Cover
Titel
Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten


Autor(en)
MacMillan, Margaret
Erschienen
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jost Dülffer, Historisches Institut, Universität zu Köln

Margaret MacMillan ist eine renommierte kanadische Historikerin, die in Oxford und Kanada lehrt. Sie wurde hierzulande vor allem mit ihrem Buch über den Friedensprozess nach dem Ersten Weltkrieg bekannt.1 Daher ist sie bestens qualifiziert, über das Gegenbild zum Frieden, den Krieg, grundsätzlicher nachzudenken. Sie hat das als Emerita in lebenslanger Forschungskarriere in dem Feld sowie universalgeschichtlich im Rahmen der angesehenen, in verschiedenen Ländern gehaltenen Reith Lectures getan und daraus dieses Buch gemacht. Es wurde in der englischsprachigen Welt sogleich hoch gelobt und mit einer Reihe von Preisen bedacht.

Worum geht es in diesem anschaulich geschriebenen Band? Letztlich ist es eine von der Frühgeschichte bis in die Gegenwart reichende Reflexion von „Krieg“, ein Thema, das sonst eher von Philosophen und Politologen behandelt wurde und sich gerade wegen seiner Komplexität hohen Ansprüchen stellen muss. Ein Jahrzehnt zuvor hatte Steven Pinker, ein Psychologe mit politikwissenschaftlichem Ansatz, zu beweisen gesucht, dass Gewalt im Laufe der Menschheitsgeschichte abgenommen habe – viel diskutiert und zumeist mit guten Gründen bestritten.2 Eine solche klare Antwort ist MacMillans Sache nicht. Sie reflektiert darüber, dass und wie Krieg immer wieder vorkommt, scheint ihn in die Nähe einer anthropologischen Konstante zu stellen und ihm dabei nicht nur negative Wirkungen zuzuweisen.

Was jedoch ist Krieg? Das ist alles andere als klar und wird auch hier so weit gefasst, dass Unterscheidungen schwierig werden. „Krieg ist in seinem Wesen organisierte Gewalt“ (S. 12) – dem wird man uneingeschränkt zustimmen können. Aber schon im Untertitel kommt der Begriff der menschheitsprägenden „Konflikte“ hinein, der wesentlich vager und auch noch breiter ist. Krieg sei nicht einfach der Gegensatz zu einem (wie auch immer seinerseits begrifflich zu fassenden) „Frieden“, sondern genauso konstitutiv für die Menschheit wie jener. „Er hat seinerseits die Organisation der Gesellschaft vorangetrieben“ (S. 21). Das ist ein Fortschrittsnarrativ, das – wenn auch unter einigem Bedauern – den ganzen Band durchzieht und wohl als „outspoken assumption“ zu bezeichnendes Narrativ des ganzen Bandes gelten kann.

So setzt die Verfasserin mit „Ötzi“ ein, jenem Mann, der um 3300 v. Chr. lebte und vor drei Jahrzehnten in den Alpen im Eis aufgefunden wurde: Er wurde unter Gewaltanwendung getötet. Gibt das tatsächlich einen sinnvollen Begriff von „Krieg“ ab? MacMillan lässt dem zahlreiche Beispiele anthropologischer Forschung über ethnische Kämpfe überall auf der Erde aus vorgeschichtlicher Zeit folgen, schließt dann aber ihrerseits nur Wirtshausschlägereien oder Auseinandersetzungen von Straßengangs begrifflich aus. Ganz klar bleibt die Limitierung des Untersuchungsgegenstandes im ganzen Buch nicht. Jedenfalls lässt sie sich nicht auf einen bei einigen Politikwissenschaftlern beliebten Bodycount der Opferzahlen in Kriegen ein; sie berücksichtigt ausdrücklich auch Bürgerkriege.

Insgesamt bündelt die Autorin ihre Darlegungen nach einem eher methodischen Kapitel in acht weitere Kapitel. Es geht ihr um Kriegsgründe, die Mittel und Wege, um die Frage, wie Krieger gemacht werden, um das Kämpfen an sich. Nochmals ausgeweitet wird der Blick auf die Zivilisten, um den Aspekt des Unkontrollierbaren, das doch so gern kontrolliert werden sollte, und schließlich um „unsere“ Erinnerungen und Vorstellungen. Das kann hier im Einzelnen nicht dargelegt werden. MacMillan widmet sich neben den kämpfenden Männern auch den entsprechenden Frauen – von den Amazonen an. Vor allem bei Erörterung des Zivilen kommt ihre oft passiv-leidende Rolle gut heraus. Auch von Vergewaltigungen und Sexualität ist die Rede.

In diesem universalgeschichtlichen Narrativ kommen immer wieder Militärtheoretiker von Thukydides oder dem Chinesen Sunzi über Kant und Clausewitz bis zum vietnamesischen General Giap oder Michael Howard vor. Das führt nicht dazu, dass sie methodisch-analytisch streng argumentiert, sondern auch Dichter und Literaten kommen als Beispielgeber gern gleichberechtigt neben genuin historischen Abläufen vor. Shakespeare und General Sherman stehen so nebeneinander. Auch die Musik als Ausdruck und Beschäftigung mit Krieg wird einbezogen – von Ludwig van Beethoven bis Bob Dylan.

Die Verfasserin schafft auch geographisch ein breites Spektrum an Kontinenten – schreibt aber vor allem in herkömmlicher Weise über den europäisch-nordatlantischen Bereich. Grob gesagt fehlt der globale Süden als Thema. Bemerkenswert häufig wird auch die deutsche Geschichte herangezogen – und nicht nur als die der deutschen Verbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wenn etwa zu Beginn des Zivil-Kapitels die Aufzeichnungen der Berliner „Anonyma“ 1945 angesichts sowjetischer Besatzung breit und exemplarisch zitiert werden (S. 221–223, man kennt mittlerweile die reale Person und die spätere literarische Bearbeitung), um dann zu betonen, dass Zivilisten immer in Kriege einbezogen wurden. Aber: „Der Schritt zum totalen Krieg im 20. Jahrhundert verwischte die Trennlinie zwischen Kampf- und Heimatfront“ (S. 236). Wirklich erst zu diesem Zeitpunkt? Waren die Kategorien des Soldaten und des Zivilisten nicht auch sonst verwischt – wie einleuchtend wiederholt an Bürgerkriegen entfaltet wird?

Diese Beispiele machen schon deutlich, dass es MacMillan nicht um die historisch getreue Rekonstruktion von Kriegen, deren Ursachen oder Folgen geht, sondern um die Anschauung möglichst breiten Materials. Gerade in den genuin historischen Passagen zeigt sie ein stupendes Wissen und Durchdringen der entlegensten und gegensätzlichsten Beispiele. So liegt dann auch oft ihre Bilanz darin, dass es dies oder jenes gebe, Anderes aber auch: eine große Bandbreite also. Das gilt zumal für dessen Wirkungen. „Zu sagen, dass Krieg Gutes bewirken und dazu beitragen kann, stärkere, sogar gerechtere Gesellschaften zu schaffen, heißt nicht, ihn zu verteidigen. Natürlich würden wir lieber im Zustand des Friedens die Welt verbessern, den Schwachen und den Glücklosen helfen […]. Aber in Friedenszeiten fällt es schwerer, den Willen und die Mittel für große Fortschritte aufzubringen.“ (S. 53) Das klingt fast ähnlich wie Mitte des 19. Jahrhunderts, als der ältere Moltke sich gegen einen ewigen Frieden aussprach, oder wie bei uns Dieter Langewiesche Europas Kriege der Moderne als Vehikel des Fortschritts erkannte.3 Auch wenn man diesen Aspekt bejahen mag, so fragt sich einerseits, ob dies je „notwendig“ war, andererseits zu welchen gesellschaftlichen und anderen Kosten es jeweils geschah.

Pazifistisch ist das gewiss nicht, aber ist es auch realistisch? Damit sind wir bei dem bisher ausgelassenen Kapitel „Moderne Kriege“ angelangt. Hier beginnt MacMillan bei den napoleonischen Kriegen, ihren Opfern und neuen Mitteln der Kriegführung, die sie für den Ersten Weltkrieg – ihr eigentliches Spezialgebiet – in seiner Intensivierung knapp und brillant herausarbeitet. Industrialisierter Krieg und der Wandel im See- und dann auch Luftkrieg kamen hinzu. Hiroshima und Nagasaki werden benannt. Ihr Hauptargument: Krieg sei fast überall als notwendig für die Herausbildung von Nationen angesehen worden (hier ähnlich wie Langewiesche). Darüber hinaus sei Krieg auch immer als etwas Ehrenhaftes angesehen worden – und hier macht sie einen großen Sprung von Ausführungen des römischen Historikers Sallust bis zu George W. Bush 2006 (S. 153). Ist das der eigentliche moderne Krieg? Nein, denn auch MacMillan konzediert: „Eine der großen Tragödien des modernen Krieges bestand darin, dass Gesellschaften sich durch ihre bloße Stärke – was Organisation, Industrie, Wissenschaft und Ressourcen betraf – in solch effektive Tötungsmaschinen verwandeln konnten.“ (S. 122)

Das scheint dann doch zu kurz zu greifen. Schon im 19. Jahrhundert begannen zivile Kriegstheoretiker wie Militärs über die Unmöglichkeit zur Führung eines Großkrieges nachzudenken und im 20. Jahrhundert setzte sich mit beiden Weltkriegen und den Vernichtungsdrohungen des nuklearen Kalten Krieges diese Erkenntnis weithin durch: Große Kriege können nicht nur Staaten, sondern die Menschheit zerstören. Gewiss, auch MacMillan denkt über künftige Kriege nach, doch hält sie das eher für Spekulation; hybride Kriege werden erwähnt, auch die Möglichkeit des Kampfes „zwischen Berufsarmeen mit Hightech-Ausrüstung, hinter denen die ganze Macht hochentwickelter Gesellschaften steht“ und zwischen „locker organisierten Verbänden, die mit minderen Waffen kämpfen“ (S. 330). Hier hätte man gern einiges mehr gelesen. Diese Diagnose ist wohl auch vertretbar, wenn man reale Erscheinungen von Krieg bis in unsere Zeit benennt. Aber die Möglichkeit zu weitgehender Vernichtung menschlicher Lebensmöglichkeiten in einem künftig möglichen Weltkrieg, die ihm vorausgehende und ihn begleitende „totale“ wirtschaftliche und mentale Mobilisierung signalisiert doch einen ganz anderen Charakter, der weniger Kontinuität bedeutet. Krieg hat sich von Ötzi bis zur Gegenwart so stark gewandelt, dass gefragt werden muss, ob heutige potenzielle oder reale Formen in universalen Kategorien aufgehen können. Gewiss gibt es eine große Vielfalt von Erscheinungen, die weltgeschichtlich in großer Breite, glänzendem Narrativ und erhellenden Beobachtungen vorgeführt werden. Dafür ist Margaret MacMillan zu danken.

Diese Rezension wurde vor dem 24. Februar 2022 geschrieben, dem Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine. Diese Ereignisse bekräftigen den Rezensenten in dem Urteil, dass die universalhistorischen Einordnungen der Autorin angesichts der in diesem Krieg bereits real ausgeübten und potenziell endlos steigerungsmöglichen Gewalt besser als kumulierende Entwicklungsspirale der u.a. mentalen, ökonomischen, physischen und psychischen Entgrenzung von Krieg gelesen werden sollten.

Anmerkungen:
1 Margaret MacMillan, Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte, Berlin 2015 (englisch 2001).
2 Steven Pinker, The Better Angels of Our Nature. Why Violence Has Declined, London 2011. Eine kritische Rezension von Benjamin Ziemann in: H-Soz-Kult, 30.03.2012, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-16894 (25.02.2022).
3 Dieter Langewiesche, Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne, München 2019. Vgl. meine Rezension in: H-Soz-Kult, 28.03.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28172 (25.02.2022).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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