Grenzziehungen, Netzwerke: Die Teilungsgrenzen in der politischen Kultur der polnischen Zweiten Republik

Grenzziehungen, Netzwerke: Die Teilungsgrenzen in der politischen Kultur der polnischen Zweiten Republik

Veranstalter
Projekt „Phantomgrenzen in Ostmitteleuropa“, Professur für Osteuropäische Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Historische Forschung der polnischen Akademie der Wissenschaften, Berlin
Veranstaltungsort
Zentrum für Historische Forschung
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.11.2012 - 10.11.2012
Deadline
25.03.2012
Von
Kai Struve, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Ein großer Teil der Eliten des polnisches Staates, der 1918 seine Unabhängigkeit zurückgewann, war schon vor dem Ersten Weltkrieg unter der Herrschaft der Teilungsmächte politisch aktiv gewesen. Ihre Erfahrungen wurden in sehr unterschiedlicher Weise von den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen bestimmt, die in den jeweiligen Gebieten und Staaten bestanden hatten. Auf der Tagung soll anhand von Fallbeispielen untersucht werden, ob und wie solche Erfahrungen die Wertorientierungen, politischen Mentalitäten und das politische Handeln in der Zweiten Republik beeinflussten. Es geht damit um die Frage, ob und wie die früheren Verhältnisse in den Teilungsstaaten und die seit dieser Zeit bestehenden Netzwerke von Akteuren die politische Kultur des neuen polnischen Staates prägten. Die Auswirkungen solcher unterschiedlicher Erfahrungen lassen sich als „Phantomgrenzen“ beschreiben, d.h. als nicht mehr bestehende politische Grenzen, die gleichwohl fortwirkten und politische und gesellschaftliche Verhältnisse mitbestimmten. Auf diese Weise lässt sich die Geschichte Polens zwischen den Weltkriegen als Teil einer längerfristigen, europäischen Verflechtungsgeschichte beschreiben.

Thesenartig lassen sich einige Unterschiede zwischen den verschiedenen Territorien markieren, die in den Beiträgen der Tagung darauf befragt werden können, inwieweit sie späteres Handeln prägten.

Im russischen Teilungsgebiet hatten die politischen Akteure lange Zeit größtenteils konspirativ tätig sein müssen. Netzwerke bildeten sich im Untergrund. Für viele war die Revolution von 1905/6 ein prägendes Erlebnis gewesen. Für Galizien dürfte im Unterschied dazu charakteristisch gewesen sein, dass viele Akteure umfangreiche Erfahrungen aus der Tätigkeit in parlamentarischen Vertretungskörperschaften mitbrachten. Polen dominierten hier eindeutig die staatlichen Institutionen und das gesellschaftliche Leben. In Preußen wiederum besaßen Organisationen der Zivilgesellschaft als Arenen polnischen politischen Handelns gegenüber der parlamentarischen Tätigkeit eine größere Bedeutung. Zudem dürfte hier angesichts der feindlichen Haltung des entstehenden deutschen Nationalstaates gegenüber den Polen als nationaler Minderheit das Gefühl der Bedrohung der nationalen Existenz am verbreitetsten gewesen sein. Zu fragen wäre, ob sich vor dem Hintergrund solcher unterschiedlicher Erfahrungen in der Zweiten Republik beispielsweise eine größere Wertschätzung demokratischer, parlamentarischer politischer Verfahren bei Akteuren aus Galizien im Vergleich mit solchen aus dem russischen Teilungsgebiet feststellen lässt oder ob bei Akteuren aus dem preußischen Teilungsgebiet ein radikalerer Nationalismus erkennbar ist.

Hinzu kamen weitere, möglicherweise prägende Erfahrungsunterschiede, die Einfluss auf Werte und Ziele in der Zweiten Republik genommen haben können. So blieb die polnische Politik im preußischen Teilungsgebiet und in Galizien lange Zeit in hohem Maße von adligen Gutsbesitzern bestimmt. Während in Galizien ein scharfer politischer Gegensatz zwischen den traditionellen Eliten und anderen sozialen Gruppen, die politische Partizipation einforderten, bestand, traten vergleich-bare Gegensätze im preußischen Teilungsgebiet innerhalb der polnischen Bevölkerungsgruppe weniger deutlich hervor. In Oberschlesien dagegen konnte sich die polnische Nationalbewegung nur auf die gesellschaftlichen Unterschichten stützen. Im russischen Teilungsgebiet spitzte sich wiederum der Konflikt zwischen polnischen Sozialisten und Nationaldemokraten besonders zu. Die Liste solcher charakteristischer Differenzen ließe sich noch verlängern.

Die Frage nach Auswirkungen der Grenzziehungen der Teilungszeit kann nicht nur für den polnischen Teil der Gesellschaft, sondern auch für die anderen nationalen Gruppen gestellt werden. Differenzen der Erfahrungen dürften beispielsweise zwischen der sich erst langsam entwickelnden ukrainischen Nationalbewegung in Wolhynien und derjenigen in Ostgalizien größer gewesen sein als diejenigen zwischen den polnischen Eliten aus den verschiedenen Teilungsgebieten. Auf die Teilungsgebiete bezogene Differenzen bestanden auch innerhalb der jüdischen und der deutschen Minderheiten. Die Fragestellung könnte zudem auf politiknahe Disziplinen der Wissenschaft ausgeweitet werden. Beispielsweise wäre denkbar zu untersuchen, inwieweit die Erfahrungen aus den Teilungsgebieten auch in staats- und verfassungsrechtlichen Debatten über die innere Ordnung der Zweiten Republik eine Rolle spielten.

Zur konkreten Behandlung der Fragestellung in den einzelnen Beiträgen dürften sich vor allem zwei Vorgehensweisen anbieten:
- teilungsgebietsübergreifende Untersuchungen einzelner Organisationen, politischer Parteien oder Richtungen: hier wäre in erster Linie danach zu fragen, inwieweit Differenzen und Konflikte innerhalb der Organisation oder Richtung mit unterschiedlichen Prägungen von Akteuren und ihren Netzwerken in den verschiedenen Teilungsgebieten in Verbindung standen;
- exemplarische Untersuchungen einzelner Akteure oder von (Teil)Organisationen aus einzelnen Teilungsgebieten: hier wäre zu thematisieren, inwieweit ihr politisches Handeln in der Zweiten Republik mit Erfahrungen in Verbindung stand, die sie in den politischen Verhältnissen in den jeweiligen Teilungsgebieten gemacht hatten.

Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Michael G. Müller, Dr. Kai Struve

Eine Publikation von Beiträgen der Tagung ist geplant.

Bitte senden Sie ein Exposé (nicht mehr als 500 Wörter) und kurze biographische Angaben bis zum 25. März 2012 an Dr. Kai Struve (kai.struve@geschichte.uni-halle.de).

Reisekosten (bis zu einer bestimmten Höhe) und Aufenthaltskosten während der Konferenz werden von den Veranstaltern übernommen.

Programm

Kontakt

Kai Struve

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Geschichte

kai.struve@geschichte.uni-halle.de

http://www.geschichte.uni-halle.de/struktur/og/; http://www.phantomgrenzen.eu; http://www.cbh.pan.pl/
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