Titel
Feminism and Motherhood in Western Europe, 1890-1970. The Maternal Dilemma


Autor(en)
Allen, Ann Taylor
Erschienen
New York 2005: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
345 S.
Preis
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Christa Kersting, Historische Erziehungswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Mutterschaft, Beruf – Selbstverwirklichung? Historische Transformation und Kontinuität eines Dilemmas: „Vor allem bist du Gattin und Mutter“ – „Vor allem bin ich ein Mensch“, entgegnet Ibsens Nora, „ebenso wie du – oder wenigstens will ich versuchen, einer zu werden“. 1 Ann T. Allens Buch analysiert den bis heute brisanten Konflikt zwischen Mutterschaft und Beruf, den kirchlichen, religiösen, rechtlichen und politischen Imperativen wie Gesetzen und einer Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung. In Anbetracht des strukturellen Wandels der Gesellschaft, also auch der Familie wird gezeigt, wie zwischen 1890 und 1970 die normative Verpflichtung der Frau zu Mutterschaft, die biologisch oder mit „Wesen“ begründete „weibliche Bestimmung“, abgelöst wurde durch eine Vorstellung Mutter zu sein als einer Rolle, die eine Frau wählt oder aber verweigert oder mit anderen Tätigkeiten kombiniert. Die Autorin rekonstruiert diesen Transformationsprozess für Westeuropa, vor allem für Großbritannien, die skandinavischen Länder, Frankreich, Deutschland, mithin den protestantischen Norden, kaum jedoch für das katholische Südeuropa. Im Vordergrund stehen die Kontroversen der Pionierinnen der Frauenbewegung. Methodisch geht es Allen darum, vorliegende, meist auf nur eine Nation bezogene Forschungen zu synthetisieren, Archiv- und Literaturstudien, Biographien und Briefe zieht sie hinzu. Länderübergreifende Ideen und Gemeinsamkeiten, die für nationale Entwicklungen nicht selten von Bedeutung sind, werden auf diese Weise oft erst erkennbar, und nun treten auch nationale Besonderheiten zutage.

Die geschlechtertheoretischen Diskurse einer „equality in difference“ wurden in dem Untersuchungszeitraum insbesondere von zwei Konzepten bestimmt: dem individualistischen, das die Rechte des/der Einzelnen und Gleichstellung der Geschlechter hervorhob, und dem relationalen Konzept, das Kooperation, Solidarität und Komplementarität von Mann und Frau zum Ziel hatte. In der Praxis seien die Unterscheidungen oft unerheblich, die Argumente austauschbar gewesen. Mutterschaft indessen bedeute unweigerlich den Konflikt zwischen „social and individualist aspirations“ (S. 5). Der symbiotischen, dann durch Abhängigkeit gekennzeichneten, schließlich durch die notwendige Ablösung und Selbständigkeit veränderten Mutter-Kind-Beziehung entspreche nichts im männlichen Lebenslauf, auf das sich ein ähnlich normatives Verständnis von menschlicher Natur und Politik gründen ließe. Mutterschaft betrachteten viele Feministinnen deshalb als Dienst an Gesellschaft und Staat, der die volle staatsbürgerliche Anerkennung verdiene. Diese Auffassung sei jedoch schwer in Übereinstimmung zu bringen mit individualistischen Forderungen nach Gleichheit und Freiheit. Der Weg zwischen den widersprüchlichen Orientierungen und Utopien führte zunächst zum Kampf um Bürgerrechte. Wenn hier Frauen, Feministinnen im Vordergrund standen, so war die Reproduktion der Gesellschaft keine Frauenfrage, sie betraf Männer und Frauen gleichermaßen, die Öffentlichkeit wie den Staat.

Vorkriegszeit (1890-1914), Ersten Weltkrieg, die Zeit zwischen den Kriegen, den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegsära (1939-1970) behandelt Allen in neun Kapiteln, sie beginnt mit der Debatte des 19. Jahrhunderts um das „Matriarchat“ (Kap. 1). Bei allen Kontroversen um dessen Historizität wird unter Berufung auf die Prähistorie die These eines universellen und permanenten männlichen Herrschaftsmusters in Frage gestellt, wird stattdessen die Macht der Mütter in Familie, Gesellschaft und Staat thematisiert. Selbst wenn Feministinnen Bachofens oder Engels’ Position teilten, der zivilisatorische Progress hätte vom Matriarchat als primitiver Stufe der Menschheit zum Patriarchat geführt, zogen sie, die sich im Übrigen nie allein auf eine Doktrin beriefen, daraus unterschiedliche Schlüsse. In Frankreich interpretierten sie männliche Herrschaft als darwinistisch und strebten nach einer von Harmonie und Frieden, Sozialität und Solidarität geprägten Republik, einer „matrie“ (S. 27). Englische Feministinnen, auch avantgardistische, von Männern wie Frauen gebildete „Clubs“ unterstützten dagegen die individuelle politische und ökonomische weibliche Macht. Nicht Rückkehr zum Matriarchat, sondern Gleichstellung der Geschlechter war ein Tenor; das Patriarchat der Gegenwart galt als „Durchgangsstadium“ (Lily Braun) zu einer von Liebe und sexueller Erfüllung geprägten Egalität von Mann und Frau; ob mit oder ohne Ehe war etwa ein Streitpunkt zwischen dem Bund für Mutterschutz (BfM) und dem Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) (S. 32ff.).

Wenngleich für Feministinnen das Patriarchat nur eine historische Erscheinung war, sahen sie sich am Ende des 19. Jahrhunderts mit der diese Ordnung stützenden Rechts- und Staatspolitik in allen Ländern konfrontiert. Um die Ehe zu einer Partnerschaft Gleichgestellter zu machen, forderten sie Eherechtsreformen und Verhandlungen über die Rechtsstellung der verheirateten wie der ledigen Mutter (Kap. 2). Dabei argumentierten sie mit dem Kriterium der Geschlechtergleichheit wie mit dem der Geschlechterdifferenz. Durch die ab 1890 geforderten Rechte für Kinder gewann die Debatte an Gewicht. Angesichts fallender Geburtenraten entdeckten alle Nationen das Kind als ökonomische und militärische Ressource (was Konsequenzen hatte für die Schulgesetzgebung, Kinderarbeit etc.). Für Mütter und Kinder wurden im entstehenden „Wohlfahrtsstaat“ soziale Dienste eingerichtet (Mutterschaftsversicherung, Geburtsvorsorge, Kindergesundheitsdienst) – Deutschland war darin Vorreiter.

In den Debatten über die Rechte der Mütter vertraten die Feministinnen der Vorkriegszeit zwei Positionen: die Förderung einer „matriarchalen“ Familie, also der mütterlichen Führungsmacht, mit dem Staat als Financier (z.B. in Frankreich), oder sie plädierten für Gleichheit von Mann und Frau, ob verheiratet oder nicht (am weitesten fortgeschritten in den skandinavischen Staaten). Beide Ansichten überschnitten sich. Im Blick auf die Rechtssituation lediger Mütter verschärften sie ihre Forderungen, auch wenn sie an den Modellen festhielten. Der Gesetzgeber ging von der Verantwortung der Eltern aus und legte dem Vater die größere Verpflichtung auf, die der Staat durchzusetzen hatte.

Auch in Bezug auf die ökonomische Absicherung (Kap. 3) diskutierten die Feministinnen europaweit zwei Wege: Die einen hielten die Verbindung von Kindererziehung und Arbeit (child and work) im Interesse einer befriedigenden geistigen Entwicklung der Mütter und der Kinder für unerlässlich; um die doppelte Belastung der „superwoman“ zu verringern, übertrugen sie dem Staat zum Teil die Sorge für die Kinder wie die Hausarbeit, schlugen wohl auch eine kollektive Haushaltsführung vor (z.B. Lily Braun). Die anderen betrachteten Mutterschaft als einen einzigartigen Beruf (profession), den der Staat bis zu einem bestimmten Alter der Kinder entlohnen solle; im Anschluss könnten die Mütter berufstätig sein.

Mit der für die Mutterschaft zentralen Frage der Verantwortung für die Reproduktion der Gesellschaft befasst sich Kapitel 4. Eine von Frauen bestimmte Geburtenregelung war revolutionär, sie verfügten aber über kein allgemein anerkanntes ethisches, rechtliches oder politisches Instrumentarium. Erst ihr Eintreten für das Recht des Kindes auf Leben, Gesundheit und Glück in Anbetracht einer hohen Kindersterblichkeit und der physischen Schwäche junger Männer z.B. im Burenkrieg habe die Selbstbestimmung der Frau in der Geburtenfrage für die Öffentlichkeit akzeptabel gemacht. Das soziale Elend führte zur Diskussion, dass Qualität wichtiger sei als Quantität (was jedoch die demographische Krise um 1900 nicht entschärfte); an dieser Stelle setzte auch sexuelle Erziehung ein. Einige Feministinnen befassten sich mit Eugenik, durch Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse und „bewusste Elternschaft“ seien Gesundheit und Leben der nächsten Generation, die „menschliche Rasse“ insgesamt zu verbessern. Da der französische Staat den Frauen die Selbstbestimmung in der Geburtenfrage verweigerte, traten sie in den Gebärstreik. In der Vorkriegszeit blieb das Dilemma der Mutterschaft politisch, rechtlich, ökonomisch, wissenschaftlich ungelöst.

Während des Ersten Weltkriegs ordnete die Mehrheit der Frauen die feministischen Ziele in den kriegführenden Ländern den nationalen unter (Kap. 5). Um den beruflichen Einsatz von Frauen zu ermöglichen, stärkte der Staat die Kinderbetreuung und das Sozialsystem und drang auf Gebärpflicht. Nur eine kleine Gruppe international organisierter Pazifistinnen hielt am Recht auf individuelle Selbstbestimmung fest und setzte einer durch kriegerische Aggression geprägten Welt das Ideal altruistischer und friedliebender Mütterlichkeit entgegen. Am Ende des Krieges wurde das Modell einer die Familie führenden Mutter mit Elend, Trauer und Verlust assoziiert, auf matriarchale Vorstellungen griff erst wieder die zweite Frauenbewegung zurück; fortan setzte man auf familiäre Stabilität durch ein gleichberechtigtes Elternpaar – und die Rückkehr der Mütter ins Haus? Der englische Staat bannte durch Festsetzung des Wahlalters von Frauen auf 30 Jahre (Männer: 21) die Gefahr, Wählerinnen könnten die Politik entscheiden.

Die Zwischenkriegszeit brachte keine Lösungen, sondern verschärfte nach Allen das Dilemma der Mutterschaft (S. 184f.) – der Beginn der faschistischen Diktaturen wurde in der internationalen Diskussion nicht zum Einschnitt, wenngleich er überall einen Abbruch feministischer Arbeit und Kontakte bedeutete. Auch wenn andere Feministinnen diese Zeit als konservativ bewertet haben, erkennt Allen ab 1930 das Bild einer modernen Mutterschaft, mit gleichen elterlichen Rechten, einer Kombination von Heirat, Mutterschaft und bezahlter Arbeit, Geburtenkontrolle und rationaler Kindererziehung (S. 137f.). Da jedoch die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter, außer in Großbritannien und den skandinavischen Ländern, ausblieb, die feministische Bewegung international an Stärke verloren hatte, mussten Mütter nach privaten Lösungen der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf suchen (S. 158f.); eine weibliche Elite wählte die doppelte, nach dem Zweiten Weltkrieg dann für viele Frauen bestimmende Orientierung. In allen demokratischen Ländern, Frankreich ausgenommen, wurde Geburtenkontrolle zwischen den Kriegen allmählich akzeptiert. Durch den wachsenden Individualismus der Zwischenkriegszeit gewannen psychologische Theorien an Einfluss; im kritischen Blick auf Mutterschaft konstatierten sie Ambivalenz: die Mutter trug an allen Fehlentwicklungen des Kindes Schuld und lief Gefahr, in der alten gottgewollten Ordnung zu landen; andererseits hatte der „angel in the house“ ausgedient, wurden neue Wege der Mutterschaft eröffnet.

Das Dilemma der Mutterschaft, in der Vorkriegszeit vor allem ein Kampf gegen Patriarchat, Staat und Kirche, wurde zunehmend zu einem persönlichen Konflikt. In den 1920er-Jahren widmeten sich Experten diesem psychologischen Problem, auch seiner Auswirkung auf die Kinder (Kap. 8). Obschon ab Ende der 1950er-Jahre die Gleichstellung von Frauen sich verbesserte, hat das „maternal dilemma“ nicht an Brisanz verloren (Kap. 9).

Die Transformation einer normativen, essentialistisch begründeten Auffassung von Mutterschaft in eine selbst gewählte Identität zeichnet Allen für den Zeitraum von 1890 bis 1970 auf breiter Materialbasis und im Rückgriff auf Nationalgeschichte, Geschichte der Frauenbewegung, auf Politik- und Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nach. Da die verschiedenen Rollen nicht streng zu trennen, höchst unterschiedliche, allgemein-normative und individuelle Anforderungen stets von Neuem in ein Gleichgewicht zu bringen sind und erst das Selbstverwirklichung zu nennen wäre, bleibt die Entscheidung für Mutterschaft selbst in ihrer modernen, keineswegs nur privaten Form (wie staatliche Anreize nicht nur in Deutschland zeigen) prekär. Die Frage weist meines Erachtens auf ein ambivalentes, zwischen den Interessen, Rechten und Pflichten der Mutter und denen des Kindes changierendes Zentrum, das vor allem kulturell geprägt und als Chiffre für Glück und Frieden nach wie vor in den Köpfen von Frauen wie Männern existiert. Für die vergleichende Frauen- und Geschlechterforschung ist das spannend geschriebene, mit ausführlichem Register versehene Buch unverzichtbar.

1 Ibsen, Hendrik, Nora (Ein Puppenheim), Stuttgart (Reclam) 2002, S. 90.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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