Der Weg Europas zur wirtschaftlichen, technologischen und militärischen globalen Dominanz wird über die Epochengrenzen kontrovers diskutiert. Eine der Argumentationslinien verweist darauf, dass Europa bereits im Mittelalter einen Sonderweg eingeschlagen habe, der seinen Vorsprung vor dem Rest der Welt erklären kann. Obwohl zuweilen die Befürchtung geäußert wurde, dass durch diese Art der Heuristik eine neue teleologische Meistererzählung geschaffen werden könnte, gibt es unseres Dafürhaltens eine Reihe interessanter “Bottom-Up” Ansätze, die mittelalterliche Grundlagen dieser Entwicklung beschreiben können, ohne sie in eine teleologische Fortschrittserzählung einbinden zu müssen. In diese Richtung weisen beispielsweise die Studien von Jan Luiten van Zanden und Bas van Bavel. Ursachen, Verlauf und Folgen der sogenannten “kommerziellen Revolution” im hohen Mittelalter (11.-13. Jahrhundert) werden seit Jahrzehnten erforscht. In diesem Workshop sollen die Phänomene, die in der Forschung unter diesem Schlagwort zusammengefasst werden, diskutiert werden. Zumeist fokussiert die Forschung nach wie vor auf den Fernhandel und die Urbanisierung als treibende Kräfte hinter dieser Entwicklung. Wir denken, dass es noch andere wichtige Ereignisse des Hoch- und Spätmittelalters gegeben hat, die zur Ausbildung dynamischer Wirtschaftssysteme beigetragen haben. Zuletzt äußerte Chris Wickham Zweifel, ob die Konzentration auf Fernhandelsaktivitäten und die damit verbundene Idealisierung der innovativ-unternehmerischen, städtischen Kaufmannschaft den tatsächlichen Kern dieser Entwicklung treffe und stattdessen regionaler Handel als Grundlage der wirtschaftlichen Expansion stärker in den Blick genommen werden müsste (Wickham, Chris, The Donkey and the Boat. Reinterpreting the Mediterranean Economy 950-1180, Oxford 2023).
Wir möchten mit diesem Workshop einen weiteren, in wirtschaftshistorischen Betrachtungen häufig nur marginal betrachteten Faktor in die Diskussion einbringen: Die lateineuropäische Kirche, ihre Institutionen und Frömmigkeit als ein handfester Multiplikator wirtschaftlicher Aktivität. Die 2018 im Nachgang der Reichenau-Tagung „Die Kurie und das Geld“ veröffentlichten Thesen können ein Ausgangspunkt sein, um vertiefend über einige der dort aufgeworfenen Fragenkomplexe nachzudenken (Maleczek, Werner (Hg.), Die römische Kurie und das Geld. Von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zum frühen 14. Jahrhundert, Ostfildern 2018 (Vorträge und Forschungen 85), S. 24.). Dabei ist vor allem zu diskutieren, welche Rolle die Kirche in der Ausweitung von Kreditsystemen und Kapitalanlagestrukturen einnahm.
Hier sind unseres Erachtens zwei Aspekte bedenkenswert:
1. Nach empfindlichen Verkleinerungen des direkten päpstlichen Herrschaftsraumes war die Kurie zum Funktionserhalt des päpstlichen Hofs zunehmend auf zunächst als Geschenke getarnte und schließlich als Servitien und Annaten institutionalisierte Geldzahlungen angewiesen. Die Wechselwirkungen dieser Entwicklung auf die Wirtschaft wurden bislang noch nicht ausreichend untersucht – ein höchst erstaunlicher Befund hinsichtlich der Bedeutung, die dem Einfluss von „lordly demand“ auf wirtschaftliche Transformationsprozesse zugeschrieben wird. Ein entscheidender Schritt, um den Einfluss der Entwicklung des kurialen Zahlungsverkehrs in der Frühzeit mit der Entstehung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs in Verbindung zu bringen, ist es, Quellen womöglich sogar aus dem 12. Jahrhundert zu finden, an denen dieser Prozess zu beobachten sein kann. Verdächtig könnten hier die Privatarchive italienischer Bankiersfamilien oder notarielle Überlieferung sein. Es ist möglich, dass es lokalgeschichtliche Studien gibt, die diese Bestände aufgearbeitet haben, diese aber noch nicht unter der hier entwickelten Fragestellung eingebunden wurden.
2. Städte (und deren Kaufmannschaft) werden von der Forschung als Trägerzentren der kommerziellen Revolution betrachtet. Bekanntlich spielten geistliche Institutionen (Kirchenfabriken, Hospitäler) eine große Rolle in der Ausweitung städtischer Wirtschaftsaktivitäten im Umland – während dies in einzelnen Städten bereits gut untersucht wurde, muss der Befund noch systematisiert und in größere wirtschafts-, stadt- und kirchenhistorische Entwicklungslinien eingeordnet werden. Gleichzeitig ist zu fragen, welche Einflüsse die Kirche(n) auf die institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung der Städte hat(ten). War eine regional und überregional entfaltete Stadtwirtschaft Grundvoraussetzung für die Entwicklung eines bargeldlosen Kredit- und Wechselsystems, oder stieß die Verbreitung dieses Systems durch das kirchliche Pfründenwesen überhaupt erst Institutionalisierung und Verrechtlichung innerhalb der Städte an? Dabei kann geprüft werden, ob eine florierende Pfründen- und damit Geldwirtschaft entscheidend für die weitere städtische Entwicklung im späten Mittelalter war und ob dieser Faktor grundsätzlich in kleinen und mittleren Städten zunächst fehlte.
Gemein ist diesem Themenkomplex das webersche Zurechnungsproblem: Es ist zu bedenken, ob Investitionen aus Frömmigkeit getätigt wurden oder Frömmigkeit ein Vehikel für wirtschaftlichen Gewinn war (Weber, Max, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Vergleichende religionssoziologische Versuche, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 7. Aufl. Tübingen 1978, 237–275, hier: 249. Lepsius, M. Rainer, Interessen und Ideen. Die Zurechnungsproblematik bei Max Weber, in: Ders.: Interessen, Ideen, und Institutionen, Opladen 1990, S. 31-45.). Auch über diesen Aspekt, der ein grundsätzliches Problem der geschichtswissenschaftlichen Arbeit berührt, möchten wir im Zuge des Workshops reflektieren. Zudem hätten die hier umrissenen Thesen transformatives Potenzial für die mediävistische Forschung. Es wäre möglich, dass die Öffnung der Faktormärkte Land und Arbeit durch die Entstehung und Öffnung eines Kapitalmarktes angestoßen wurde, der als unbeabsichtigte Folge des Investiturstreits entstanden war. Dies würde sowohl die bestehende theologische Perspektive auf die religiösen Auseinandersetzungen des 11. und 12. Jahrhunderts akzentuieren, sondern auch ein Fragezeichen hinter die liberale Fortschrittserzählung setzen, die davon ausgeht, dass das ‘Ende des Mittelalters’ zuvorderst von proto-bürgerlichen Kaufmannsschichten herbeigeführt wurde. Womöglich war dieser Prozess viel weniger planvoll als selbst die neuere Institutionengeschichte in der Tradition von Avener Greif vermutet.
Über diesen Themenkomplex möchten wir im Workshop-Format diskutieren. In 1,5-stündigen Sessions sollen jeweils zwei kurze Impulsreferate (max. 20 Minuten) gehalten werden, deren Thesen anschließend zur Diskussion stehen. Die Schriftfassungen der Referate oder Thesen- bzw. Quellenpapiere sollten daher spätestens 2 Wochen vor dem Workshop an alle Teilnehmer:innen verteilt werden. Die Veranstaltung wird am 02. und 03. Oktober 2024 in Mainz stattfinden, Reise- und Übernachtungskosten können übernommen werden.
Wir freuen uns über Vorschläge aus verschiedenen Forschungskontexten, sowohl konkrete Fallbeispiele als auch methodisch-wissenschaftstheoretische Beiträge sind willkommen. Abstracts (max. 350 Wörter) können bis zum 19.07.2024 an sebastian.weil@uni-kassel.de oder matthias.berlandi@outlook.de eingereicht werden.