In memoriam Katherine Aaslestad

Von
Ute Planert, Universität zu Köln

Mit Katherine Aaslestad hat die internationale Forschung zur Geschichte des Revolutionszeitalters eine ihrer wohl eindrucksvollsten Persönlichkeiten verloren. Die ausgezeichnete Kennerin der deutschen Geschichte des langen 19. Jahrhunderts bereicherte die Forschung durch innovative Studien zur Politik- und Kulturgeschichte Hamburgs und Norddeutschlands im Übergang von der Frühen Neuzeit zur Moderne und nahm als erste die über Jahrzehnte brachliegende wirtschaftshistorische Forschung zu den Folgen des napoleonischen Kontinentalsystems wieder auf. Durch die ihr eigene Gabe, Menschen unterschiedlichster Auffassungen, Karrierestufen und Interessenschwerpunkte miteinander ins Gespräch zu bringen, knüpfte sie ein weitgespanntes Netz wissenschaftlicher Kontakte, das Historiker*innen aus Skandinavien, Nordamerika, Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich, Italien und den deutschsprachigen Gebieten miteinander verband. Weltoffenheit, Hilfsbereitschaft, Gelehrsamkeit und bürgerschaftliches Engagement waren ihr nicht nur Forschungsgegenstand, sondern gelebte Tugenden der „civic culture“. Dass sie 2020 das juristische Ringen um die Erhaltung von Feuchtgebieten in Louisiana gegen die Interessen der Ölindustrie gewann, aber wenige Monate später den Kampf gegen den Krebs verlor, ist eine besondere Tragik.
Geboren in Belfonte, Pennsylvania, unterbrach die talentierte Tänzerin ihr Studium am Mary Washington College in Virginia für eine Ausbildung an der renommierten Martha Graham School of Contemporary Dance. Nach Jahren in New York führte sie der Weg zurück zur Wissenschaft. Archivreisen nach Dänemark, Frankreich und Deutschland legten den Grundstein zu ihrer Dissertation an der University of Illinois, die unter dem Titel Place and Politics: Local Identity, Civic Culture, and German Nationalism in North Germany during the Revolutionary Era 2005 bei Brill erschien und sich als Standardwerk etablierte. Hier setzte sich Katherine Aaslestadt mit der im 18. Jahrhundert gewachsenen stadtrepublikanischen Bürgerkultur der Hansestadt und ihren Veränderungen unter dem Druck von Revolution, Krieg, Kontinentalsperre und französischer Okkupation auseinander. Überzeugend legte die quellengesättigte Studie dar, dass die Disruptionen der napoleonischen Zeit nicht, wie in der Historiographie lange angenommen, in die Entwicklung eines deutschen Nationalismus mündeten, sondern ein regionales Eigenbewusstsein hervorbrachten, das erst durch die Erinnerungspolitik des 19. Jahrhunderts in Nationalbewusstsein transformiert wurde – ein Prozess, wie er inzwischen auch für andere Regionen des deutschsprachigen Mitteleuropa gezeigt werden konnte.
Seit 1997 Professorin an der University of West Virginia, trug Katherine Aaslestad mit zahlreichen, in vier Sprachen erschienenen Beiträgen zur Kultur- und Erfahrungsgeschichte des Krieges, zur Geschlechtergeschichte, zu Fragen von Kollaboration und Widerstand und der Geschichte der Philanthropie wesentlich zur Etablierung einer „New Military History“ des napoleonischen Zeitalters bei.
Ausgehend von den enormen ökonomischen Verwerfungen, welche die Kriegsjahre über die norddeutschen Hansestädte brachten, wandte sie sich verstärkt wirtschaftshistorischen Fragestellungen zu. Ihr zusammen mit dem niederländischen Historiker Johan Joor bei Palgrave herausgegebener Band Revisiting Napoleon's Continental System. Local, Regional and European Experiences unterzog erstmals seit den älteren Überblicksdarstellungen des 20. Jahrhunderts das napoleonische Kontinentalsystems wieder einer kritischen Revision. Die Beiträge der anregenden Publikation lösten sich von der Frage nach dem Scheitern der französischen Wirtschaftspolitik und richteten den Blick auf die Folgen der Handelssperre für verschiedene Akteure, Branchen und Regionen. Dabei diskutierten die Studien die Veränderungen von Handelswegen und Kommunikationsnetzwerken und zeichneten die Auswirkungen des Wirtschaftskriegs auf zwischenstaatliche Beziehungen und die Rolle neutraler Staaten nach, um so ein regional differenziertes Bild der Beeinträchtigungen zu gewinnen.
Als akademische Lehrerin aus Leidenschaft hat Katherine Aaslestad zahlreiche Arbeiten zur Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts in Deutschland und Europa angeregt. Immer ging es ihr darum, jungen Menschen vom Beginn ihrer universitären Ausbildung an die Relevanz vergangener Welten für ihr eigenes Leben aufzuzeigen und sie zu motivieren, das Beste aus sich herauszuholen. Wo immer sie konnte, versuchte sie ihre Studierenden und DoktorandInnen bei der Einwerbung von Reisemitteln und Stipendien zu unterstützen. Ihr war es wichtig, jungen amerikanischen Historikerinnen und Historikern Forschungsaufenthalte in Europa zu ermöglichen und ihnen den Zugang zu den Foren internationalen Austausches auf Tagungen und Kongressen zu ermöglichen, die für sie das Wesen gelungener Wissenschaft ausmachten. Ihr großes, gastfreundliches Haus in Morgantown stand nicht nur dem Freundeskreis ihres Mannes und der gemeinsamen drei Kinder, sondern auch AustauschschülerInnen, Gaststudierenden und ihrer „erweiterten Familie“ offen, zu der Kolleginnen und Freunde aus vielen Ländern der Erde zählten.
Bei Tagungen der German Studies Association und des Consortiums of the Revolutionary Era ein gern und häufig gesehener Gast, die das wissenschaftliche Gespräch mit ihrem stupenden Wissen bereicherte, etablierte Katherine Aaslestad Gesprächsforen zur Geschichte von Krieg, Gewalt und politischer Kultur, aus denen sich dauerhafte Forschungsnetzwerke entwickelten. Dazu trugen auch ihre vom DAAD, dem Fulbright-Programm und dem National Endowment for the Humanities unterstützten Forschungsreisen nach Deutschland bei. Im Mittelpunkt ihres Interesses standen dabei zuletzt die Folgewirkungen der napoleonischen Kriege, die Sozialgeschichte der Nachkriegsjahre und die Bearbeitung der Epoche in Kunst und Kultur, Themen, zu denen sie eine Reihe von wegweisenden Aufsätzen vorlegte. Zugleich ließ sie es sich nicht nehmen, während ihrer Archivaufenthalte in Deutschland den Kontakt zu Studierenden zu suchen und ihre Erkenntnisse in einer Reihe von Vorträgen und Workshops an der Universität zu Köln zu vermitteln. 2018 war sie Fellow am Historischen Kolleg in München, um ihre Forschungen abzuschließen. Doch ihr Buch konnte sie nicht mehr vollenden. Wenige Wochen vor ihrem 60. Geburtstag starb Katherine Aaslestad am 24. April 2021 in Morgantown, West Virginia. Die internationale Forschung zum 19. Jahrhundert verliert damit eine hervorragende Historikerin, engagierte Mentorin, anregende Gesprächspartnerin und weithin geschätzte Kollegin, der es gegeben war, Menschen miteinander in Beziehung zu bringen. Noch mehr als die ausgezeichnete Wissenschaftlerin werden viele jedoch einen wunderbaren Menschen vermissen, dessen Warmherzigkeit und Liebenswürdigkeit der Welt fehlen wird.

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