Patientinnen und Patienten in der Geschichte der Medizin

Patientinnen und Patienten in der Geschichte der Medizin

Veranstalter
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Veranstaltungsort
Straußweg 17, D-70184 Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.04.2011 - 08.04.2011
Deadline
01.01.2011
Von
Dr. Jens Gründler

Patientinnen und Patienten in der Geschichte der Medizin

Stuttgarter Fortbildungsseminar am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung

Im Nachlass des amerikanischen Arztes Dr. James Carmichael und seinem Sohn, Dr. Edward Carmichael, finden sich Briefe aus den Jahren von 1819 bis circa 1830, in denen PatientInnen und Angehörige ihre Krankheiten, ihren Schmerz und ihre Leiden schildern. Gleichzeitig diskutieren Letztere nicht nur die verschiedenen Therapien mit den beiden Ärzten, sondern fordern auch bestimmte Pillen oder andere, Medikamente ein. Diese beharrliche und anspruchsvolle Haltung der PatientInnen und ihrer Familien verschwand, folgt man der neueren Forschung, erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit der Professionalisierung der Ärzteschaft und wurde, wenigstens im deutschsprachigen Raum, durch ein anderes kulturelles Verhaltensmuster abgelöst: der Unterwürfigkeit gegenüber den ,Weißkitteln. Die Meinungen und Anordnungen von ÄrztInnen in Frage zu stellen, galt gerade in der Mitte des 20. Jahrhunderts und damit am Scheitelpunkt des Ansehens der MedizinerInnen als despektierlich. Zwar gab es durchaus gegenläufige Entwicklungen und Ansätze abseits des „schulmedizinischen“ Mainstream – Homöopathie, Naturheilkunde, Lebensreformbewegung und Vegetarismus, um nur einige zu nennen –, doch waren diese häufig auf klar abgegrenzte Gruppen beschränkt. Seit der Medizinkritik der 1980er Jahre und am Horizont der digitalen Gesellschaft zeichnet sich jetzt jedoch eine neue Art der Begegnung zwischen MedizinerInnen und PatientInnen ab. Das Zusammentreffen verläuft nunmehr, wenn nicht auf Augenhöhe, so doch immerhin weniger asymmetrisch als zuvor. Mit dafür verantwortlich ist die ‚Revolution der Wissensabfrage‘ über das Internet, das ‚Wissen‘ über Krankheiten und Therapien popularisiert und jederzeit für Menschen in den hochindustrialisierten Gegenden der Welt zugänglich macht, so dass das Wissensmonopol der MedizinerInnen den Betroffenen zumindest eingeschränkt erscheint.

Die Betroffenen und ihre Sicht der Dinge zurück auf die Bühne zu holen und sie nicht schlicht als Objekte von ÄrztInnen und WissenschaftlerInnen zu begreifen, diesen Perspektivenwechsel hat Roy Porter bereits 1985 formuliert und eingefordert. Seine Worte fanden in der Medizingeschichte, und insbesondere in ihrer kultur- und sozialwissenschaftlichen Ausprägung, deutlichen Widerhall. Allerdings blieben diejenigen Arbeiten, die Porters Forderung nachkamen, medizinische Begegnungen als Aushandlungsprozesse zu begreifen und aus der Sicht der PatientInnen darzustellen, weiterhin selten, während die Geschichte der Medizin aus ärztlicher Sicht bereits vielfach Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen war. Während des Seminars soll daher explizit die Perspektive der Patientinnen und Patienten behandelt werden.
Dabei gilt es auch, die verschiedenen Settings, in denen PatientInnen auf MedizinerInnen trafen und treffen, zu berücksichtigen. So kann man davon ausgehen, dass ein Hausbesuch die Position der PatientInnen und ihrer Familien stärkte, während ein Besuch in der Praxis die Position eher schwächte. Ähnliche Überlegungen bieten sich auch zur Orientierung oder inhaltlichen Ausrichtung der einzelnen Heilkundigen an, da deren andere Professionalität sich positiv auf die soziale Distanz zu den Betroffenen auswirken konnte.

Auf dem Fortbildungsseminar könnten demnach folgende Problemstellungen vorgestellt und diskutiert werden, wobei diese Beispiele keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben und andere Ideen und Fragestellungen zum Thema willkommen sind:

1. Krankheit, Leiden, Schmerz und Heilung als subjektive Gefühle. Patientinnen und Patienten verfügen vielfach über eigene Vorstellungen und Empfindungen, was Krankheit und Heilung konstituiert und bedeutet. Wie sahen diese Vorstellungen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten aus und in welchen Zusammenhängen wurden sie geäußert? Welche kulturellen Ausprägungen spiegelten sich in ihnen wider? Und inwiefern waren diese Laienauffassungen mit den wissenschaftlich-medizinischen Lehrmeinungen kompatibel, ihnen entgegengesetzt gar oder von ihnen generiert?
2. Patientinnen und Patienten als aktive Subjekte. Diese grundlegende Annahme eröffnet eine Reihe von Fragekomplexen. Welche Strategien verfolgten Betroffene, mit Krankheit und Gesundheit umzugehen? Wie sind, nimmt man die Begegnung von Ärztinnen und PatientInnen als konfliktiv wahr, Durchsetzungskraft oder -macht verteilt und wie werden diese Konflikte in verschiedenen Kontexten ausgetragen? Wie gestalten sich Aushandlungsprozesse in institutionellen Umgebungen, wie in ärztlichen Praxen? Welchen Einfluss hatte das soziale Kapital der Betroffenen in den unterschiedlichen Situationen?
3. Patientinnen und Patienten als Mitglieder größerer Gruppen. Man kann davon ausgehen, dass erkrankte Personen zumeist in Familien und/oder Freundschaftsnetzwerken eingebunden waren und diese Verbindungen zu ihrem Vorteil zu aktivieren suchten. Wie, mit welchen Strategien und mit welchem Erfolg gingen sie hierbei vor? Und im Gegenzug: Wie versuchten Angehörige und Freunde ihrerseits Einfluss auf die PatientInnen oder MedizinerInnen auszuüben, und mit welchen Zielen und Absichten war dieses Vorgehen verbunden?
4. Patientinnen und Patienten waren/sind mehr als Kranke. Wenn man davon ausgeht, dass Krankheitsphasen in den Lebensläufen vieler Menschen nur kurz waren oder Ausnahmesituationen darstellten, dann muss man sich fragen, welche Rolle diese Krankheitserfahrungen für die Betroffenen spielten. Anders gewendet kann man aber auch danach fragen, wie PatientInnen, deren Alltag kontinuierlich von Krankheit geprägt war/ist, reagierten und welche Bedeutung das Kranksein in ihren Biographien einnahm.

Um diese und ähnliche Fragen in einer auf Patientinnen und Patienten zentrierten Medizingeschichte zu beantworten, bieten sich eine Vielzahl von Quellen an. In Tagebüchern, Briefen, Autobiographien oder Interviews können die Betroffenen ihrer eigenen Sicht Ausdruck verleihen. Aber auch Krankenakten können, mit der gebotenen quellenkritischen Vorsicht, Einblicke in das Selbstverständnis, die Motive und das Verhalten von Patientinnen und Patienten liefern. Parallel dazu kann weiteres Quellenmaterial herangezogen werden, um die Bedeutung medizinischer Begegnungen im Alltags-Leben der Betroffenen einzuordnen.

Auf dem Fortbildungsseminar sind Beiträge zu allen Epochen und Kulturräumen willkommen. Teilnehmen können Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus allen Disziplinen, die Themen zur Geschichte der Patientinnen und Patienten aus deren Perspektive heraus bearbeiten.

Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge!

Für die Vorbereitungsgruppe des 30. Stuttgarter Fortbildungsseminars,

Jens Gründler

Organisatorisches
Das Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung hat sich in den nunmehr 30 Jahren seines Bestehens zu einem interdisziplinären Forum für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler entwickelt, das sich deutlich von klassischen Fachtagungen unterscheidet. Zentrales Anliegen des Forums ist der gemeinsame Austausch und die Auseinandersetzung mit dem Thema der Tagung. Der Fokus liegt daher auf innovativen methodischen Herangehensweisen, neuen Fragestellungen und Ideen und nicht auf perfekt ausgearbeiteten Präsentationen. Aus diesem Grund sind die Titel der Literaturliste nur als Leseanregung zu verstehen, nicht als Pflichtlektüre.
Vor Beginn der Tagung werden die Thesenpapiere zu den einzelnen Vorträgen an alle Teilnehmenden versandt, um eine Vorbereitung zu ermöglichen. Für jeden Beitrag wird ausreichend Diskussionszeit zur Verfügung stehen. Unbedingt erforderlich ist die Anwesenheit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer während der gesamten Seminarzeit, um inhaltliche Bezüge zwischen den Beiträgen zu ermöglichen.
Das Seminar findet vom 6.-8. April 2011 in Stuttgart statt. Die Anreise erfolgt bereits am 5. April.
Anmelden können sich Einzelpersonen und Arbeitsgruppen (vorzugsweise zwei Personen). Die Anzahl der Teilnehmenden ist auf 15 Personen begrenzt.

Auswahl und Moderation
Die Auswahl der Beiträge, die Gestaltung des endgültigen Programms und die Moderation der Sektionen liegen in den Händen einer Vorbereitungsgruppe, die am Ende jedes Fortbildungsseminars für das jeweils nächste Jahr gewählt wird. Für das 30. Fortbildungsseminar haben sich Nadine Metzger, Stefanie Westermann und Sebastian Knoll-Jung bereit erklärt. Die Auswahl der Teilnehmenden erfolgt anonymisiert durch die Mitglieder der Vorbereitungsgruppe.

Vorträge, Diskussion und Kostenerstattung
Für jeden Beitrag sind 45 Minuten eingeplant, wobei 20 Min. für den Vortrag zur Verfügung stehen und 25 Minuten für die Diskussion. Bei Arbeitsgruppen erhöht sich die zur Verfügung stehende Zeit auf eine Stunde. Die Tagungssprache ist Deutsch, die einzelnen Vorträge können allerdings auch auf Englisch gehalten werden. Die Teilnahme wird vom Stuttgarter Institut finanziert, das schließt die Übernachtungen, gemeinsame Mahlzeiten und Bahnreisen 2. Klasse (in Ausnahmefällen günstige Flüge) ein. Kosten für eine Anreise per PKW können leider nicht erstattet werden.

Anmeldung
Ein Exposé von max. 20 Zeilen, aus dem der Titel, Fragestellung, Methoden und die verwendeten Quellen hervorgehen, schicken Sie bitte bis zum 1. Januar 2011 per Post oder e-mail an Jens Gründler, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Straußweg 17, D-70184 Stuttgart respektive Jens.Gruendler@igm-bosch.de.
Außerdem soll dem Exposé eine Kurzvita beigefügt werden.

Literatur
JONATHAN ANDREWS: Case Notes, Case Histories, and the Patient‘s Experience of Insanity at Gartnavel Royal Asylum, Glasgow, in the Nineteenth Century, in: Social History of Medicine, 11/2, 1998, S. 255-281.
MICHAEL BARFOOT und ALLAN BEVERIDGE: Madness at the Crossroads: John Home's Letters from the Royal Edinbrugh Asylum, 1886-87, in: Psychological Medicine, 20, 1990, S. 263-284.
MICHAEL BARFOOT und ALLAN W. BEVERIDGE: »Our most notable inmate«: John Willis Mason at the Royal Edinburgh Asylum, 1864-1901, in: History of Psychiatry, IV, 1993, S. 159-208.
MARION BASCHIN: Wer lässt sich von einem Homöopathen behandeln? Die Patienten des Clemens Maria Franz von Bönninghausen [MedGG-Beihefte; Band 37], Stuttgart 2010. [erscheint im Dezember]
ALLAN BEVERIDGE und MORAG WILLIAMS: Inside ›The Lunatic Manufacturing Company‹: The Persecuted World of John Gilmour, in: History of Psychiatry, 13/49, 2002, S. 19-49.
BETTINA BROCKMEYER: Selbstverständnisse. Dialoge über Körper und Gemüt im frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2009.
CATHARINE COLEBORNE: "His brain was wrong, his mind astray": Families and the Language of Insanity in New South Wales, Queensland, and New Zealand, 1880s-1910, in: Journal of Family History, 31, 2006, S. 45-65.
MARTIN DINGES [Hrsg.]: Patients in the History of Homeopathy, Sheffield 2002
DERS. [Hrsg.]: Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800 - ca. 2000 [MedGG-Beihefte; Band 27], Stuttgart 2007.
DERS. und VINCENT BARRAS [Hrsg.]: Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum. 17.-21. Jahrhundert [MedGG-Beihefte; Band 29], Stuttgart 2007.
SUSANNE HOFFMANN: Gesunder Alltag im 20. Jahrhundert. Geschlechterspezifische Diskurse und gesundheitsrelevante Verhaltensstile in deutschsprachigen Ländern [MedGG-Beihefte; Band 36], Stuttgart 2010. [erscheint im Dezember]
ROBERT JÜTTE: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit, München/Zürich 1991.
JENS LACHMUND und GUNNAR STOLBERG [HRSG.]: The Social Construction of Illness. Illness and Medical Knowledge in Past and Present [MedGG-Beihefte; Band 1], Stuttgart 1991.
DIES.: Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. Bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien, Opladen 1995.
MARTIN MOMBURG und DIETMAR SCHULTE [Hrsg.]: Das Verhältnis von Arzt und Patient. Wie menschlich ist die Medizin? München 2010.
SIMONE MOSES: Alt und krank. Ältere Patienten in der Medizinischen Klinik der Universität Tübingen zur Zeit der Entstehung der Geriatrie 1880 bis 1914 [MedGG; Band 24], Stuttgart 2005.
STEVEN NOLL: Patient Records as Historical Stories: The Case of Caswell Training School, in: Bulletin of the History of Medicine, 68/3, 1994, S. 411-428.
KAREN NOLTE: Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900 [Geschichte und Geschlechter; Band 42], Frankfurt a.M/New York 2003
ROY PORTER: The Patient's View: Doing Medical History from Below, in: Theory and Society, 14/2, 1985, S. 175-198.
GEOFFREY REAUME: Remembrance of Patients Past: Patient Life at the Toronto Hospital for the Insane, 1870-1940, [The Canadian Social History Series], Toronto, Ont. /Oxford, 2000.
CORNELIA REGIN: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889 bis 1914) [MedGG-Beihefte; Band 4], Stuttgart 1995.
NICOLE SCHWEIG: Gesundheitsverhalten von Männern. Gesundheit und Krankheit in Briefen, 1800-1950 [MedGG-Beihefte; Band 33], Stuttgart 2009.
LEONARD D. SMITH: ›Your Very Thankful Inmate‹: Discovering the Patients of an Early County Lunatic Asylum, in: Social History of Medicine, 21/2, 2008, S. 237-252.
THOMAS SOKOLL: Essex Pauper Letters 1731-1837, [Records of Social and Economic History, New Series; 30], Oxford, 2001.
MICHAEL STOLBERG: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien, 2003.
AKIHITO SUZUKI: Framing Psychiatric Subjectivity: Doctor, Patient and Record-Keeping at Bethlem in the Nineteenth Century, in: JOSEPH MELLING und BILL FORSYTHE [Hrsg.]: Insanity, Institutions and Society, 1800-1914. A Social History of Madness in Comparative Perspective, London/New York, 1999, S. 115-136.
DERS.: Madness at Home: The Psychiatrist, the Patient, and the Family in England, 1820-1860, [Medicine and Society; Bd. 13], Berkeley, 2006.
CHRISTINA VANJA: Arm und krank. Patientenbiographien im Spiegel frühneuzeitlicher Bittschriften, in: BIOS, 19/1, 2006, S. 26-35.
LOUISE WANNELL: Patients' Relatives and Psychiatric Doctors: Letter Writing in the York Retreat, 1875-1910, in: Social History of Medicine, 20/2, 2007, S. 297-313.
EBERHARD WOLFF, Perspectives on Patients’ History: Methodological Considerations on the Example of Recent German-Speaking Literature, in: Canadian Bulletin of Medical History, 15, 1998, S. 207-228.
MARY ELENE WOOD: The Writing on the Wall: Women's Autobiography and the Asylum, Urbana, 1994.
STEFAN WULF und HEINZ-PETER SCHMIEDEBACH: ›Die sprachliche Verständigung ist selbstverständlich recht schwierig.‹ Die ›geisteskranken Rückwanderer‹ aus Amerika in der Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg 1909, in: Medizinhistorisches Journal, 43, 2008, S. 231-263.

Programm

05.04.2011 Anreise

06.-08.04.2011 Seminar

Kontakt

Jens Gründler

Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17, 70184 Stuttgart
0711-46084-163/171
0711-46084-181
Jens.Gruendler@igm-bosch.de

http://www.igm-bosch.de
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