Inhaltsverzeichnis 89 (2003)

Titel der Ausgabe 
Inhaltsverzeichnis 89 (2003)
Weiterer Titel 
Tourismus

Erschienen
Münster (Westf.) 2003: Westfälisches Dampfboot
Erscheint 
4 Nummern in 3 Ausgaben
Preis
Einzelheft 9,10 EUR, Doppelheft 18,20 EUR, Abo 30,10 EUR, Abo für Institutionen 55,20 EUR

 

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Institution
Peripherie: Politik • Ökonomie • Kultur
Land
Deutschland
c/o
PERIPHERIE Redaktionsbüro c/o Michael Korbmacher Stephanweg 24 48155 Münster Telefon: +49-(0)251/38349643
Von
Korbmacher, Michael

Editorial
"Tourismus"
In den über 22 Jahren ihres Bestehens hat die PERIPHERIE sich im wesentlichen mit übergreifenden Fragestellungen gesellschaftlicher Entwicklungen und sozialer Bewegungen befasst. Das vorliegende Heft weicht von dem Konzept insofern ab, als es in dieser Ausgabe um Fragestellungen geht, die explizit eine ausgewählte wirtschaftliche Branche betreffen. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass der Tourismus über die rein ökonomischen Implikationen hinaus vielleicht stärker als andere Exportsektoren in gesellschaftliche Strukturen eingreift und gleichzeitig mit umfassenden Risiken verbunden ist, während die Chancen von durch diesen Sektor ausgelösten emanzipatorischen Prozessen nach wie vor eher skeptisch beurteilt werden.

In seiner fordistischen Ausprägung als Massentourismus auf der Basis technischen Fortschritts im Kommunikations- und Transportwesen, der Konzentration und Expansion der Touristikindustrie mit zunehmend standardisierten Angeboten und einer vor allem in der Nachkriegszeit rasch wachsenden Nachfrage in den kapitalistischen Industrieländern ist der internationale Tourismus weder eine junge noch eine vergängliche Erscheinung. Bereits Mitte letzten Jahrhunderts geißelte Frantz Fanon die Touristenzentren - quasi eine "Neuauflage der Städte der Kolonialherren" - als Stigmata der Dekadenz der nationalen Bourgeoisien. Die massiv angestiegene touristische Nachfrage in den westlichen Industrieländern als Folge des wachsenden Wohlstandes und der zunehmenden Freizeit richtete sich seit Beginn der sechziger Jahre zunehmend auf exotische, pittoreske und vor allem "billige" Destinationen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Tourismus in zahlreichen Ländern, insbesondere in kleinen Inselstaaten bereits führende Anteile am Bruttosozialprodukt bzw. an ihren Exporterlösen erlangt. Gerade in seinen Eigenschaften als "stiller" oder "unsichtbarer" Export und modernisierungsfördernder Sektor vereinigen sich, so die ökonomische Argumentation, jene Voraussetzungen zur Überwindung von Unterentwicklung in scheinbar idealer Weise, die sich u.a. aufgrund des wachsenden Protektionismus und des Preisverfalls bei traditionellen Ausfuhren verschlechtert hatten.

Seit Beginn der siebziger Jahre wurde dann immer deutlicher erkennbar, dass die von den Modernisierungsverfechtern geforderte Weltmarkteinbindung durch Tourismus wie im Falle der meisten anderen Exportsektoren die Abhängigkeit verschärft, die Schuldenlast kaum reduziert und äußerst selten zu gesamtgesellschaftlicher Entwicklung führt. Auch dem Tourismus ist die hohe Abhängigkeit und die Gefahr von Absatzrisiken immanent, die sich aus der räumlichen Identität von Produktion und Konsum in diesem Sektor ergeben. Seine Verwundbarkeit wird punktuell immer wieder deutlich bei Naturkatastrophen und Terroranschlägen - besonders spektakulär waren die Anschläge in Ägypten, Djerba und Bali - oder bei Boykottmaßnahmen und gezielten Umlenkungen der Nachfrage durch die mächtigen Reiseveranstalter. Während den Konsumenten von Reis oder Tee etwa, der in Sri Lanka oder Thailand produziert wird, die Umstände und Rahmenbedingungen der Produktion weitgehend gleichgültig sind, muss die Produktion ihrer Urlaubswelt hingegen frei von jeglichen Störfaktoren bleiben, da der Tourist als externer Faktor ja direkt in sie involviert ist. Insofern ist die Anfälligkeit dieses Sektors für Einbrüche hoch, wie auch der Preis, den die Menschen in den betroffenen Destinationen in Form des Verlusts ihrer Existenzgrundlage im formellen, vor allem aber auch im informellen Sektor zu zahlen haben. Bei alledem bleiben die erhofften Links zur nationalen Wirtschaft meist bescheiden, und der im Exportsektor typischen Enklavencharakter ist auch im Tourismus ausgeprägt. Darüber hinaus sind die Umweltbelastungen vor allem durch den Massentourismus in den vergangenen Jahrzehnten immer offensichtlicher geworden und haben die Existenz ganzer Tourismusdestinationen in Frage gestellt.

Trotz weitgehend anerkannter Fehlentwicklungen wie Migration, Vertreibung, Verschärfung sozialer Diskrepanzen, ungleicher Zugang zu Ressourcen, Umweltbelastung etc. ist der Glaube an den Tourismus als vermeintlichem Motor wirtschaftlicher Entwicklung ungebrochen, und die Zahl der Länder und Regionen nimmt jährlich weiter zu, die, wenngleich unter unterschiedlichen Vorzeichen, in den touristischen Weltmarkt eintreten. Dieser ist mittlerweile durch hochgradige Substitutionskonkurrenz geprägt, was auch die ökonomische Nachhaltigkeit von Tourismusprojekten tendenziell unsicherer werden lässt.

Die Realisierung dieser Widersprüche des Konzepts "Entwicklung durch Tourismus" hat dazu geführt, dass dieses Thema in der Entwicklungsländerforschung lange Zeit als weitgehend abgehakt galt. Dennoch ist der Tourismussektor in den vergangenen Jahren wieder stärker in den Mittelpunkt des Interesses getreten. Dies hängt sicherlich zu einem beträchtlichen Teil mit dem Globalisierungsprozess und der Globalisierungsdiskussion zusammen. Tourismus ist Globalisierung par excellence: Angebot und Nachfrage sind globalisiert, die Dienstleistung selbst besteht zu einem wachsenden Teil in der Überwindung von Grenzen, neue Technologien im Transport-, aber vor allem im Kommunikationsbereich spielen eine zentrale Rolle. Der Tourismus liefert geradezu einen Spiegel umfassender Prozesse kultureller Globalisierung mit ihren extremen Ungleichheiten, aber auch nicht völlig einseitigen Beeinflussungen. Und schließlich spielt im Bereich der Anbieter touristischer Dienstleistungen (kleine Hotels und Restaurants, Reiseführer usw.) Migration eine zentrale Rolle. Es sind in diesem Zusammenhang vor allem fünf Entwicklungen, die das Interesse am Zusammenhang von Tourismus und Entwicklung neu belebt haben:

1. Die enorme Bedeutung des Tourismussektors, sowohl quantitativ (im Jahre 2000 rund 11-12% des weltweiten Bruttoinlandsprodukts, 200 Millionen Arbeitsplätze) als auch qualitativ (zentraler Aspekt des Lebensstandards in den Industrieländern, aber auch der Mittel- und Oberschichten in vielen Entwicklungsländern) wird zunehmend realisiert.

2. Es entwickeln sich neue Formen und neue Chancen des Tourismus: Die Diskussion über Ökotourismus hat die Möglichkeit der Finanzierung von Nationalparks durch den Tourismus, aber auch die Inwertsetzung von Naturerhaltung ("schöne Landschaften", "saubere Strände") als Grundlage des touristischen Angebots verdeutlicht. Andere Formen des Tourismus (neben dem Ökotourismus z. B. der "Erlebnistourismus") bieten wirtschaftliche Chancen für Regionen, die sonst durch den Globalisierungsprozess eher peripherisiert würden. Auch die Möglichkeiten des Einbezugs lokaler Aktivitäten und Kleinunternehmen in die Entwicklung von Tourismusregionen werden diskutiert. Tourismus gefährdet nicht nur lokale Kulturen, sondern stellt selbst einen Faktor des kulturellen Wandels bei Reisenden und Bereisten dar, der nicht nur negativ zu bewerten ist.

3. Andererseits ist gerade der Ferntourismus im Zusammenhang mit dem rasch wachsenden Beitrag des Flugreiseverkehrs (60-70% Tourismus im engeren Sinne) zum Treibhauseffekt scharf kritisiert worden. Unter dem Gesichtspunkt der globalen Klimaentwicklung seien regelmäßige Fernurlaubsreisen nicht zu verantworten.

4. Darüber hinaus sind die bisher kritisch diskutierten Aspekte des Tourismus nicht verschwunden: touristische Enklaven, Konzentrationsprozess in der Tourismuswirtschaft mit der Gefahr der Marginalisierung lokaler Akteure, Umweltbelastung auf lokaler und regionaler Ebene etc.

5. Angesichts der nicht zu leugnenden ökonomischen Bedeutung des Sektors stellt sich die Frage, wie Tourismuspolitik auf lokaler, regionaler, nationaler und transnationaler Ebene gestaltet werden kann, um touristische Entwicklung im Sinne eines Beitrags zur Nachhaltigkeit sowohl in sozialer als auch in ökologischer Hinsicht zu fördern.

Zwar haben Diskussionsprozesse innerhalb tourismuskritischer Kreise und Entschließungen internationaler Konferenzen allgemein zu einer Sensibilisierung insbesondere für die tourismusinduzierten, ökologischen Schäden wie Zersiedelung, überhöhter Wasserverbrauch, Emissionen etc. beigetragen. Aber auch bei den genannten, neuen Formen des Tourismus ist bisher eine effiziente Einbeziehung von Betroffenen vor Ort in die Tourismusplanung immer noch nur selten zu erkennen. Die Ursachen sind vielfältig und sicherlich dem Einfluss von Geldgebern auf das Konzeptdesign und der verbreiteten Präferenz für Großprojekte, aber auch der Tatsache geschuldet, dass Planung am "grünen Tisch" immer noch vielfach (top-down) betrieben wird.

Die Beiträge dieses Heftes nehmen zentrale Aspekte der Diskussion über Tourismus auf. Der Artikel von Martina Backes und Tina Goethe analysiert die tourismuskritische Diskussion der vergangenen vier Jahrzehnte im Kontext der sich verändernden Schwerpunkte der gesellschaftskritischen Diskussion. Dies reicht von Enzensbergers Kritik des Tourismus als Flucht aus den eigenen Lebensbedingungen über eine dependenztheoretische Kritik in den 1970er Jahren und die spätere Kritik an den kulturellen und ökologischen Auswirkungen bis zur aktuellen Debatte über "nachhaltigen Tourismus". Sie stellen fest, dass sich trotz der veränderten Schwerpunkte des Tourismusdiskurses die realen sozialen, ökologischen und kulturellen Auswirkungen des Tourismus auf die lokale Bevölkerung kaum verändert haben.

Der Beitrag von Judith Schlehe diskutiert die Wechselbeziehungen zwischen lokalen Kulturen und Tourismus aus der Perspektive der ethnologischen Forschung; dabei problematisiert sie die ethnologische Feldforschung selbst. Die Ethnologin ist selbst zunächst einmal "Reisende", muss sich aber gleichzeitig von den Touristen abgrenzen. Schlehe behandelt in ihrem Artikel ein Thema, das sehr häufig im Mittelpunkt der Tourismuskritik stand. Dabei kritisiert sie eine Sichtweise, die die lokale Bevölkerung lediglich als passive Rezipienten ("Opfer") der dominanten Kultur der Reisenden erscheinen lässt; zukünftige anthropologische Forschung sollte sich mehr auf die neuen kulturellen Formen konzentrieren, die aus der Interaktion zwischen Touristen und lokaler Bevölkerung entstehen.

Wolfgang Hein analysiert die Bedeutung des Tourismus vor allem aus der Perspektive möglicher Chancen für eine Transformation armer, peripherer Regionen in Richtung nachhaltiger Entwicklung. Auf der Basis von Feldforschung in zwei costaricanischen Regionen zeigt er die sozialen und ökologischen Probleme des Tourismus, aber auch positive Ansätze einer möglichen nachhaltigeren Regionalentwicklung auf, die vor allem vor dem Hintergrund der schwachen wirtschaftlichen Alternativen dieser Regionen gesehen werden müssen. Die Realisierung einer positiven Entwicklung scheitert nicht notwendigerweise an immanenten Charakteristika des Tourismussektors, sie setzt allerdings eine intensive institutionelle Absicherung von der lokalen bis zur globalen Ebene voraus.

Nicolai Scherle geht in seinem Beitrag auf die Probleme interkultureller Kommunikation ein, denen sich die Veranstalter von Fernreisen gegebenübersehen - eine Perspektive, die in Tourismusdiskussion recht selten beleuchtet wurde. Auf der Grundlage eines Forschungsprojektes zu kulturellen Problemen der Unternehmenskooperation im Tourismussektor in Marokko erläutert er typische Konflikte, die als Folge vom unterschiedlichen kulturellen Hintergrund der Partnerunternehmen sowie der Menschen im Herkunfts- bzw. Zielland von Reisen entstehen, und diskutiert Lösungsansätze.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Tourismus

Martina Backes & Tina Goethe:
Meilensteine und Fallstricke der Tourismuskritik
Four Decades of Critical Approaches to Tourism: Milestones and Traps
abstract
The critical discourse on tourism is as old as tourism itself. The rise of a debate on the faults of mass tourism was a result of the strong growth of the sector since the end of the 1950s. In this paper, the most important milestones and traps of the debate on tourism are discussed with a look at their particular historical context and in view of their strengths and weaknesses. Enzensberger (1958) excellently analysed the capitalist principles structuring tourism and animated the debate with his theory about travelling as a form to escape one's own social living conditions for a few weeks. The widespread dissatisfaction of leftist and solidarity groups with social conditions at home and the dominant world system as a whole prepared the ground for a broad reception of dependence theory. Soon the damage to traditional societies and cultures and to the social structures of the receiving countries caused by mass tourism from the North was a central point of the debate. At the same time "voices from the South" complained about adverse social impacts and criticised the colonial-style character of tourism. The controversial debate was recognised by development experts, and for some time support for tourism as part of development cooperation stagnated.

Finally, during the 1990s, the debate on sustainability integrated the doubts and the critical views about tourism. The International Year of Ecotourism (IYE) 2002, launched by the United Nations 35 years after the International Year of Long-Haul Tourism in 1967, marks a preliminary result that stands for the hope to reconcile economic and ecological aspects. Nevertheless, the article concludes that between these two symbolic dates there is hardly any change in the basic socio-economic, environmental and cultural impacts on the people living in the main tourist destinations.

Judith Schlehe:
Ethnologie des Tourismus: Zur Entgrenzung von Feldforschung und Reise
Anthropology of Tourism: Between Field Research and Travel
Abstract
Anthropologists and tourists seem to have a lot in common. The article explores similarities as well as differences between anthropological field research and tourism and relates this to current debates on the impacts of postmodern theory on fieldwork methodology and on the concept of culture. It is suggested that future anthropological research on tourism should investigate the creation of new cultural forms in the context of interaction between tourists and locals in order to overcome the conventional bias that attributes agency mainly to tourists.

Wolfgang Hein:
Tourismus und nachhaltige Entwicklung ländlicher Regionen in systemischer Perspektive
Tourism and the Sustainable Development of Rural Regions in a Systemic Perspective. Examples from Costa Rica
abstract
This article seeks to demonstrate that the contribution of tourism to sustainable development can only be assessed in a holistic framework of analyzing social change. A systemic concept for analyzing societal change and the relationship between change on the local, national and global level is proposed. The main part of the article analyses the changes of a Costa Rican region brought about by tourism development in the context of post-fordist globalization. The impact of tourism on the local relations between economy and the environment, on socio-economic development in general and on local politics is analyzed and the conditions for stimulating a virtuous circle towards sustainable regional development are pointed out. It is shown that "sustainable development through tourism" is not identical with "ecotourist" development. The final chapters deal with political strategies to support sustainability on the local, national and global level taking into account the strong interdependencies between politics and the conditions for sustainable development on all three levels of global society.

Nicolai Scherle:
Interkulturelle Unternehmenskooperationen im Tourismussektor im Spannungsfeld von Konflikten und deren Lösungsansätzen
Intercultural business co-operation in the tourist sector: conflicts and their resolution
Abstract
Research on tourism in recent years has concentrated primarily on aspects of sustainability, regional development and the increasing diversification in the forms of tourism, while the central protagonists in the worldwide expansion of tourism, namely the tour operators, continue to occupy a subsidiary position in scientific debate, in spite of increasing globalisation and the associated challenges to the actors involved. This contribution presents an intercultural research project which is integrated into an application-oriented, interdisciplinary network of projects. The chief research aim of this project is to study the potential and risks of intercultural co-operation in the tourist sector, using the example of bilaterally co-operating German and Moroccan tour operators. It is the project's conceptual premise that the success or failure of a cross-border co-operation is not merely attributable to a purely economic understanding of co-operation, but rather should also take into account the cultural dimension of co-operation. Central to the discussion are those conflicts with which actors in German and Moroccan tourism are confronted in their everyday intercultural interaction, approaches to their resolution and an evaluation of German-Moroccan co-operation in general, especially in the context of conflicts arising.

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