D. Staliūnas u.a. (Hrsg.): The Tsar, the Empire, and the Nation

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Titel
The Tsar, the Empire, and the Nation. Dilemmas of Nationalization in Russia's Western Borderlands, 1905–1915


Herausgeber
Staliunas, Darius; Aoshima, Yoko
Erschienen
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
$ 95.00 / € 85.00 / £ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georgiy Konovaltsev, Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Nationalitätenpolitik des russischen Zarenreiches ist über die letzten Jahrzehnte hinweg ein populäres Forschungsthema gewesen. Die westlichen Randgebiete des Imperiums stellen hier keine Ausnahme dar. Dennoch konstatieren die Herausgeber des vorliegenden Sammelbands, Darius Staliūnas und Yoko Aoshima, dass das Verhältnis zwischen zarischer Administration und (russischem) Nationalismus sowie die Frage, welcher Platz den nicht-russischen Ethnien im Reich zugewiesen werden soll, weiterer Forschung bedürfe. Zudem nahmen bisherige Untersuchungen entweder das ganze Reich oder aber nur kleinere Regionen in den Fokus.1 Die Herausgeber dieses Bandes entschieden sich angesichts dessen für einen Mittelweg: Die Beiträge beschränken sich auf die zwölf westlichen Gouvernements sowie das Weichselgebiet, weil in diesem Gebiet nationale Strömungen am stärksten gewesen seien. Zeitlich konzentriert sich der Band auf die Jahre nach der Revolution von 1905, als das Zarenreich seinen Bürgerinnen und Bürgern neue Freiheiten gewähren musste.

Diese Freiheiten schufen eine fundamental neue Situation: Nationalbewegungen, darunter auch die russische, blühten auf, während die staatlichen Repressionsinstrumente gegen sie nun deutlich stumpfer wurden. Zugleich konnten sich die imperialen Behörden nicht zwischen dem Festhalten an vormodernen, mehr auf Gesellschaftsstand und Loyalität achtenden Grundsätzen und dem russischen Nationalismus entscheiden. Manche zarischen Beamte sahen im Letzteren, nicht anders als in den anderen Nationalismen, eine Gefahr für die Stabilität des Reiches. Aber zugleich hatten sie in der neuen, postrevolutionären Situation noch keine Herangehensweise entwickelt, um mit den Nationalbewegungen umzugehen und die westlichen Gebiete ideologisch an das Imperium anzubinden. Was fehlte, war eine konsequente Strategie, eine eigene Vision: „The result was a dilemma that was never resolved. If tsarist Russia in its last decade represented a nationalizing empire, it was only inconsistently and reluctantly so“ (S. 13). Die einzelnen Beiträge, die an diese These der Herausgeber anknüpfen sollen, sind vier Themenbereichen zugeordnet, die mit „Transformations of Imperial Nationality Policy“, „Confessions in the Crossfire“, „Transformations in Education“ und „The Problem of the Russian Right“ überschrieben sind.

Die ersten drei Beiträge illustrieren, mit unterschiedlichen geographischen Schwerpunkten (Kyjiw, Litauen, Warschau), die neue Realität nach der Revolution von 1905. Besonders anschaulich stellt Malte Rolf am Beispiel des Generalgouverneurs von Polen, Georgii Skalon, die neuen Dilemmata der zarischen Behörden dar. Nach den heftigen revolutionären Turbulenzen in Polen war Skalon zur Beruhigung der Region zu einer Zusammenarbeit mit loyal gesinnten Polen bereit. Das führte zum Konflikt mit den Warschauer Russen, die sich nicht mit dem Verlust ihrer Sonderstellung abfinden wollten, Angst um ihr kulturelles Überleben hatten und eine stärkere russische Präsenz vor Ort einforderten. Skalon wiederum dachte als baltendeutscher Adliger, also als Vertreter der multiethnischen Oberschicht des Zarenreiches, noch in den hergebrachten imperialen Kategorien, die Herrschaftssicherung in Kooperation mit einheimischen Eliten vorsahen und Loyalität zum Zaren höher bewerteten als ethnische Zugehörigkeit. Keine der Seiten konnte sich durchsetzen oder einen weitgehenden Plan für das Weichselland entwickeln, sodass sich Skalon und seine Verwaltung darauf beschränkten, aufkommende Probleme situativ zu lösen.

Im zweiten Teil des Bandes behandeln zwei Beiträge die Veränderungen in der religiösen Sphäre durch das Toleranzedikt von 1905: Die neu erlaubte freie Wahl der eigenen Religion führte dazu, dass zur Orthodoxie zwangskonvertierte Litauer (denen der Beitrag von Vilma Žaltauskaitė gewidmet ist) beziehungsweise Ruthenen der Chełm-Region (wie im Beitrag von Chiho Fukushima) zum Katholizismus zurückkehrten. Das löste in der örtlichen Verwaltung, wie auch im orthodoxen Klerus, Ängste vor einer Polonisierung dieser doch eigentlich als „russisch“ betrachteten Bevölkerungsteile aus. Die russisch-orthodoxe Kirche genoss weiterhin eine privilegierte Rolle; allerdings musste sie sich nun mit einem ungewohnten Konkurrenzverhältnis zur katholischen Kirche arrangieren und sich aktiv um Gläubige bemühen. Eine Anbindung der lokalen Bevölkerung ans Zentrum durch die Konfession rückte damit in die Ferne.

Der dritte Teil beinhaltet vier Aufsätze, die vornehmlich die (Schul-)Bildung behandeln. Besonders gewinnbringend ist die Lektüre des Beitrags von Yoko Aoshima über staatliche Maßnahmen von 1904-1905, die unter anderem mehr Schulunterricht in der einheimischen Sprache ermöglichten. Sie zeigt, dass die zarische Verwaltung eigentlich weiterhin von Region zu Region und mit unterschiedlichen Konzessionen regieren wollte. Doch dieses klassische imperiale Balancieren funktionierte nicht mehr: Die nicht-russischen Ethnien forderten auf Basis der neuen Gesetze ihre Rechte ein, während russische Nationalisten befürchteten, die russische Sache werde dadurch in den westlichen Gouvernements scheitern. Nur mit Mühe konnte das Zarenreich zwischen diesen Positionen lavieren und für Stabilität sorgen.

Jolita Mulevičiūtė wiederum analysiert in ihrem anregenden, postkoloniale und kulturwissenschaftliche Methoden und Theorien heranziehenden Text die Versuche, über organisierte Reisen und frühe Formen des Tourismus die nordwestlichen Provinzen an das imperiale Zentrum zu binden. Schüler von dort sollten durch Exkursionen nach Kyjiw, Pskow oder gar Turkestan das Zarenreich kennenlernen und zu imperialen Subjekten erzogen werden. Reisen in das nahegelegene Polen oder die Ostseeprovinzen fanden dagegen nicht statt: Zu groß war die Angst, die Kinder könnten unter polnischen oder deutschen Einfluss geraten. Zugleich gab es kaum Tourismus aus dem Zentrum nach Wilna, welcher dazu hätte führen können, dass Russen diese als „ihre“ Stadt wahrgenommen hätten. Im Gegenteil: Diejenigen, die Wilna besuchten, waren über das fehlende „Russische“ dieser doch als „urrussisch“ betrachteten Stadt enttäuscht. Dieser Verdruss führte dazu, dass der Nordwesten in der eigenen mental map marginalisiert und verdrängt wurde. Auch in diesem Bereich war die zarische Politik also von Unsicherheiten und fehlender Stringenz geprägt.

Der letzte Teil richtet den Blick auf die russischen Nationalisten in den westlichen Gouvernements. Herauszuheben ist der Beitrag von Vytautas Petronis zu den russischen rechten Organisationen von Wilna zwischen 1905 und 1915, die ebenfalls von den neuen Freiheiten profitierten und eigene, sich oft schnell ersetzende Kreise bildeten. Ihr Verhältnis zu der zarischen Administration war jedoch auch hier, wie schon in Warschau, zwiespältig. Während der Revolution betrachtete man sich gegenseitig als Verbündete. Doch für die Nationalisten gingen die Behörden nicht weit genug in der Verteidigung russischer Interessen. Demgegenüber waren sie aus Sicht der Beamten nicht selten ein Ärgernis, gefährdeten sie doch die örtliche Ordnung. Trotz einiger vielleicht für sie vorhandenen Sympathien blieben sie dem autoritären Staat als unabhängige, aus der Gesellschaft heraus entstehende Organisationen suspekt. Wenn die lokalen Behörden überhaupt mit dieser modernen Bewegung kooperierten, sahen sie in ihr nur ein Werkzeug zum Erhalt der bestehenden Ordnung. Deren grundlegender Umbau war jedoch nicht vorgesehen.

Der Sammelband setzt Vertrautheit mit den Ereignissen und Ergebnissen der Revolution von 1905 voraus, wodurch das Buch vor allem zur Vertiefung des Themenfeldes geeignet ist. Außerdem wäre es wünschenswert gewesen, wenn in der Einleitung, die mit dreizehn Seiten recht kurz ausfällt – vor allem, wenn man bedenkt, dass einen Großteil von ihr die Vorstellung der einzelnen Artikel ausmacht –, stärker auf zentrale Begrifflichkeiten eingegangen worden wäre. Obwohl die Begriffe „Nation“ und „Nationalismus“ im Titel des Sammelbandes stehen, werden sie an keiner Stelle erörtert. Zudem fehlt es an theoretischen Ansätzen, die einen gemeinsamen Rahmen für die Beiträge bilden.

Insgesamt untermauern die Aufsätze jedoch die Grundthese des Sammelbands überzeugend und auf verständliche Art und Weise. Durch ihre unterschiedlichen thematischen und räumlichen Schwerpunkte vermitteln sie den Gesamteindruck eines Imperiums, welches nicht wusste, was es in seinen westlichen Territorien langfristig erreichen wollte und daher in erster Linie bemüht war, das Schiff über Wasser zu halten. Darüber hinaus erweist es sich als gewinnbringend, den Blick auf eine mittlere Untersuchungsebene zwischen dem Dorf und dem gesamten Imperium zu richten sowie zeitlich auf die Schlüsseljahre zwischen der ersten Revolution und dem Beginn des Ersten Weltkriegs zu fokussieren. Folglich ist den Beteiligten ein lesenswerter Beitrag zur Erforschung des Zarenreiches gelungen.

Anmerkung:
1 Siehe u. a. Theodore R. Weeks, Nation and State in Late Imperial Russia. Nationalism and Russification on the Western Frontier, 1863–1914, DeKalb, Ill. 1996; den im Band vertretenen Malte Rolf, Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864–1915), Berlin 2015, rezensiert für H-Soz-Kult von Frank Golczewski, 26.11.2015, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-22325 (02.02.2024); oder den im Band oft zitierten Alexei Miller, beispielsweise ders., The Romanov Empire and the Russian Nation, in: Stefan Berger / Alexei Miller (Hrsg.), Nationalizing Empires, Budapest 2015, S. 309–368, rezensiert für H-Soz-Kult von Frank Rochow, 19.07.2017, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-23513 (02.02.2024).