Orte medizinischer und pflegerischer Versorgung

Orte medizinischer und pflegerischer Versorgung

Veranstalter
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Veranstaltungsort
Straußweg 17, 70184 Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.04.2012 - 13.04.2012
Deadline
01.01.2012
Von
Dr. Jens Gründler

Stuttgarter Fortbildungsseminar am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung

Orte medizinischer und pflegerischer Versorgung gibt es viele. Ein zentraler Ort, wo die Pflege vielfach durch Ehefrauen, Mütter und Töchter getragen wurde, war die eigene Wohnung oder das eigene Haus, und hier spezifisch: das Krankenbett, welches räumlich nicht fest verankert war, sondern nach Platz und Zweckmäßigkeit Aufstellung fand. Über Jahrhunderte wurden an diesem traditionelle Heil- und Pflegeverfahren angewandt und über Generationen weitergegeben. Außerhalb des Hauses gab es eine unüberschaubare Anzahl dieser Orte: den Marktplatz als Betätigungsfeld des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wanderarztes, (Wund-)Arztpraxen, (Vereins-)Gaststätten, Apotheken, Leprosorien, Siechenanstalten, psychiatrische Anstalten, Gefängnisse, Feldlazarette, Krankenhäuser, Hospitäler, Klöster, Wallfahrtsorte und Tempel, Sanatorien, Bäder, Fitnessstudios, Pflegeheime, Gesundheitsämter, Krankenwagen; Schiffszwischendecks oder die virtuellen Räume, wie sie sich in Fernbehandlungen per Brief oder im Internet konstituieren, um nur einige zu nennen. Jeder dieser Orte hatte spezifische Merkmale, erforderte Anpassungsleistungen von Ärztinnen und Ärzten, Pflegenden sowie Patientinnen und Patienten. Aus der Aufzählung lassen sich verschiedene Kategorien zur Analyse bilden: Eine wichtige Unterscheidung ist anhand des Zuschnitts der Orte denkbar, ob sie als spezifische Räume z. B. zur Behandlung bestimmter Leiden, oder als unspezifische und multifunktionale Räume, wie z. B. die britischen Armenhäuser des 19. Jahrhunderts, konzipiert waren. Die Orte können auch danach gegliedert werden, ob sie als dauerhafte Institutionen wie Krankenhäuser oder temporäre Einrichtungen wie Feldlazarette geplant und errichtet worden sind. Auch eine geographisch-räumliche Differenzierung bietet sich an. Diese Unterscheidung könnte sich einerseits am Gegensatz von strukturell-baulicher Unbeweglichkeit und transportabel-beweglicher Flexibilität orientieren. Andererseits ist auch die geographische Differenzierung nach der Lage im Zentrum und an der Peripherie denkbar. Darüber hinaus erscheinen andere Kriterien der Unterscheidung vielversprechend. So könnte man nach der „Sichtbarkeit“ der Orte fragen, wobei die psychiatrische Klinik des 19. Jahrhunderts als Beispiel für das Nicht-Sichtbare oder Heimliche und die Behandlung des Wanderarztes auf dem Marktplatz als Beispiel für das Öffentlich-Sichtbare dienen können. Weitere Differenzierungsmöglichkeiten ergeben sich bei der Betrachtung der Organisation der Orte. Die Trägerschaft der Einrichtungen – karitativ, religiös oder staatlich – sowie der Aufenthalt und die Arbeit in ihnen – zwanghaft oder freiwillig – hatten nachhaltige Auswirkungen auf die medizinische und pflegerische Versorgung.

Für das Fortbildungsseminar bieten sich folgende kultur- und sozialgeschichtliche Fragestellungen an, die Orte und Räume jenseits der architektonischen und institutionengeschichtlichen Entwicklung untersuchen und diese stattdessen im Sinne des „spatial turn“ als Ergebnis sozialer und kultureller Praktiken und Diskurse verstehen.

1. Praktiken der Versorgung. An den genannten Orten fanden unterschiedliche medizinische und pflegerische Praktiken Anwendung. In Feldlazarett, Wohnung und Sanatorium standen Ärzte und Pflegende ganz unterschiedlichen Herausforderungen gegenüber, die spezifische Anpassungen von Therapie und Pflege erforderten. Welche Praktiken kamen an welchen Orten zum Einsatz? Wie veränderten sich diese Praktiken? Gab/gibt es fest umrissene Orte von Schulmedizin und „alternativer“ Medizin? An welchen Orten erfolgte der Rückgriff auf medizinische Selbsthilfe?

2. Akteurinnen/Akteure der Versorgung. Geht man davon aus, dass Menschen Räume erschaffen, beeinflussen und verändern, dann stellt sich im Gegenzug die Frage nach dem Einfluss der Orte auf die verschiedenen Akteurinnen und Akteure. Manche Orte stellten spezifische Anforderungen an diejenigen, die die Versorgung leisteten, zu anderen hatten bestimmte Personen keinen Zugang. Darüber hinaus existierten auch emotionale „Kosten“ oder Grenzen an Orten, die sich auf die Akteurinnen/Akteure auswirkten. Inwiefern beeinflussten sich also Orte und Akteurinnen/Akteure gegenseitig? In welcher Weise bedingen sich z. B. Ort und Geschlecht der Fürsorgenden? Wo und wann verändern sich derartige Zusammenhänge?

3. Darstellung der Versorgung. Aus Gründen der (Selbst-)Legitimation und Ressourcenallokation ist jeder Ort der Versorgung auf (Selbst-)Darstellungen angewiesen. Diese Darstellungen können aus einer Binnenperspektive heraus verfasst sein, wenn sie z. B. von Ärzten/Ärztinnen, Pflegepersonal oder Patientinnen und Patienten geschrieben sind. Sie können aber auch eine Außenperspektive einnehmen, wenn sie z. B. aus der Presse oder von Krankenkassen stammen. Fragen könnte man, welche Orte der medizinischen und pflegerischen Versorgung wie dargestellt wurden. Welcher Zweck wurde mit diesen Darstellungen verfolgt? Wie öffentlich oder privat waren die Darstellungen? Wer waren die Autorinnen und Autoren? Inwiefern beeinflussten die Darstellungen die Orte?

4. Wahrnehmung der Versorgung. Diese Wahrnehmungen konnten sich je nach Blickwinkel verändern (Binnenperspektive/Außenperspektive). Gleichzeitig kann die Art der Wahrnehmung des Ortes auf die Versorgung (zurück)wirken. So wurde z. B. die öffentliche Zurschaustellung der Wahnsinnigen im Londoner Bedlam Asylum nach kritischen Berichten eingestellt. Auch die geographische Lage konnte diese Wahrnehmungen nachhaltig beeinflussen. Während man vor dem 19. Jahrhundert davon überzeugt war, dass das Landleben ungesund sei, veränderte sich diese Auffassung grundlegend, und die Stadt wurde als krankmachend wahrgenommen und dem Leben auf dem Land therapeutische Wirkung zugeschrieben, wie man an der Auslagerung psychiatrischer Anstalten in ländliche Gebiete nachvollziehen kann. Welche Rückwirkung also hatten z. B. Art und Lage der Orte auf die Wahrnehmung und Bewertung der Versorgung? Oder allgemeiner formuliert: Wer nahm die Orte wie wahr und mit welchen Folgen?

5. Zugangsschwellen von Orten. Der Zugang zu Räumen medizinischer und pflegerischer Versorgung war immer mit der Überschreitung von Grenzen oder dem Überwinden von Schwellen verschiedenen Ausmaßes verbunden. Dabei konnten z. B. finanzielle Mittel oder religiöse Zugehörigkeiten den Zugang erleichtern oder erschweren. Das gleiche gilt für das Verlassen dieser Orte. Das Verlassen z. B. von Orten der Zwangsversorgung, wie psychiatrischen Anstalten oder Seuchenstationen, war an engdefinierte Kriterien gebunden. Auch für das Personal konnten diese Zugangsschwellen gelten.

6. Bedingungen für die Versorgung. An den verschiedenen Orten finden sich unterschiedliche Voraussetzungen und Probleme für Pflege und Therapie, gibt es Positionsvor- und -nachteile. Die Versorgung im eigenen Heim stellt andere Herausforderungen als die im Feldlazarett, die im Allgemeinkrankenhaus andere als die in psychiatrischen Anstalten. Weitere Faktoren, wie Kriege oder Katastrophen, konnten die Bedingungen der Versorgung beeinflussen. Welche Auswirkungen hat die physische Position, z. B. die Lage auf einer Insel oder an der Front, auf die Bedingungen der Versorgung?

Die hier vorgestellten Fragestellungen sind nur als Anregung gedacht und dienen der Orientierung. Die Beiträge zum Fortbildungsseminar sollen eine sozialgeschichtliche Ausrichtung aufweisen und jenseits der deskriptiv-traditionellen Architektur- oder Institutionengeschichte angesiedelt sein. Als Quellengrundlage für Beiträge sind eine Vielzahl von Überlieferungen denkbar: Jahres-, Kontroll- und Visitationsberichte, Autobiographien und Memoiren, Gerichtsakten und Polizeiberichte, Rechnungsbücher, Korrespondenzen und Briefe, Presseberichte oder Krankenakten, um nur einige zu nennen.

Willkommen sind Beiträge zu allen Epochen und Kulturräumen. Teilnehmen können Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus allen Disziplinen, die Themen zu Orten medizinischer und pflegerischer Versorgung bearbeiten.

Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge!

Für die Vorbereitungsgruppe des 31. Stuttgarter Fortbildungsseminars,

Jens Gründler

Organisatorisches
Das Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung hat sich in den nunmehr 31 Jahren seines Bestehens zu einem interdisziplinären Forum für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler entwickelt, das sich deutlich von klassischen Fachtagungen unterscheidet. Zentrales Anliegen des Forums ist der gemeinsame Austausch und die Auseinandersetzung mit dem Thema der Tagung. Der Fokus liegt daher auf innovativen methodischen Herangehensweisen, neuen Fragestellungen und Ideen und nicht auf perfekt ausgearbeiteten Präsentationen. Aus diesem Grund sind die Titel der Literaturliste nur als Leseanregung zu verstehen, nicht als Pflichtlektüre.
Vor Beginn der Tagung werden die Thesenpapiere zu den einzelnen Vorträgen an alle Teilnehmenden versandt, um eine Vorbereitung zu ermöglichen. Für jeden Beitrag wird ausreichend Diskussionszeit zur Verfügung stehen. Unbedingt erforderlich ist die Anwesenheit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer während der gesamten Seminarzeit, um inhaltliche Bezüge zwischen den Beiträgen zu ermöglichen.
Das Seminar findet vom 11.-13. April 2011 in Stuttgart statt. Die Anreise erfolgt bereits am 10. April.
Anmelden können sich Einzelpersonen und Arbeitsgruppen (vorzugsweise zwei Personen). Die Anzahl der Teilnehmenden ist auf 15 Personen begrenzt.

Auswahl und Moderation
Die Auswahl der Beiträge, die Gestaltung des endgültigen Programms und die Moderation der Sektionen liegen in den Händen einer Vorbereitungsgruppe, die am Ende jedes Fortbildungsseminars für das jeweils nächste Jahr gewählt wird. Für das 31. Fortbildungsseminar haben sich Jenny Linek, Anna Urbach und Marion Baschin bereit erklärt. Die Auswahl der Teilnehmenden erfolgt anonymisiert durch die Mitglieder der Vorbereitungsgruppe.

Vorträge, Diskussion und Kostenerstattung
Für jeden Beitrag sind 45 Minuten eingeplant, wobei 20 Minuten für den Vortrag zur Verfügung stehen und 25 Minuten für die Diskussion. Bei Arbeitsgruppen erhöht sich die zur Verfügung stehende Zeit auf eine Stunde. Die Tagungssprache ist Deutsch, die einzelnen Vorträge können allerdings auch auf Englisch gehalten werden. Die Teilnahme wird vom Stuttgarter Institut finanziert, das schließt die Übernachtungen, gemeinsame Mahlzeiten und Bahnreisen 2. Klasse (in Ausnahmefällen günstige Flüge) ein. Kosten für eine Anreise per PKW können leider nicht erstattet werden.

Anmeldung
Ein Exposé von max. 20 Zeilen, aus dem der Titel, Fragestellung, Methoden und die verwendeten Quellen hervorgehen, schicken Sie bitte bis zum 1. Januar 2011 per Post oder e-mail an Jens Gründler, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Straußweg 17, D-70184 Stuttgart respektive Jens.Gruendler@igm-bosch.de.
Außerdem soll dem Exposé eine Kurzvita beigefügt werden.

Literatur:
Gerhard Ammerer/Arthur Brunhart/Martin Scheutz/Alfred Stefan Weiß [Hg.], Orte der Verwahrung. Die innere Organisation von Gefängnissen, Hospitälern und Klöstern seit dem Spätmittelalter [Geschlossene Häuser. Historische Studien zu Institutionen und Orten der Separierung, Verwahrung und Bestrafung; 1], Leipzig 2010.

Doris Bachmann-Medick, Spatial Turn, in: Doris Bachmann-Medick [Hg.], Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften [Rowohlts Enzyklopädie; 55675], Reinbek 20093.

Cornelia Brink, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980 [Moderne Zeit. Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; 20], Göttingen 2010.

Elisabeth Dietrich-Daum/Martin Dinges/Robert Jütte/Christine Roilo [Hg.], Arztpraxen im Vergleich: 18.-20. Jahrhundert, Innsbruck/Wien/Bozen 2008.

Martin Dinges/Vincent Barras [Hg.], Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum. 17.-21. Jahrhundert [MedGG Beihefte; 29], Stuttgart 2007.

Christof Dipper/Lutz Raphael, "Raum" in der Europäischen Geschichte, in: Journal of Modern European History 9 (2011) H. 1, S.27-41.

Jörg Döring u.a. [Hg.], Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008.

Jörg Dünne/Stephan Günzel [Hg.], Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften [Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft; 1800], Frankfurt a.M. 2006.

Heiner Fangerau/Karen Nolte: „Moderne“ Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert [MedGG Beihefte; 26], Stuttgart 2006.

Nicholas Eschenbruch/Dagmar Hänel/Alois Unterkircher [Hg.], Medikale Räume. Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit, Bielefeld 2010.

Norbert Finzsch/Robert Jütte [Hg.], Institutions of Confinement. Hospitals, Asylums and Prisons in Western Europe and North America, 1500-1950, Cambridge 1996.

Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen [Edition Suhrkamp; 678], Frankfurt a. M. 1973.

Peregrine Horden/Richard Smith [Hg.], The Locus of Care. Families, Communities, Institutions and the Provision of Welfare since Antiquity [Studies in the Social History of Medicine], London/New York 1998.

Robert Jütte, A Seventeenth-Century German Barber-Surgeon and his Patients, in: Medical History 33 (1989), S. 184-198.

Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit, München/Zürich 1991.

Annemarie Kinzelbach, Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Gesunde und Kranke in den Reichsstädten Überlingen und Ulm, 1500-1700 [MedGG Beihefte; 8], Stuttgart 1995.

Thomas A. Markus, Buildings and Power. Freedom and Control in the Origin of Modern Building Types, London/New York 1993.

Karen Nolte, Pflege von Leib und Seele – Krankenpflege in Armutsvierteln des 19. Jahrhunderts, in: Hähner-Rombach, Sylvelyn [Hg.], Alltag in der Krankenpflege. Geschichte und Gegenwart [MedGG Beihefte; 32], Stuttgart 2009, S. 23-46.

Karl Schlögel, Kartenlesen, Augenarbeit. Über die Fälligkeit des spatial turn in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, in: Heinz Dieter Kittsteiner [Hg.], Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004, S. 261-283.

Edward Soja, Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, Oxford 1996.

Akihito Suzuki, Madness at Home. The Psychiatrist, the Patient, and the Family in England 1820-1860[Medicine and Society; 13], Berkeley u.a. 2006.

Stuart Wildman, „Nurses for all Classes“. Home Nursing in England, 1860-1900, in: Hähner-Rombach, Sylvelyn [Hg.], Alltag in der Krankenpflege. Geschichte und Gegenwart [MedGG Beihefte; 32], Stuttgart 2009, S. 47-62.

Programm

Das Seminar findet vom 11.-13. April 2011 in Stuttgart statt.

Die Anreise erfolgt bereits am 10. April.

Kontakt

Jens Gründler

Institut für Geschichte der Medizin
Straußweg 17, 70184 Stuttgart
0711-46084-163
0711-46084-181

jens.gruendler@igm-bosch.de

http://www.igm-bosch.de
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