Nach James Dodd stellt Gewalt ein Sinnproblem dar. Gewalt ist omnipräsent und mehrdeutig. Sie ist bedingt durch biologische, psychologische, soziale, kulturelle, historische, politische und ethische Faktoren. Auch phänomenologisch ist Gewalt in sich geschlossen. Sie richtet sich zwar gegen ein Objekt oder Subjekt, ist aber nicht objektiv. Sie ist in ihrer Existenz nicht unabhängig. Gewalt zerstört, sie hält etwas oder jemanden auf, aber sie kann nicht zerstört werden.1 Die Allgegenwärtigkeit und Vieldeutigkeit der Gewalt sowie die moralische Ambivalenz, die sie hervorruft, eröffnen ein undurchsichtiges, jedoch aufschlussreiches Forschungsfeld für die Untersuchung kultureller, sozialer und politischer Phänomene und deren Veränderung.
Der Historiker Janis Nalbadidacis hat sich dieser konzeptionellen und phänomenologischen Herausforderung in seinem Dissertationsprojekt gestellt, aus dem die hier zu rezensierende Monographie hervorgegangen ist. Der Autor analysiert die Folterdynamiken in zwei „Institutionen der Gewalt und der Angst“ (S. 15) der griechischen und argentinischen Diktaturen (1967–1974 und 1976–1983): der Escuela de Mecánica de la Armada (ESMA) in Buenos Aires, in der die Spezialeinheit 3.3.2 der Marine Tausende von sogenannten Subversiven festnahm, folterte und tötete, und das Hauptquartier der Sicherheitspolizei in Athen, das als erste Anlaufstelle für vom Staat verschleppte Zivilist:innen diente. Die vergleichende Analyse geht davon aus, dass die Folter politischer Gefangener ein zentrales Element der Militärdiktaturen war. Mit dem Ziel, die „institutionell, kulturell, regional oder auch gesellschaftlich bedingte Einwirkungen und Ausformungen der Gewalt“ (S. 9) herauszuarbeiten, wertet Nalbadidacis ein umfangreiches Quellenkorpus aus: Dokumente aus den Prozessen gegen die Junten, Berichte internationaler Organisationen, Ego-Dokumente und selbst geführte Interviews mit Zeitzeug:innen. Dabei geht der Autor der Frage nach, welche Faktoren die Logik der Folter bestimmten, und untersucht die Gewaltsituationen und die damit verbundenen Figurationen. Diese sind nach der Definition von Norbert Elias soziale Geflechte, die aus interdependenten Gruppen von Menschen bestehen, die auf unterschiedlichen Ebenen organisiert sind.2 Dem methodischen Ansatz der Gewaltsoziologie folgend, erarbeitet der Autor eine „dichte Beschreibung im Vergleich“ (S. 24). Die mikroskopische Betrachtung konkreter Situationen und die explorative Gegenüberstellung sollen es ermöglichen, das Gewalthandeln „wie es wirklich war“ (S. 409) zu untersuchen und konzeptionell-theoretische Fragestellungen zu entwickeln.
Die Einleitung und die ersten drei Kapitel führen in die Rahmungen ein: Grunddefinitionen, die politische und historiographische Aufarbeitung des Staatsterrorismus in Argentinien und Griechenland sowie die Vorgeschichte beider Diktaturen, der griechische Bürgerkrieg (1946–1949), die militärische „Revolución Argentina“ (1966–1973) und die Regierung Isabel Peróns (1974–1976). In den folgenden fünf Kapiteln werden konkrete Foltersituationen anhand der Kategorien Topographie, Technik, Zeit, Handlungsspielraum und Gender detailliert analysiert. Jedes Kapitel beginnt mit einer theoretisch-konzeptionellen Diskussion der jeweiligen Kategorie und wirft die Fragen auf, die in den folgenden Abschnitten die vergleichende Analyse der Fälle leiten. In der Schlussbetrachtung greift der Autor die theoretische Diskussion wieder auf und zeigt anhand der Untersuchung der Gewaltsituationen und -figurationen die Möglichkeiten und Grenzen der Konzepte auf. Eine ausführliche Darstellung der im Buch behandelten Konzepte und Ausformungen der Gewalt würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, daher werden im Folgenden die Ergebnisse des vierten Kapitels „Nur enger Raum und keine Zeit“ vorgestellt, da es sich auf interdisziplinär wiederholt geführte Diskussionen zum Verhältnis von Gewalt und Raum bezieht.3 Anschließend werden die vom Autor identifizierten zentralen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den argentinischen und griechischen Folterzentren beschrieben.
Nalbadidacis beginnt die Analyse der Gewaltsituationen und -figurationen mit der Untersuchung ihrer räumlichen Strukturierung. Dabei bezieht sich der Autor auf die Gewalttheorie von Jan Philipp Reemtsma4, weil sie im Gegensatz zu dem von Wolfgang Sofsky, Jörg Baberowski und Felix Schnell entwickelten Konzept des Gewaltraums differenziertere Einsichten in die räumliche Ordnung von Gewalt ermögliche (S. 188). Im Anschluss an Reemtsmas Phänomenologie untersucht Nalbadidacis die Sichtbarkeit, Isolation, Zugangsbeschränkung und Multifunktionalität von Räumen, in denen Gewalt ausgeübt wurde. Seine Analyse zeigt, dass sich dis/lozierende Gewalt, die auf die Entfernung oder Immobilisierung eines Körpers abzielt, vor allem in Verhaftungen im öffentlichen Raum, in der Inhaftierung von Gefangenen und im Fall der ESMA in Zwangsarbeit manifestierte. Die raptive, gegen den Körper gerichtete Gewalt, die häufig sexuell motiviert war, fand sowohl in der ESMA als auch im Athener Polizeihauptquartier an abgelegenen Orten wie Toiletten oder außerhalb der zentralen Gebäude statt. Schließlich zeigt die Analyse, dass autotelische Gewalt, das heißt die Zerstörung der körperlichen Integrität, in Form von physischer Folter vor allem in den eigens dafür eingerichteten Verhörräumen stattfand. Ein zentraler Unterschied zwischen der Haftanstalt in Athen und der ESMA war der offizielle Status der ersteren. Im argentinischen Fall erforderte die Informalität eine ständige Umgestaltung der Räume, um die Taten zu verschleiern und potenzielle Zeug:innen zu verunsichern (S. 192).
Nalbadidacis konstatiert: „Für beide Militärdiktaturen lässt sich dieses Changieren zwischen aufgebauter Drohkulisse, tatsächlichen Repressionen und offiziellen Verleugnungen als konstitutiv beschreiben.“ (S. 414) Mit dem Zwischenspiel des Schweigens und der Andeutung von Gewalt zielten die Regime auf „Selbstdisziplinierung und Gefügigkeit, die zugleich mit einem Rückzug der Bevölkerung aus der Sphäre des Politischen“ einhergehen sollten (S. 414). Die ESMA und das Hauptquartier der Sicherheitspolizei in Athen bildeten „paradoxe Welten“, die zugleich von Abschottung und Exposition, von Leben, Aushalten, Töten und Sterben geprägt waren (S. 293). In der ESMA arbeiteten und lebten die politischen Häftlinge zusammen mit Offizieren und Offiziersanwärtern. Sie saßen tagelang eingesperrt, vermummt, erlitten physische und psychische Folter und wurden versehentlich oder gezielt getötet. Viele der verschleppten Frauen trugen ihre Schwangerschaft in dem Folterzentrum aus, brachten ihre Kinder zur Welt und wurden von ihnen getrennt. Die Spezialeinheit der argentinischen Marine agierte dabei als eine auf die Organisation von Repression spezialisierte Elitegruppe. In der Athener Zentrale wurden sowohl politische Gefangene als auch „gewöhnliche“ Straftäter:innen inhaftiert. Erstere lebten ähnlich wie in der ESMA unter unhygienischen Bedingungen in Einzelzellen, wurden in den Büros der zuständigen Beamt:innen verhört und kollektiv gefoltert. Allerdings durften die griechischen politischen Gefangenen mit ihren Familien kommunizieren und ihre Haftzeit war vergleichsweise kurz. Im Gegensatz zur 1976 gegründeten argentinischen Spezialeinheit 3.3.2 hatte die griechische Sicherheitspolizei eine lange Tradition, war dem Militär unterstellt und hatte ein generalistisches Profil.
Die von Nalbadidacis erarbeitete Analyse offenbart, dass die physische und psychische Folter in erster Linie der Erzeugung von Angst und Fügsamkeit diente und weniger der Zufügung von Schmerzen (S. 237). Hinsichtlich des Ausmaßes der Repression stellt der Autor fest, dass die argentinische Spezialeinheit über eine größere Autonomie verfügte (S. 411). Gleichzeitig wiesen die argentinischen Marineoffiziere und griechischen Polizisten eine ähnlich hohe Bereitschaft und Fähigkeit auf, traditionelle Foltermethoden mit technischen Innovationen zu kombinieren. Trotz der offensichtlichen Machtasymmetrie waren die Folterer nicht allmächtig. Die Tätergruppen wirkten sowohl regulierend als auch eskalierend, und es gab einen gewissen Spielraum, in dem Täter und Gefangene interagieren und kooperieren konnten. Obgleich gewisse Parallelen auszumachen sind, verweist der Autor auf signifikante Unterschiede zwischen den Gewaltfigurationen im Hauptquartier der Sicherheitspolizei und der ESMA. Diese manifestieren sich insbesondere in der Möglichkeit der griechischen Gefangenen, mit ihren Familien zu kommunizieren, sowie in der Trennung zwischen Arbeits- und Wohnraum für Polizist:innen (S. 347).
In seiner Schlussbetrachtung verweist Nalbadidacis auf die Produktivität des „innovativen Ansatzes“ der dichten Beschreibung im Vergleich, einer Herangehensweise, die „[w]ie kaum ein anderer Ansatz [...] einen tiefen Blick in den Abgrund dieser Laboratorien der Angst und Folter“ zu gewähren vermag (S. 422). Die Dissertation wurde 2021 mit dem Preis der Südosteuropa-Gesellschaft ausgezeichnet. Es ist das unbestreitbare Verdienst des Autors, eine umfangreiche Quellenrecherche und -auswertung vorgenommen zu haben – eine Aufgabe, die schon aufgrund der Sprachbarrieren nicht leicht zu bewältigen ist. Zugleich unterliegt die hier rezensierte Studie einer gewissen Dissonanz, die sich aus der gewählten Methode der dichten Beschreibung und dem Ziel, Gewalt als solche beschreiben und erklären zu wollen, ergibt. Gegenstand der dichten Beschreibung ist nach Clifford Geertz nicht das Ereignis selbst, sondern seine Enunziation, das heißt seine Äußerung und Erzählung. Dementsprechend bezieht sich das Attribut „dicht“ nicht nur auf die Generierung von umfassenden Informationen über ein Phänomen, sondern auch auf die Bestimmung des ihm zugeschriebenen Sinns. Die Untersuchung von Bedeutungsverschiebungen erfolgt durch relationale Kontextualisierung. So trägt die dichte Beschreibung zur Verallgemeinerung innerhalb der untersuchten Fälle bei. Ihr ultimatives Ziel ist es, große Begriffe klein zu schreiben.5
Dieser Prämisse wird der Autor teilweise gerecht, wenn er sich dafür entscheidet, die Analyse nicht auf physische Gewaltakte zu beschränken und die „Erfahrungshorizonte der beteiligten Akteure“ zu berücksichtigen (S. 15). Zugleich warnt der Autor: „Auch wenn die jeweiligen Aussagen durch historische Quellenkritik, einen Abgleich mit anderen Quellen und Erkenntnissen aus anderen Disziplinen und Kontexten einer starken Prüfung unterzogen wurden, so sind wohl alle beschriebenen Situationen für sich streitbar hinsichtlich ihres tatsächlichen Verlaufs. […] Ihnen Glauben zu schenken, ist insofern Ermessenssache.“ (S. 409) Der Autor konstatiert eine Korrelation zwischen der Authentizität der Zeug:innenaussagen und dem Grad ihrer Genauigkeit und ordnet somit die Narrative und Sinngebungen, welche die zentralen Untersuchungsgegenstände der dichten Beschreibung darstellen, einer eher positivistischen Auffassung von Geschichte unter, die auf die Rekonstruktion der Tatsachen, wie sie waren, abzielt. Diese methodologische Dissonanz begleitet die Neue Gewaltsoziologie von Anfang an und wurde wiederholt kritisiert.6 In diesem Zusammenhang ergeben sich weitere grundlegende Fragen der Gewaltforschung: Ist es angemessen, von einem Folteropfer zu erwarten, dass es die erlebte Gewalt genau wahrnehmen und wiedergeben kann? Was wäre eine „glaubwürdigere Quelle“ der Gewalt? Die Darstellungen der Zeug:innen oder der Täter:innen? Fotografien oder gar Videoaufzeichnungen? Inwiefern ist die Produktion „anschaulicher” Beschreibungen von Gewalt produktiv für das Verständnis, wenn diese lediglich eine Erregung auslösen, die beim Betrachtenden bleibt?7 Und wie hoch ist die Gefahr einer erneuten Viktimisierung? In diesem Sinne erweist sich die Dissonanz der Studie als produktiv, da sie indirekt auf wichtige Probleme und Implikationen der Gewaltforschung aufmerksam macht.
In seiner Monographie erarbeitet Nalbadidacis einen vergleichenden Überblick über Gewaltdynamiken und -figurationen in den Folterzentren der ESMA und des Athener Polizeihauptquartiers. Die detaillierten Darstellungen werden dabei mit einer systematischen Auseinandersetzung mit Gewalttheorien verknüpft. Das Buch bietet Studierenden und Wissenschaftler:innen, die im Bereich der Gewaltforschung tätig sind, somit eine problemorientierte und geschichtsbasierte Einführung in die Organisation des modernen Staatsterrorismus. Umgekehrt bietet es regional spezialisierten Leser:innen einen Überblick über zentrale Fragen der Gewaltforschung aus interdisziplinärer Perspektive sowie die Möglichkeit, das eigene Forschungsfeld vergleichend zu reflektieren. Die Publikation ist auch ein willkommener Beitrag zu einem selten geführten, aber produktiven transregionalen Dialog8, der mit Blick auf die Debatten um die Bedeutung und Geschichte des Globalen Südens neue Relevanz gewinnt.9
Anmerkungen:
1 James Dodd, Violence and Phenomenology, New York 2009, S. 15.
2 Norbert Elias, Was ist Soziologie?, Weinheim 2004, S. 11f.
3 Siehe: Teresa Koloma Beck, Aktuelle Debatten und deren Beiträge zur raumsensiblen Erweiterung der Gewaltsoziologie, in: Soziale Welt 67 (2016), S. 431–450.
4 Siehe: Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg 2008.
5 Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York 1973, S. 21.
6 Siehe: Jan Koehler, Soziologisches Sprechen und empirisches Erfassen – Explaining Violence, in: Jan Koehler / Sonja Heyer (Hrsg.), Anthropologie der Gewalt, Berlin 1998, S. 11; Agustina Carrizo de Reimann, Una historia densa de la anarquía postindependiente, Madrid 2019, S. 32–40.
7 Michael Riekenberg, Gewalt. Eine Ontologie. Frankfurt am Main 2019, S. 43.
8 Siehe: Wolfgang Höpken / Michael Riekenberg (Hrsg.), Politische und ethnische Gewalt in Südosteuropa und Lateinamerika, Köln 2001.
9 Nina Schneider, Between Promise and Scepticism: The Global South and Our Role as Engaged Intellectuals, in: Global South 11, no. 2 (2017), S. 18–38.