Lehmstedt, Mark (Hrsg.): Der Fall Hans Mayer. Dokumente 1956-1963. Leipzig 2007 : Lehmstedt Verlag, ISBN 978-3-937146-41-6 528 S. € 29,90

: Briefe 1948-1963. Herausgegeben von Mark Lehmstedt. Leipzig 2007 : Lehmstedt Verlag, ISBN 978-3-937146-25-6 632 S. € 29,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beate Ihme-Tuchel, Freie Universität Berlin

Über Hans Mayer, der in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden wäre, gibt es noch viel zu entdecken, wie die hier vorgelegten Publikationen zeigen. Diese von Mark Lehmstedt hervorragend edierten und mit einem ausgezeichneten Anmerkungsapparat versehenen Bände behandeln die ostdeutschen Jahre (1948 bis 1963) eines typischen Vertreters der intellektuellen „Gründergeneration“ der DDR: Frühzeitig der Kommunistischen Partei beigetreten, erfuhr diese Generation nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten rassische und politische Verfolgung (Hans Mayers Eltern wurden in Auschwitz ermordet), emigrierte frühzeitig (Mayer nach Frankreich und in die Schweiz) und übersiedelte nach dem Krieg in die SBZ/DDR (Mayer ging 1948 über Frankfurt am Main nach Leipzig, wo er eine Professur an der Karl-Marx-Universität erhielt). 1 Viele hatten wie der doppelt promovierte Hans Mayer einen großbürgerlichen Hintergrund.

Beim ersten Band handelt es sich um 355 Briefe dieses bedeutenden Literaturwissenschaftlers an eine Vielzahl prominenter und weniger prominenter Adressaten aus seiner DDR-Zeit. Nur die an den in Westdeutschland lebenden jüngeren Freund Walter Wilhelm sind auch privater Natur. Die Briefe zeugen in der Tat vom „Tage- und Wochenwerk eines ungemein abgehetzten und beanspruchten Professors, Schriftstellers und Redners“ (S. 45). Der Briefband hat einen chronologischen Aufbau und wird von angemessenen und zurückhaltenden Kommentaren ergänzt, die nicht nur formal, sondern in ihrer inhaltlichen Dichte überzeugen.

Für den zweiten Band hat Lehmstedt umfangreiches Material des Ministeriums für Staatssicherheit zusammengetragen, darunter Abhörprotokolle der als Quelle „Literat“ bezeichneten Wanze in Mayers Wohnung. Wie viele ostdeutsche Intellektuelle geriet auch Mayer 1956 in das Visier der „antirevisionistischen“ Kampagne. Hierzu trugen nicht nur der Ungarn-Aufstand bei, sondern auch die Auseinandersetzungen im Aufbau-Verlag im Umkreis von Wolfgang Harich, Walter Janka und Gustav Just. Mit „Revisionisten“ wie Georg Lukács, Ernst Bloch oder Hans Mayer sollte nunmehr abgerechnet werden.

Lehmstedt versteht die Dokumentenedition ausdrücklich als Ergänzung zu den Briefen und empfiehlt auch die Parallellektüre von Mayers Erinnerungen „Ein Deutscher auf Widerruf“. Er verweist ausdrücklich: „Die hier vorgelegte ‚Akte Hans Mayer’ existiert in der Realität der Archive nicht, sie ist ein Konstrukt.“ (S. 6) Es sei vielmehr der „Extrakt von mehreren zehntausend Blatt Akten“. Doch die vorgelegte Auswahl der Dokumente überzeugt, so dass Lehmstedt zu Recht von einer dichten und kohärenten Materiallage sprechen kann. Die Kommentare sowohl zu den Briefen als auch zu den Dokumenten sind informativ und zurückhaltend; sie geben so viel Informationen, wie zum Verständnis der Texte benötigt wird, stellen sich aber niemals in den Vordergrund. Die quellenkritischen Bemerkungen in den Vorbemerkungen (S. 7f.) zu Texten, die im MfS entstanden sind, werden immer wieder in den einzelnen Kommentaren ergänzt, so dass der Leser nie mit der Sicht des Ministeriums für Staatssicherheit allein gelassen wird.

Auf der Kulturkonferenz der SED im Oktober 1957 stand Mayers „Opulenz-Theorie“ im Zentrum der Kritik. Mayer hatte erklärt, der DDR-Gegenwartsliteratur mangele es an Opulenz, verglichen mit der Literatur der 1920er-Jahre sei sie dürftig. Bis zuletzt war er nicht bereit, den „möglichen Nutzen schlechter Literatur“ zu akzeptieren. Folgerichtig warf man ihm vor, die bürgerliche Literatur über die sozialistische stellen zu wollen. Seine ausschließlich ästhetische Bewertung von Literatur sei unmarxistisch. Zu seiner Disziplinierung bediente sich die Staatsführung eines breiten Maßnahmenkatalogs, darunter Überzeugungsversuche, Drohungen, öffentliche Attacken, Diffamierungskampagnen, gesteuerte Rezensionen, verweigerte Druckgenehmigungen, Ausgrenzung sowie geheimdienstliche Überwachung. 2 Die Androhung eines Parteiverfahrens erübrigte sich bei dem Parteilosen. Dennoch sollte, was vor dem Hintergrund des gravierenden Intellektuellenmangels der DDR zu sehen ist, der Bruch mit Mayer vermieden werden. Seine Anschauungen sollten zwar bekämpft, Mayer mithin auf den „rechten“ Weg geführt werden. Zugleich aber war der Gelehrte ein wichtiges Aushängeschild für die DDR.

Auch Mayers Konfliktstrategie war mehrdimensional. Seiner Bedeutung war er sich nur allzu bewusst. In der DDR wollte er, wie Werner Mittenzwei dies für die ostdeutschen Intellektuellen insgesamt konstatiert hat, eine aktive Rolle spielen. 3 Als renommierter Wissenschaftler, der aus Überzeugung in die SBZ übergesiedelt war, glaubte er erwarten zu können, dass ihm gewisse Freiräume gewährt würden. Dies erwies sich aber nicht nur in seinem Fall als Fehlperzeption. Zwar gewährte ihm die DDR vielfältige Privilegien, darunter den begehrten Einzelvertrag, zahllose Westreisen, ein mehr als üppiges Einkommen sowie den Nationalpreis, doch bedeutete dies keineswegs, dass Wissenschaftlern wie ihm dauerhaft Freiräume, gar eine Position der „bürgerlicher Dekadenz“, zugestanden worden wären.

In den akuten Phasen seines Konflikts mit dem Regime pflegte Mayer mit seinem Rückzug aus allen Funktionen zu drohen. Auch ließ er streuen, er könne einem Ruf nach Westdeutschland folgen. Tatsächlich wäre eine Übersiedlung damals keine Option für ihn gewesen, war er sich mit der SED-Führung doch weitgehend einig im Verdikt über die „imperialistische“ und auch in Teilen „refaschisierte“ Bundesrepublik. Immer wieder betonte der polyglotte Intellektuelle (er sprach fließend englisch, französisch und italienisch) die Wertschätzung seiner Person und seines Werks im Ausland. Anstatt sich mit subalternen Instanzen aufzuhalten, forderte Mayer Gespräche auf höchster Ebene zur Klärung strittiger Fragen. Wurden ihm derartige „Audienzen“ mit führenden Kulturpolitikern gewährt, war er vorübergehend besänftigt. Dem, was die Partei unter „offener Diskussion“ verstand, verweigerte er sich klugerweise. Die Briefe wie auch die MfS-Dokumente zeigen, wie dünnhäutig Mayer auf die Angriffe der Partei reagierte. Für seine Autonomiebestrebungen bezahlte er einen hohen Preis. Infolge der Anfeindungen geriet er nicht nur in eine Schaffenskrise, sondern erlitt im Oktober 1957 auch einen Herzanfall und Nervenzusammenbruch.

Mayer war aber auch konzessionsbereit. So fügte er sich mehrmals personalpolitischen Wünschen der SED, unterstützte die Einführung des gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums oder trat betont „parteilich“ auf, was die „Organe“ zwar anerkannten, zugleich aber als Camouflage werteten: Bei Mayer wisse man nie, was er wirklich denke. Er galt als politisch schwankend, als Bürgerlicher, der sich fälschlicherweise für einen Marxisten halte und der privat anders spreche als öffentlich. So unterstütze er Ernst Bloch in jeder Hinsicht, distanziere sich öffentlich aber von ihm. Ähnliches gelte für seine Befürwortung des „Bitterfelder Weges“.

Die Jahre 1958 bis 1961 markieren den Höhepunkt einer wechselseitigen Annäherung. Danach wurde es für Mayer erneut ungemütlicher. Anders als die mit ihm befreundeten Blochs kehrte er nach dem Mauerbau in die DDR zurück, erst im August 1963 blieb er im Westen. Diesem Schritt vorausgegangen war eine wachsende Vereinsamung, nachdem nicht nur die Blochs, sondern auch sein Freund Werner Krauss in die Bundesrepublik gegangen waren. Zudem war gegen Mayer eine erneute Hetzkampagne entfacht worden: Ihren Auslöser bildete eine Lesung Peter Hacks’ aus seinem verfemten Stück „Die Sorgen und die Macht“ in einem Seminar Mayers im Dezember 1962. Ähnlich wie im Falle Peter Huchels war auch Mayers Bedeutung für das SED-Regime im Zuge der Abgrenzungspolitik gegenüber der Bundesrepublik nach dem Mauerbau geringer geworden. Nach seiner „Republikflucht“ wurde sein Besitz beschlagnahmt und zwangsversteigert, der „Fall Hans Mayer“ war beendet.

Wer sich in Zukunft mit Hans Mayer beschäftigen will, wird auf diese Bände nicht verzichten können. Sie zeigen in Auswahl, Dokumentation und Kommentar das facettenreiche Bild dieses deutschen Intellektuellen. Editionen dieser Qualität sollte es häufiger geben.

Anmerkungen:
1 Über die Motive der um 1900 geborenen jüdischen Intellektuellen für ihre Hinwendung zum Kommunismus vgl. Leo, Annette, Leben als Balance-Akt. Wolfgang Steinitz. Kommunist, Jude, Wissenschaftler, Berlin 2005, S. 82-87.
2 Vgl. Borgwardt, Angela, Der Umgang mit der Macht. Herrschaft und Selbstbehauptung in einem autoritären System, Opladen 2002.
3 Mittenzwei, Werner, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945 bis 2000, Leipzig 2001.

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