A. Leistner (Hrsg.): Das umstrittene Erbe

Cover
Titel
Das umstrittene Erbe von 1989. Zur Gegenwart eines Gesellschaftszusammenbruchs


Herausgeber
Leistner, Alexander; Wohlrab-Sahr, Monika
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Villinger, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Wer heute in den in Berlin-Lichtenberg gelegenen, überwiegend von vietnamesisch-stämmigen Geschäftsleuten betriebenen Großmarkt Dong Xuan Center fährt, findet dort schnell T-Shirts mit der Aufschrift: „Hüte dich vor Sturm und Wind und Ossis, die in Rage sind!“ Eine von mehreren verfügbaren Versionen zeigt einen muskelbepackten, glatzköpfigen „Ossi“, der einen „Wessi“ mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen am Kragen packt. Im Hintergrund der aggressiv anmutenden Szene prangt das Staatswappen der DDR. Warum solche T-Shirts als alltagsweltlicher Bestandteil einer Leseart von 1989 als „Widerstandsnarrativ“ (S. 35) gelten können, verdeutlichen die Beiträge des Sammelbandes. Aufgrund ihrer Varianz werde ich im Folgenden nicht gleichmäßig auf alle Beiträge eingehen, sondern auf die Darstellung von übergreifenden Bezugspunkten abzielen.

Der Band setzt sich einerseits aus perspektivierenden Texten und andererseits aus Beiträgen der Auftakttagung des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) seit 2018 geförderten und an den Universitäten Leipzig und Freiburg angesiedelten Forschungsverbundes „Das umstrittene Erbe von 1989. Aneignungen zwischen Politisierung, Popularisierung und historisch-politischer Geschichtsvermittlung“ zusammen.1 Das Projekt gehört zu den 14 großformatigen Forschungsverbünden, die zum einen „Wissenslücken“ zur DDR-Geschichte füllen und zum anderen die Bedeutung des „Transformationsprozesses nach 1989/90 auf aktuelle Entwicklungen“ aufzeigen sollen.2 Ob sich mit solchen temporär finanzierten Strukturen, die erst aufwendig aufgebaut werden müssen und anschließend womöglich wieder verschwinden, die gewünschten nachhaltigen Effekte erzielen lassen, steht als offene Frage im Raum. Die damals verantwortliche CDU-Bundesministerin Anja Karliczek äußerte die Erwartung, dass das Schließen von Wissenslücken über die DDR-Vergangenheit dazu beitragen könne, die Zukunft zu gestalten. Es spricht für den Sammelband, dass die wohlmeinende politische Intention des „aus der Geschichte lernen“ insbesondere in Kapitel V (Let’s talk about ’89 - Geschichte vermitteln) kritisch diskutiert und dekonstruiert wird.

In einem als Interview verfassten Beitrag widmen sich Alexander Leistner und Verena Haug unter anderem der gleichzeitig entpolitisierten und moralischen Aufladung von historischer Vermittlungsarbeit, bei der nicht etwa Geschichtsbilder hinterfragt, sondern lediglich ein feststehender und „vermeintlich konsensualer Wissens- und Wertekanon vermittelt werden soll“ (S. 359). In ihrem ebenfalls Kapitel V zugeordneten Aufsatz verdeutlicht Christina Schwarz, dass sowohl die politisch motivierte Umdeutung von 1989 durch die Alternative für Deutschland (AfD) als auch die zunehmende Diversität des Publikums in außerschulischen Lernorten mit einer Diversifizierung der Fragen an die Geschichte von 1989 einhergeht. Diese lassen sich mit einem durch zusätzliches Detailwissen angereichertes, aber trotzdem teleologischen Erfolgsnarrativ der deutschen Einheit nicht beantworten. Sie argumentiert, dass es bei der pädagogischen Arbeit auch darum gehen sollte zu vermitteln, wie Geschichtsbilder hergestellt und politisch genutzt werden. Die gedenkstättenpädagogische Einübung von in sich „geschlossenen Geschichtsbildern und die Vermittlung stringenter Narrative, die Geschichte nicht als gemacht“ (S. 348), sondern als feststehenden, nicht hinterfragbaren Konsens darstellen, hinterlässt, wie Schwarz überzeugend darlegt, „inhaltlich und didaktisch zu große Lücken“ (S. 348), in die gegenwärtig die politische Rechte vorstößt.

Grundsätzlich ist der Sammelband in sechs Kapitel unterteilt, die sich unterschiedlichen Zugängen zum Erbe von 1989 widmen, wobei die Zuordnung der Aufsätze nicht immer nachvollziehbar ist. So sind zum Beispiel die Beiträge zur filmischen Repräsentation der Leipziger Montagsdemonstrationen (Andreas Kötzing), zu populär-kulturellen Deutungen in Film, Literatur und Musik (Jonas Brückner) sowie zum „Osten als Ort pluraler Beheimatung in der Populären Musik seit 2000“ (Anna Lux) auf verschiedene Kapitel verteilt. Neben wissenschaftlichen Aufsätzen sind ein Essay von Ilko-Sascha Kowalczuk, kurze Alltagsbeobachtungen im Stile soziologischer Feuilletons von Barbara Thériault oder eine von Dorothee Wierling verfasste Reflexion über ihre Erfahrungen als Historikerin in Leipzig während des Umbruchs und die Machtverhältnisse zwischen ost- und westdeutschen Wissenschaftler:innen enthalten. Was überraschenderweise fehlt und von Kowalczuk in seinem Essay indirekt als Leerstelle benannt wird, ist eine transnationale Sichtweise auf die Aneignung des Erbes von 1989 durch die extreme Rechte in ost- und mitteleuropäischen Ländern.

Den programmatischen Auftakt legt Alexander Leistner vor, indem er einige grundlegende Einsichten in das Erbe von 1989 formuliert. Als wichtigen Ausgangspunkt für die „Irritation von Wahrnehmungsroutinen“ (S. 14) identifiziert er die Aneignung und Umdeutung von 1989 seit 2015 durch politisch extrem rechte Akteur:innen und die AfD in Form eines aktualisierenden „Widerstandsnarrativs“. Dieses greift die „dichotomen Strukturelemente des dominanten Revolutionsnarrativ[s]“ (S. 35) wie etwa Täter-Opfer-Unterschiede auf und entfaltet dabei eine „straßenpolitische Dimension“ (S. 36), die Körperlichkeit und Unmittelbarkeit in den Mittelpunkt stellt. Die an diese Neuinterpretation von 1989 anschließende und in Diskursen, kulturellen Erzeugnissen, bei Demonstrationen oder auf T-Shirts konstruierte ostdeutsche Identität hat nicht nur komplexitätsreduzierenden Charakter, sondern sie ist auch verknüpft mit Homogenitätsidealen, Annahmen von Interessensgleichheit, „Vorstellungen legitimer Kollektivität und politischer Ordnung“ (S. 38). Leistner zufolge habe es die quantitative Transformationsforschung in den 1990er-Jahren nicht geschafft, die Herausbildung von eigensinnigen Demokratieverständnissen zu erkennen, weshalb er für eine qualitative, sinnverstehende und rekonstruktive Erforschung von Wandlungsprozessen plädiert.

Während die Aufsätze diesem Ansatz weitgehend folgen, fällt auf, dass etwa Karl-Siegbert Rehberg und auch Ute Frevert in ihren Beiträgen durchaus auf die von Leistner gescholtenen Ergebnisse der quantitativen Transformationsforschung umfassend zurückgreifen, um ihre Argumentationen zu stützen. So zitieren sowohl Rehberg als auch Frevert Studien, nach denen sich die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung als „Bürger zweiter Klasse“ (S. 70, 258) fühlt. Diese auch in öffentlichen Debatten oft zitierte sozialwissenschaftliche Diagnose der Selbstwahrnehmung von Ostdeutschen müsste als wirklichkeitskonstruierende Kategorie selbst historisiert werden. Ein Ungleichgewicht entsteht zum Beispiel beim Text von Frevert, wenn sie sich eher unkritisch auf sozialwissenschaftliche Deutungen stützt, aber gleichzeitig die Konstruktion einer ostdeutschen Identität durch Publizist:innen und Intellektuelle (wie zum Beispiel Jana Hensel und Wolfgang Engler) als „kühn konstruierte Kopfgeburt“ (S. 266) abqualifiziert.

Wie sich untersuchen lässt, ob und wie Menschen die extrem rechte Umdeutungen von 1989 in ihre Alltagswahrnehmungen integrieren, zeigt Greta Hartmann in ihrem instruktiven Aufsatz anhand eines Gruppeninterviews. Sie kann auf bedrückende Weise nachzeichnen, wie mit dem Bezug auf die Proteste im Herbst 1989 homogene Gemeinschaften bzw. Kollektive imaginiert, extrem rechte Einstellungen normalisiert und die Gegenwart mit der DDR parallelisiert wird. Solche Effekte beobachtet auch Armin Steil am Beispiel des Konflikts um den Bau einer Moschee in Ost-Berlin zwischen 2006 und 2008. Er zeigt, wie und warum die Protestierenden die Gleichsetzung von Diktatur und Demokratie nutzten, um auf die Delegitimierung ihres Anliegens durch die lokalen Verwaltungsstrukturen zu reagieren. Im Zuge der Proteste sei, wie der Autor betont, die Parole „Wir sind das Volk“ erstmals mit „Narrativen des Nationalpopulismus“ (S. 126) überschrieben worden. Praktiken und Folgen der filmischen, literarischen, musikalischen und diskursiven Herstellung von Homogenität in Bezug auf die Geschichte von 1989 werden in fast allen Beiträgen aufgegriffen.

Antworten auf die Frage, mithilfe welcher Quellen und Forschungsdaten sich die „langen Linien gesellschaftlicher Kritik“ (S. 175) vor, während und nach 1989/90 systemübergreifend nachzeichnen lassen, gibt Carsta Langner in ihrem Beitrag am Beispiel von Dokumentarfilmen, sozialwissenschaftlichen Studien und Eingaben der DDR-Bevölkerung. Daran knüpft auch der Beitrag von Claudia Pawlowitsch und Nick Wetschel an, die sich unter anderem anhand von an den Dresdner Ausländerbeauftragten gerichteten Petitionen mit der An- bzw. Abwesenheit von Vertragsarbeiter:innen im Kontext der Geschichte von 1989 beschäftigen. Dass aktualisierende Deutungen von 1989 nicht nur auf die Herstellung von Homogenität abzielen, sondern dabei auch differenzierte Sichtweisen entstehen, verdeutlichen die Beiträge von Anna Lux und Jonas Brückner, die sich beide mit Produkten der Populären Kultur beschäftigen. Während Brückner einen anregenden Vergleich von Literatur, Film und Musik zwischen 1990 und 2020 anlegt, fokussiert sich Anna Lux auf Populäre Musik seit 2000.3 Deutlich wird bei beiden, dass der künstlerische Blick auf 1989 und die Folgen zum einen vor allem von Männern geprägt ist, wobei das literarische Feld hier eine Ausnahme darstellt. Zum anderen taucht das Erfolgsnarrativ der deutschen Einheit in den popkulturellen Repräsentationen kaum auf.

Insgesamt erfüllen die heterogenen und interdisziplinären Beiträge des Sammelbandes den selbstgesetzten Anspruch einer „kontrollierte[n] Verkomplizierung der Forschungen zu Ostdeutschland“ (S. 55), wodurch fast zwangsläufig Widersprüche entstehen: Zum Beispiel reproduziert die schematische Darstellung des Verhältnisses von SED-Herrschaftsapparat und DDR-Gesellschaft bei David Begrich bis zu einem gewissen Grad das für das Erfolgsnarrativ der deutschen Einheit konstitutive „Diktaturgedächtnis“.4 Einige der Beiträge enthalten zudem zugespitzte Thesen, die sich hervorragend als Anknüpfungspunkte für Diskussionen eignen, aber nicht ausreichend belegt sind. So konstatiert Dominik Intelmann in den frühen 1990er-Jahren mit Hinblick auf das Volkseigentum eine „Privatisierungseuphorie“ (S. 299, Kursivsetzung im Original) in der ostdeutschen Bevölkerung, die er lediglich aus der Abwesenheit von expliziten Forderungen nach ostdeutscher Eigentümerschaft oder fehlenden „Ideen einer kollektiven (Selbst-)Verwaltung“ (S. 300) ableitet. Widersprüche und Fehlstellen erscheinen insbesondere bei interdisziplinär angelegten Projekten wie den Forschungsverbund jedoch nicht als Schwäche, sondern vielmehr Ausdruck von fluiden kommunikativen Aushandlungsprozessen. Mit seinen Beiträgen führt der anregende Band die Mechanismen der Neuinterpretation von 1989 durch politisch extrem rechte Akteure und deren Anschlussfähigkeit im Alltag eindrucksvoll vor Augen. Es bleibt zu hoffen, dass die Erkenntnisse des Forschungsverbundes nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch der Politik, den Sicherheitsbehörden und den Medien rezipiert werden, denn die Folgen von homogenisierenden, nationalistischen und rassistischen Umdeutungen der deutschen Einheit werden die Gesellschaft auf unbestimmte Zeit weiter beschäftigen.

Anmerkungen:
1 Website des Forschungsverbundes mit einem Überblick zu den einzelnen Projekten: https://www.erbe89.de/forschungsverbund/ (25.04.2022).
2 Vgl. Pressemitteilung 048/2018 mit einem Überblick über die geförderten Forschungsverbünde: https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/pressemitteilungen/de/wissensluecken-ueber-die-ddr-schliessen.html (25.04.2022)
3 Die Website http://www.89goespop.de (25.04.2022) gibt einen Überblick über das im Projekt gesammelte Material.
4 Martin Sabrow, Die DDR erinnern, in: ders. (Hrsg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 11–27.