels.
Auf der Basis dieser historischen Entwicklung wollen wir folgende Aspekteins Zentrum unserer Konferenz stellen:
- Literatur als Erinnerung und als Widerstand gegen das Vergessen
- Literatur als Widerstand gegen kollektive Vereinnahmungs- und Klitterungsdiskurse
- Literatur als Mittel des Widerstands in totalitären Systemen (gegen das allgemeine Schweigen, gegen das eigene Verstummen)
- Jüdisch-literarische Einordnung in allgemeinere Aspekte des Widerstands (politische Richtungen, Pazifismus etc.)
- Jüdische Literatur als Mittel der Sperrigkeit gegen Kulturestablishments (Broken German, transmigrantisches Schreiben)
- Gesellschaftliche Teilhabe durch Desintegration
Wir bitten um die Einreichung von bis zu 500 Wörter umfassenden Abstracts bis zum 15.4.2024 an Kathrin Schwarz unter info@association-ejls.eu. Für Teilnehmende wird ein Beitrag von 70,- Euro fällig, der aber bereits zwei Jahre Mitgliedschaft in der EJLS inkludiert (regulärer Jahresbeitrag 40,- Euro).
Alfred Bodenheimer, Zentrum für Jüdische Studien an der Universität Basel
Judith Müller, Buber-Rosenzweig-Institut, Goethe-Universität Frankfurt am Main