In den letzten Jahrzehnten hat sich der Computereinsatz im Methodenspektrum der Geistes- und Kulturwissenschaften etabliert. Parallel dazu haben sich die { Digital Humanities / digitalen Geisteswissenschaften } zu einem eigenen Forschungsbereich mit entsprechenden akademischen Strukturen entwickelt – es gibt einen Dachverband, Fachzeitschriften, -konferenzen, -professuren und -studiengänge, auch spezielle Förderprogramme und Drittmittellinien. Daneben existieren Begriffe und Selbstverortungen wie Computational Humanities, eHumanities, digitale Methoden in den Geisteswissenschaften oder fachspezifische Ausprägungen wie Digital History oder Computerlinguistik, um nur einige zu nennen. Über Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowohl mit den traditionellen Fächern als auch untereinander wird lebendig und ambivalent diskutiert; die Frage nach der Verortung in Fakultäten, im Studienkanon und Fächerspektrum ist bei sehr unterschiedlichen Antworten offen. Ebenso kann man festhalten, dass es weder eine über alle Fächergrenzen hinweg gleichförmig ablaufende oder global einheitliche Entwicklung mit nur wenigen Traditionssträngen gab, sondern vielfältige Ansätze und Versuche an sehr unterschiedlichen Orten.
Diese wechselvollen Entwicklungsgänge sollen im geplanten Sammelband nachvollzogen und weitergeschrieben werden. Sie beginnen in den 1940er Jahren, laufen über die wichtige – mit der eigentlichen Prägung des Begriffs Digital Humanities (DH) – verbundene Konsolidierung in den frühen 2000er Jahren und über mehrere shifts und turns bis zur unmittelbaren Gegenwart mit einem facettenreichen, inzwischen institutionell fest verankerten interdisziplinären Spektrum. Es soll kritisch hinterfragt werden, welche Implikationen diese Entwicklungen für das disziplinäre Selbstverständnis der Geistes- und Kulturwissenschaften mit sich gebracht haben und welche epistemischen Versprechen digitale Methoden zeitigen. Ebenfalls wird gefragt, inwieweit die transformativen Potenziale des Computereinsatzes in den Geisteswissenschaften für die aktuelle Forschungslandschaft, aber auch die breite Öffentlichkeit, bereits ausgeschöpft werden. Über allem schwebt die Frage nach der Zukunft und Einheit der DH, die eng verwoben ist mit Herausforderungen der Curriculargestaltung und der akademischen Selbstorganisation.
Geleitet wird die geplante Publikation insbesondere von der Frage, inwieweit die Praxis der DH durch die Zeit und Struktur, in der sie stattfindet, verändert wird. Der Fokus der Betrachtung soll auf dem deutschsprachigen Raum liegen und der Nachzeichnung lokal verorteter wie internationaler Geschichte(n) und Ausprägungen der digitalen Geisteswissenschaften im deutschsprachigen Raum multiperspektivisch und multimodal Raum geben. Dies geschieht angesichts des Bewusstseins, dass Digital Humanists, obwohl sie einer globalen Gemeinschaft angehören, in nationalen und lokalen Kontexten arbeiten. Gibt es lokale, föderale oder nationale Eigenheiten, die eine besondere Tradition prägen oder anschlussfähig sind, die sich erst im internationalen Vergleich aufzeigen lassen – sei es mit Blick auf die besondere Rolle der “Kleinen Fächer”, sei es in Hinblick auf Universitätsstrukturen, sei es auf eine eigenständige “kontinentale” Traditionslinie? Die geplante Publikation bietet daher Raum für eine kritische Betrachtung der hochgradig spezifischen und zeitlich wie örtlich geprägten Vielzahl der technologischen Manipulationen und Eingriffe in die Materialien, mit denen Digital Humanists arbeiten, und der Ausprägungen der Digital Humanities in regional und sprachlich bedingten Kontexten.
Die geplante Publikation hat folgende Ziele:
1) Anregungen zu geben, die DH in ihrer Vielfalt historisch zu erforschen;
2) aktuelle Aktivitäten und Initiativen der DH vor ihrem historischen Hintergrund kritisch zu analysieren und weiterzudenken;
3) kreative Überlegungen dazu zu fördern, wie zukünftig sichergestellt werden kann, dass die DH zum Wissen und Verständnis von menschlichen Äußerungen, Handlungen und kulturellen Akten beitragen.
Die Herausgeber:innen des Sammelbandes verfolgen dabei einen offenen und inklusiven Ansatz: Die lineare, chronologische Geschichte (grand narrative) soll durch die Anlage als Triptychon “aufgebrochen” werden, um einer Vielzahl von Perspektiven und Stimmen Raum zu geben. Dabei geht es nicht nur um die kritische Betrachtung von Gründungsmythen oder das Aufzeigen von Pionierleistungen, Trends und Brüchen. Es geht auch darum, kritisch zu hinterfragen, wer mit im Big Tent der DH sitzen darf, welche Stimmen bislang ungehört oder unterrepräsentiert sind. Des Weiteren sollen auch traditionelle Formen des wissenschaftlichen Publizierens in den Geisteswissenschaften aufgebrochen werden. Dies ist auch deshalb spannend, weil die DH selbst bereits eine beträchtliche Menge an Varianten und Ephemera sichtbar gemacht oder erzeugt haben: eine Vielzahl an „born-digital“, „digitized“ sowie “traditionelle” Forschungsdaten – von beruflichen E-Mails bis hin zu persönlichen Tweets.
Die multiperspektivische, ein monolithisches Verständnis der DH ablehnende Herangehensweise soll die unterschiedliche disziplinären und interdisziplinären Kontexte der Wissensproduktionen der DH am Schnittpunkt von Geistes- und Kulturwissenschaften, Informatik, Informationsverarbeitung und Informationswissenschaft sowie changierende internationale, nationale und lokale Strukturen und Kontexte aufzeigen.
Die Herausgeber:innen planen in Teilkoordination folgende Bestandteile des Triptychons:
- Melanie Seltmann + Christopher Nunn: BE-FORSCHEN: “klassische” Artikel
- Ulrike Wuttke + Anne Baillot IN EIGENEN WORTEN: audio(visuelle) Formate (TBA)
- Christian Schröter (geb. Vater) + Christian Wachter: ARTEFAKTE: Artefaktbiografien zu Fallbeispielen des Computereinsatzes in den Geisteswissenschaften
Wir bitten um Abstracts von 1200 Zeichen (mit Leerzeichen) auf Deutsch oder Englisch bis zum 14.05.2024 für die Kategorien BE-FORSCHEN oder ARTEFAKTE. Bitte beachten Sie: Für das Format In eigenen Worten ist eine individuelle Ansprache geplant und sind momentan keine Abstracts einreichbar.
Wir laden potenzielle Beitragende dazu ein, diverse Themen und Perspektiven als Vorschlag einzubringen, z. B. aus den Bereichen:
- Wissenschaftsgeschichte,
- Organisationsgeschichte,
- Technikgeschichte,
- fachliche Verortungen in Kontinuität und Wandel,
- Perspektiven von Einzelfächern,
- beachtenswerte lokale Initiativen,
- objektorientierte Betrachtungen,
- Gender, Diversity, Empowerment,
- Kritik,
- Mehrsprachigkeit, Repräsentativität,
- (Irr- und Holz-)Wege
- …
Bitte senden Sie Ihre Vorschläge an die Herausgeber:innen: global-local-dh@listserv.dfn.de
Für Fragen können Sie sich an die korrespondierende Hauptherausgeberin Ulrike Wuttke unter der gleichen E-Mail-Adresse wenden: global-local-dh@listserv.dfn.de
Auch die Nominierung Dritter ist möglich: Haben Sie einen interessanten thematischen Vorschlag, bringen Sie uns in Kontakt oder geben Sie uns einen Hinweis.
Die Publikation ist als Open-Access-Publikation mit externem Review unter der Lizenz CC-BY 4.0 bei Melusina Press geplant (Erscheinungsdatum voraussichtlich Ende 2025).
Wir freuen uns auf Ihre Einreichungen!
Mit freundlichen Grüßen
Ulrike Wuttke, Melanie Seltmann, Christian Schröter (geb. Vater), Anne Baillot, Christian Wachter und Christopher Nunn