Der bewaffnete antisowjetische Widerstand in den baltischen Staaten der Nachkriegszeit, die „Waldbrüder“, ist in Westeuropa kaum bekannt. In Litauen kämpften zwischen 1944 und 1955 etwa 50.000 Partisanen, eine etwa gleich große Zahl an Sympathisanten unterstützte den Guerillakampf. Die sowjetische Propaganda war lange wirkungsmächtig. Sie hatte stets behauptet, die „Banditen“ seien Nazi-Kollaborateure oder westliche Agenten, die in erster Linie „friedliche Sowjetbürger“ ermordeten. Dies war Teil der sowjetischen Strategie, sämtliche nationale Bestrebungen der baltischen Nationen zu desavouieren. Spätestens seit der Annexion der Krim durch Russland 2014 hat sich das geändert und die antisowjetischen Partisanen erfuhren in der Wahrnehmung der litauischen Öffentlichkeit einen Wandel. Immer noch gibt es teilweise begründete Vorwürfe, die „Waldbrüder“ hätten sich zuvor kollektiv an Nazi-Verbrechen beteiligt. Der vorliegende Band, der aktuelle Forschungsbeiträge enthält, zeigt ein ganz anderes Bild: Demzufolge handelt es sich bei den „Waldbrüdern“ um einen „spontanen“ Widerstand, in dem der Anteil von NS-Tätern oder ehemaligen Mitgliedern deutscher Formationen sehr gering war.
Arūnas Streikus, der sich seit Jahrzehnten mit dem Thema der litauischen „Waldbrüder“ befasst, leitet den Band mit einer Übersicht zum Partisanenkrieg ein. Er periodisiert die Kämpfe in eine erste Phase von 1944 bis 1946, die er als Hochphase kategorisiert, in die Jahre 1946 bis 1949, in der sich die einzelnen Gruppen konsolidierten, sowie die letzte Phase nach den Deportationen von 1949 bis ins Jahr 1953. In dieser Zeit verlor der bewaffnete Widerstand seine Unterstützer im ländlichen Raum. Die meisten Gruppen wurden durch die sowjetischen Kräfte liquidiert – häufig durch Verrat. Abschließend gibt Streikus einen kurzen Forschungsüberblick für die Nachwendezeit. Neben wenigen Arbeiten westlicher Autoren, die zum Teil dem sowjetischen Narrativ folgen, nennt er verschiedene jüngere Arbeiten, meist Promotionen an der Universität Vilnius, die sich auch im Sammelband wiederfinden. Vollständigkeit war hier offensichtlich nicht das Ziel, da neben den Arbeiten aus der sowjetischen Periode auch viele litauische Arbeiten, darunter seine eigenen, fehlen.
Kęstutis Girnius vergleicht in seiner Studie die litauischen Partisanen mit anderen Widerstandsgruppen, etwa der IRA, den Taliban (beziehungsweise den ihnen vorausgegangenen afghanischen Mudschahedin in der anti-sowjetischen Phase) oder den sowjetischen Partisanen. Seine Kriterien sind unter anderem unterschiedliche Formen der Gewaltanwendung (Terrorakte, Guerillakrieg, offene militärische Angriffe) und die Gegner (Kolonialmacht, Besatzer, Staatsmacht usw.). So kommt er zu dem Ergebnis, dass sich die litauischen Gruppen im Gegensatz zu sowjetischen Partisanen, die von Moskau aus initiiert, organisiert und versorgt wurden, spontan gebildet hätten. Sie bestanden vor allem aus jungen Männern, die sich zunächst der Mobilisierung durch die deutschen und später durch die sowjetischen Besatzer entzogen. Dieses Reservoir fehlte etwa in Lettland, wo einige Jahrgänge seit 1943 in die Waffen-SS oder den Grenzschutz zwangsmobilisiert worden waren und sich 1945 bereits in Kriegsgefangenschaft befanden. Zudem macht der Autor deutlich, dass die litauischen Partisanen hauptsächlich gegen die neuen lokalen Verwaltungen und Parteimitglieder vorgingen und weniger Sicherheitskräfte angriffen. Ein handwerklicher Mangel der durchaus originellen Arbeit ist das häufige Fehlen der Nachweise speziell für die litauischen Partisanen.
Dainius Noreika untersucht die Herkunft und Motivation der meist jungen und männlichen Partisanen. Hierfür untersuchte er einen Pool von 1.000 Personen. Als Quellen dienten ihm vor allem Dokumente wie Verhörprotokolle oder Untersuchungsakten der sowjetischen Staatssicherheit – für das Forschungsgebiet eine typische Quellengattung. Ein Großteil der aktiven Kämpfer rekrutierte sich aus den genannten Mobilisierungsverweigerern. Von der sozialen Herkunft und Bildung her entspräche die Gruppe dem litauischen Durchschnitt, stellte also mehrheitlich Söhne von Bauern und wenige Akademiker. Auffallend ist die lokale Bindung: Meist operierten die Gruppen in ihnen bekannten Regionen, häufig mit Verbindungen zu ihren Familien, die in der Legalität lebten. Für Noreika war daher eine Hauptmotivation der litauischen „Waldbrüder“ die Verteidigung der Familie, des eigenen Hofs und der „lokalen Gemeinschaft“ (S. 57). Patriotismus war ebenfalls ein wichtiger Antrieb: Exemplarisch zeigt Noreika, dass einige Kämper aus Familien stammten, deren Angehörige sich bereits im Unabhängigkeitskrieg nach dem Ersten Weltkrieg für den litauischen Staat engagiert hatten. Eine Angabe, wie viele Kämpfer zuvor Formationen des litauischen Staates angehört hatten, etwa der Armee, der Polizei oder der Nationalgarde (Lietuvos šaulių sąjunga), bleibt Noreika allerdings schuldig. Jedoch kann er das sowjetisch-russische Narrativ widerlegen, die Partisanen seien durch die Nazis (oder durch westliche Geheimdienste) organisierte Gruppen gewesen und hätten sich kollektiv am Holocaust beteiligt.1 So sei etwa nur ein Viertel der Partisanen Mitglied deutscher Formationen gewesen, etwa bei Schutzmann- beziehungsweise Polizeibataillonen oder im Grenzschutz; weniger als ein Prozent (0,6 Prozent) sei direkt am Holocaust beteiligt gewesen (S. 60); diese Fälle beschreibt Noreika zudem ausführlich. Dafür habe ebenfalls ein Viertel bereits am antisowjetischen Aufstand im Juni 1941 teilgenommen. Der Autor kann auch Beschuldigungen gegen den bekannten Partisanenführer Jouzas Lukša-Daumantas (1921–1951) entkräften. Dieser avancierte zu einer Legende, nachdem er 1947 aus Litauen nach Schweden floh, dort ein Buch über seinen Widerstand verfasste, 1949 zurückkehrte und 1951 im Kampf fiel. Lukša-Daumantas soll angeblich an dem berüchtigten Massaker an Juden in Kaunas im Juni 1941 beteiligt gewesen sein. Noreika kann nachweisen, dass die geläufigen Vorwürfe auf Behauptungen eines ehemaligen sowjetischen Geheimdienstoffiziers beruhen, der im Übrigen Ähnliches über viele andere bekannte Partisanenführer behauptete – ohne Belege.
Sämtliche Partisanentätigkeit in den litauischen Wäldern war nur möglich durch ein Netzwerk von Unterstützern und Sympathisanten, über die jede Gruppe verfügte. Laut Enrika Kripienė gab es in Litauen neben den etwa 50.000 Partisanen eine ebenso große Zahl von Unterstützern, die in die Strukturen der Untergrundorganisationen eingeplant waren. Die Unterstützer versorgten die Widerstandskämpfer nicht nur mit Ausrüstung und Lebensmitteln, sondern hielten als Kuriere den Kontakt zwischen den Gruppen aufrecht. Frauen seien hier zu einem Drittel vertreten gewesen. Aufgrund der starken Regionalität waren es häufig Familien, Bekannte und Nachbarn, die diese Aufgaben wahrnahmen. Die Kollektivierung und vor allem die Massendeportationen von 1948 betrafen häufig die Unterstützten und schnitten die Partisanen von der Versorgung ab. Letztlich überlebten aber eher die Unterstützer Verfolgung und Gulag. Sie waren es, die nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 die Erinnerung an den Widerstand am Leben hielten.
Tatsächlich beeinflusste die sowjetische Propaganda die Erinnerung an den bewaffneten Widerstand in Litauen langfristig und nachhaltig. Erst dreißig Jahre nach der Unabhängigkeit, zu Beginn dieses Jahrhunderts, begann das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit zuzunehmen, wie Mingailė Jurkutė darlegt. Die Verbreitung des sowjetischen Narrativs begann erst Ende der 1940er-Jahre. Zunächst wurde ein allgemeines „Schweigen“ über den Widerstand befohlen, denn die „Waldbrüder“ konterkarierten den „Mythos“ des freiwilligen Beitritts Litauens zur Sowjetunion (S. 103). Erst in den 1960er-Jahren, wohl in Reaktion auf die Aufstände in Ungarn, wurde systematische Propaganda betrieben und eine spezielle Redaktion innerhalb der Sowjetlitauischen Akademie der Wissenschaften geschaffen, die in Kooperation mit dem KGB Falschinformationen produzieren, verbreiten und litauische Emigranten denunzieren sollte. Eine junge Generation litauischer Intellektueller nahm die Erzählung auf und reproduzierte diese in einflussreichen Romanen und Filmen. Das Narrativ der „Banditen“ war damit im Lande so wirkungsmächtig, dass es bis in die späten 1990er-Jahre nachwirkte. Allein in der Emigration hielt sich die Erinnerung an die sowjetischen Deportationen und den Widerstand am Leben. Dagegen habe der erinnerungspolitische Schwerpunkt der Sąjūdis-Bewegung, die die Unabhängigkeit zu Beginn der 1990er-Jahre vorantrieb, bei der litauischen Republik der Zwischenkriegszeit gelegen.
Aistė Petrauskienė untersucht die litauische Erinnerung seit der Unabhängigkeit bis in das Jahr 2018 hinsichtlich staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure. So wird deutlich, dass seit der Sąjūdis-Bewegung die Erinnerung an die Partisanen an Bedeutung gewann. Die unterschiedlichen Regierungen förderten die Erinnerungsarbeit mehr oder weniger, je nach ihrer politischen Ausrichtung. Mit der Einrichtung des Litauischen Zentrums für die Erforschung von Genozid und Widerstand (Lietuvos gyventojų genocido ir rezistencijos tyrimo centras) wurde die Erinnerung ab 1993 institutionalisiert.2 2009 wurde im Seimas, dem litauischen Parlament, die Partisanenbewegung als Teil des Kampfes für einen unabhängigen litauischen Staat anerkannt. Weiter zeigt Petrauskienė, dass zunächst Nachkommen ehemaliger Partisanen, die „erste Generation“, Gräber ihrer Angehörigen pflegten und gleichzeitig ehemalige Bunker und andere Hinterlassenschaften – amateurhaft – erforschten. Heute sei es vor allem die „dritte Generation“ der nach 1990 Geborenen, die mit Exkursionen oder „Erinnerungswanderungen“ historische Orte besucht oder Jugendlager organisiert. Abschließend gibt Gintas Vėlius einen Einblick in den archäologischen Aspekt der Erinnerungsarbeit. Er zeigt anhand verschiedener Beispiele, wie Forscher seit den 1990er-Jahren etwa nach den körperlichen Überresten von Partisanen suchten, um diese dann zu exhumieren und auf Friedhöfen beizusetzen.
Wenn man von den handwerklichen Mängeln wie dem häufig zu stark reduzierten Fußnotenapparat absieht, handelt es sich bei dem vorliegenden Band um einen bedeutenden Beitrag zu einem wichtigen Thema, das durchaus mehr Aufmerksamkeit verdient, zumal hier erstmals aktuelle Forschung in englischer Sprache und mit originellen Forschungsansätzen vorliegt.
Anmerkungen:
1 Dies diskutieren u.a. Alvydas Nikžentaitis und Joachim Tauber, Aufruhr um einen Partisanen. Eine litauische Erinnerungsdebatte, in: Zeitschrift Osteuropa: Der Fall. Gefangen in Russland, Erinnerungen in Litauen, 6 (2018), S. 83–91.
2 Vgl. http://genocid.lt/centras/en/ (27.11.2023). Im Jahr 2020 hat das Zentrum zudem ein Informationsportal zu knapp 13.000 antisowjetischen Partisanen veröffentlicht, das in Zukunft um weitere Personen, darunter auch Überlebende und Unterstützer, ergänzt werden soll: https://www.laisveskovos.lt/ (27.11.2023).