Quest. Issues in Contemporary Jewish History 15 (2019)

Titel der Ausgabe 
Quest. Issues in Contemporary Jewish History 15 (2019)
Weiterer Titel 
The Pogroms of the Russian Civil War at 100: New Trends, New Sources

Erscheint 
2 Nummern pro Jahr
ISBN
ISSN: 2037-741X
Anzahl Seiten
256 S
Preis
--

 

Kontakt

Institution
Quest. Issues in Contemporary Jewish History
Land
Italy
c/o
Fondazione Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea via Eupili 8 20145 Milano Italy E-Mail: <mail@quest-cdecjournal.it> Tel.: +39 02.31.63.38; 02.31.60.92
Von
Ulrich Wyrwa

Während des Russischen Bürgerkriegs (1917–1921) wurde die jüdische Bevölkerung des ehemaligen Zarenreichs Opfer einer beispiellosen Welle von Gewalt. Schon Zeitgenossen erkannten den krassen Unterschied zwischen früheren Fällen antijüdischer Gewalt und den Pogromen im Bürgerkrieg.

Der russische Bürgerkrieg war ein chaotischer und rücksichtsloser Konflikt zwischen einem Spektrum mehr oder weniger organisierter, mehr oder weniger klar definierter Truppen, die nach dem Sturz des Zaren 1917 politische und territoriale Kontrolle erlangen wollten. Die Rote Armee kämpfte für die bolschewistische Herrschaft, ihr stellte sich die Weiße Bewegung entgegen, eine Koalition antikommunistischer Kräfte. In der Ukraine wiederum kämpften ukrainische Truppen unter der Leitung von Symon Petliura gegen die Bolschewiki. Während des Polnisch-Sowjetischen Krieges stieß die Rote Armee auch mit polnischen Truppen zusammen. Zu den weiteren Fraktionen im Bürgerkrieg gehörte eine sehr vielfältige Gruppe bäuerlicher Banden, die sich vor allem in der Ukraine, aber auch in Weißrussland und Zentralrussland ausbreitete. Neben der sogenannten Grünen Armee standen anarchistische Banden unter der Führung von Nestor Makhno, die zunächst mit lokalen kommunistischen Kräften kooperiert hatten, bald aber gegen die Bolschewiki kämpften. In der Ukraine untergruben unzählige kleinere Aufstände, die von sogenannten „Atamanen“ angeführt wurden, die neu gegründete bolschewistische Autorität bis weit in die frühen 1920er Jahre hinein. Im Strudel gewalttätiger Übernahmen wurde der ehemalige jüdische Ansiedlungsrayon, in der die überwältigende Mehrheit der Juden des Russischen Reiches bis zu den Revolutionen von 1917 gelebt hatte, zu einem monströsen Schlacht-feld.

Jede am Bürgerkrieg beteiligte Gruppe griff zu antijüdischer Gewalt, wurde aber von unterschiedlichen Impulsen und Zielen angespornt. Einige Soldaten und Bauern verübten Gewalt gegen jüdische Gemeinden, weil sie von der Verlockung der Plünderung und Erpressung angezogen wurden. Andere verübten Pogrome, die auf ideologischen Überzeugungen beruhten, um die Juden für angebliche Verbrechen zu bestrafen, einschließlich der angeblichen Unterstützung des Kommunismus durch die Juden. Wieder andere identifizierten die Juden als Akteure des mächtigen und heimtückischen Widerstands gegen den Erfolg der ukrainischen oder polnischen nationalen Sache. Während 1919 das Jahr war, in dem die Gewalt gegen Juden ihren Höhepunkt erreichte, blieb diese ein gemeinsames Merkmal der Kämpfe von 1917 bis in die frühen 1920er Jahre.

Die Brutalität des Bürgerkriegs entstand weitgehend aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs. Epizentren der Massen-gewalt war die Ukraine, die in diesen Jahren 18 Prozent ihrer Bevölkerung verloren hatte. Gefangen inmitten der anhaltenden verzweifelten und rücksichtslosen Kämpfe erwies sich die jüdische Bevölkerung der umkämpften Gebiete als leichtes und wehrloses Ziel der Gewalt. Die Opferzahlen schwanken erheblich, sie reichen bis zu 125.000, bisweilen gar bis zu 300.000, ermordeten Juden.

Im Unterschied zu den Pogromen des 19. Jahrhundert waren die Täter der antijüdischen Gewalt 1919 ausgebildete Soldaten, die mit einem hohen Maß an Disziplin und Organisation vorgingen. Zusätzlich zu den Soldaten, selbst wenn sich Zivilisten an den antijüdischen Angriffen beteiligten, wiederholten sie dabei oft militärisch organisierte Gewalttaktiken.

Diese Militärpogrome wurden oft durch Plünderungen, Massenvergewaltigungen und wahllose Tötungen gekennzeichnet, die nicht zuletzt auch dazu dienten, ethnische Säuberungen voranzutreiben. In einigen Gebieten führte die systematische antijüdische Gewalt zum nahezu vollständigen Verschwinden der jüdischen Bevölkerung.

Viele jüdische Intellektuelle und Schriftsteller berichteten über die antijüdische Gewalt, die sie selbst erlebt hatten, oder sammelten Augenzeugenberichte, die sie von Überlebenden erhalten hatten. Zahlreiche aufgezeichnete Zeugnisse der Ereignisse, Memoiren und Dokumente wurden in der Sowjetunion, Frankreich und den Vereinigten Staaten veröffentlicht. Wie frühere Pogrome erreichten Berichte über die antijüdische Gewalt des Bürgerkriegs die internationale diplomatische Arena. Dennoch sind die Bürgerkriegspogrome heute weitgehend vergessen.

Die in dieser Sonderausgabe von Quest enthaltenen Essays stellen somit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung eines weitgehend übersehenen Kapitels in der Geschichte der antisemitischen Gewalt dar. Sie werfen ein neues Licht auf die Komplexität der russischen Bürgerkriegspogrome und auf die Reaktionen, die diese hervorriefen.

Inhaltsverzeichnis

Contents

Focus

The Pogroms of the Russian Civil War at 100: New Trends, New Sources. Introduction by the editors Elissa Bemporad and Thomas Chopard

Contending with Horror: Jewish Aid Work in the Russian Civil War Pogroms
by Polly Zavadivker

Archive of Violence: Neighbors, Strangers, and Creatures in Itsik Kipnis’s "Months and Days"
by Harriet Murav

Pogroms on Screen: Early 20th-Century Anti-Jewish Violence and the Limits of Representation
by Valerie Pozner

Beat the Jews, Save...Ukraine: Antisemitic Violence and Ukrainian State-Building Projects, 1918–1920
by Christopher Gilley

Ukrainian Neighbors: Pogroms and Extermination in Ukraine 1919–1920
by Thomas Chopard

Red Antisemitism: Anti-Jewish Violence and Revolutionary Politics in Ukraine, 1919
by Brendan McGeever

Reviews

James Renton, Ben Gidley (Eds.); Antisemitism and Islamophobia in Europe. A Shared History?
by Arturo Marzano

Yifat Gutman, Memory Activism. Reimagining the Past for the Future of Israel-Palestine
by Tamar Katriel

Alan Mintz, Ancestral Tales. Reading the Buczacz Stories of S. Y. Agnon
by Dario Miccoli

Sarah Abrevaya Stein, Extraterritorial Dreams. European Citizenship, Sephardi Jews, and the Ottoman Twentieth Century
by Alyssa Reiman

Michal Kravel-Tovi, When the State Winks. The Performance of Jewish Conversion in Israel
by Avihu Shoshana

Sibilla Destefani (ed.), Da Primo Levi alla generazione dei «salvati». Incursioni critiche nella letteratura italiana della Shoah dal dopoguerra ai giorni nostri, Atti del convegno internazionale sulla letteratura italiana della Shoah. Zurigo, 10–11 maggio 2016
by Martina Mengoni

Shira Klein, Italy’s Jews from Emancipation to Fascism
by Gadi Luzzatto Voghera

David Biale et al., Hasidim. A New History
by Ira Robinson

Sunaina Maira, Boycott! The Academy and Justice for Palestine
by Jacob Eriksson

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