M. Bednarczuk u.a. (Hrsg.): Das historische Litauen als Perspektive für die Slavistik

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Titel
Das historische Litauen als Perspektive für die Slavistik. Verflochtene Narrative und Identitäten


Herausgeber
Bednarczuk, Monika; Rutz, Marion
Reihe
Interdisziplinäre Studien zum östlichen Europa (13)
Erschienen
Wiesbaden 2022: Harrassowitz
Anzahl Seiten
VI, 320 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Agnieszka Zagańczyk-Neufeld, Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Ruhr-Universität Bochum

„Litwo! Ojczyzno moja!“ [Litauen! Mein Vaterland!] – Der Prolog des Epos „Pan Tadeusz“ von Adam Mickiewicz (1798–1855), der in Polen seit der Romantik als „Nationalbarde“ gilt, wurde von ganzen Kindergenerationen in Polen gepaukt. Warum gerade Litauen als „polnisches Vaterland“ gelten soll, bleibt Kindern zwar schleierhaft, aber sie wissen, dass „das Vaterland Litauen“ nach den Teilungen Polen-Litauens im 18. Jahrhundert verloren ging. Die 1569 zwischen dem Großfürstentum Litauen und dem Königreich Polen geschlossene Realunion von Lublin wird in Polen neulich auch über die Klassenzimmer hinaus verstärkt als ein Prototyp für die Europäische Union lanciert – als ein demokratisches Staatsgebilde freier, gleichberechtigter Völker.

Es kann kaum überraschen, dass dieses Metanarrativ nicht frei von Ambivalenzen ist. Die von postkolonialen Theorien inspirierte Debatte darüber zieht seit einigen Jahren immer weitere Kreise und wird auch in dem von Monika Bednarczuk und Marion Rutz herausgegebenen Sammelband um weitere Aspekte bereichert. Auch für ihren Sammelband gab das 450. Jubiläum der Union von Lublin den Anstoß. In der Einleitung schlagen die Slavistinnen und Literaturwissenschaftlerinnen vor, die „polnisch-litauisch-ostslavische Geschichte“ als „historisches Litauen“ zu betrachten (S. 3), um der polenzentrierten Perspektive zu entgehen. Um es vorwegzunehmen: Das in dem Band konsequent umgesetzte Konzept des „historischen Litauens“ kann nicht nur der Slavistik, sondern auch der Osteuropäischen Geschichte als ein Beispiel für die seit dem Ausbruch des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine immer lauter postulierte Dekolonisierung beider Fächer von der russlandzentrierten Optik dienen.1

In dem Band geht es nicht nur um eine Dekonstruktion der Übermacht der auf Russland fokussierten Osteuropa-Diskurse, sondern vor allem um die unterhalb dieses Layers existierenden Abhängigkeitsverhältnisse. „Lublin 1569“ sei, so die Autorinnen, „ein gemeinsamer Erinnerungsort“ (S. 2) der polnischen, litauischen, belarusischen2, ukrainischen, jüdischen, und auch der russischen Geschichte. Bednarczuk und Rutz betonen dabei die Notwendigkeit, die polnische „kresy“- oder „pogranicze“[Grenzland]-Perspektive kritisch zu hinterfragen und nicht unreflektiert von „polnischen Teilungen“ zu sprechen (S. 3, 5). Die Dominanz der „polnischen Leitkultur“ in der Forschung ergebe sich laut Autorinnen nicht zuletzt aus dem Umstand, dass Litauen als ein baltisches Land sich traditionell nicht im Zuständigkeitsbereich der Slavistik befinde. Eine weitere von Bednarczuk und Rutz konstatierte Forschungslücke in der Slavistik kann auch für die Osteuropäische Geschichte diagnostiziert werden: eine unzureichende Erforschung der Frühen Neuzeit. Diese lässt sich besonders auf die ausgeprägte Mehrsprachigkeit osteuropäischer Textproduktion zurückführen. Neben Litauisch, Polnisch und Russisch seien auch Jiddisch, Latein, Ruthenisch und Kirchenslavisch gängig gewesen (S. 4). Nicht nur an dieser Stelle des Bandes wird die Relevanz breit aufgestellter slavistischer Forschungen und Studiengänge deutlich, denn von dieser Expertise profitieren auch weitere Disziplinen.

Das „historische Litauen“ wird in weiteren Beiträgen in seiner nahezu tausendjährigen Geschichte betrachtet. Den Anfang macht der Historiker Oleg Łatyszonek mit Belarus als einem Land „ohne mittelalterliche Geschichte“, da diese aus dem kollektiven Gedächtnis entfernt und durch eine „imaginäre Geschichte des Großfürstentums Litauen“ ersetzt worden sei (S. 17). Am Beispiel mittelalterlicher und neuzeitlicher Chroniken zeigt Łatyszonek den Einfluss verschiedener Nationalhistoriographien auf die diskontinuierliche Erinnerung an das Fürstentum Polack (10.–14. Jh.) und die daraus resultierende Suche nach einem symbolischen Ursprung der belarusischen Geschichte. Stefan Rohdewald plädiert im darauffolgenden, ebenfalls geschichtswissenschaftlichen Beitrag dafür, die „polnisch-litauisch/belarusische und ukrainische“ Geschichte vor 1800 sowohl in ihrem lokalen als auch im überregionalen Kontext zu verorten, zu welchem auch die Verflechtungen mit der nördlichen Schwarzmeerregion, dem Osmanischen Reich und Persien gehören (S. 43). Nicht nur Juden, sondern auch Armenier und türkische Völker gehörten zu der multireligiösen, multiethnischen und mehrsprachigen Gesellschaft der Region.

Marion Rutz wählt einen mikrohistorischen Zugang und analysiert die Polemik zwischen Stanisław Orzechowski (1513–1566) und Augustinus Rotundus (1520–1582) im Kontext zeitgenössischer Kontroversen um die Lubliner Union. Sowohl die Orientalisierungsversuche im Sinne Edward Saids des Großfürstentums Litauen seitens der Polen als auch die Motive der Sprachwahl bei den beiden Humanisten werden dadurch sichtbar. Ihre Polemik wurde auf Polnisch verfasst, was Rutz damit begründet, dass sich die Schriften speziell an das polnische Publikum gerichtet hätten (S. 76). Nicht eigene Zugehörigkeitsgefühle, sondern die Zielleserschaft seien das entscheidende Kriterium bei der Sprachwahl gewesen.

Der Baltist Stephan Kessler widmet sich den polnischen und litauischen Idyllen der Spätaufklärung, die „keine Beschreibung von etwas, sondern ein Code für etwas“ seien (S. 115). Zwei Aspekte kommen dabei zum Vorschein. Erstens belege seine Forschung keine sprachliche polnisch-litauische Hybridisierung (S. 137), sondern markiere die Sprachgemeinschaften eher entlang der sozialen Schichtgrenzen. Daraus folgend habe sowohl der polnische als auch der litauische Adel in den Idyllen ein Bild von Freiheit und Ruhe vermittelt, während die unteren Schichten mit wachsenden sozialen und ökonomischen Problemen zu kämpfen hatten (S. 124).

Der Beitrag der Vilnaer Literaturwissenschaftlerin Brigita Speičytė über die Satire in der ebenfalls Vilnaer Wochenzeitschrift „Wiadomości Brukowe“ (1816–1822) verknüpft auf überzeugende Weise die zeitgenössischen Debatten über die Andersartigkeit der Litauer in Abgrenzung zu den Polen mit litauischen Modernisierungsdebatten. Die zentrale Frage, die am Beispiel der Zeitschrift deutlich wird, sei gewesen, inwieweit die litauische Gesellschaft in der Lage sei, sich mit ihren eigenen kulturellen Ressourcen zu modernisieren, und inwieweit sie auf externe, kosmopolitische „civility“ angewiesen sei (S. 165).

Danuta Zawadzka und Monika Bednarczuk beschäftigen sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive in ihren jeweiligen Beiträgen mit dem Mythos der „friedlichen“, „freiwilligen“ (S. 208) und „natürlichen“ (S. 194) Kolonisierung Litauens durch Polen, die in den Schriften von Joachim Lelewel (1786–1861) (Zawadzka) sowie weiteren Vilnaer Intellektuellen dieser Zeit wie z. B. Teodor Narbutt, Józef Ignacy Kraszewski oder Adam Jerzy Czartoryski (Bednarczuk) prominent lanciert wird. Auch die historischen Regionen Wolhynien und Podolien konnten laut Lelewel „dank den Polen aufblühen“ (S. 228). Die polnische Kolonisierung sei als eine Eheschließung allegorisiert und der russischen entgegengesetzt worden (S. 208). Allerdings, so Zawadzka, habe Lelewel in seiner Rezension zu Nikolaj Karamsins „Geschichte des russischen Staates“ (1818) „dem russischen Hofhistoriker“ vorgeworfen, „was er selbst auf dem Gebiet der polnisch-litauischen Beziehungen nicht ganz einlöste: die Nichtberücksichtigung der unabhängigen Existenz Litauens“ (S. 186). Die Analyse beider Autorinnen wird ergänzt um den Beitrag von Marcin Lul und den Blick auf Kraszewskis Sicht auf das vorchristliche Litauen im 14. Jahrhundert.

Wenn man die Situation der litauischsprachigen Literatur in Russland vor 1825 analysiere, so gewinne man den Eindruck, dass das Haupthindernis für ihre dynamische Entwicklung die Zurückhaltung der damaligen polnischen Kulturelite in Vilnius gewesen sei, stellt Paweł Bukowiec in seinem Beitrag über die litauische Literaturgeschichte fest. Die Litauer seien in das 20. Jahrhundert ohne eigene Nationalbibliothek, ohne Universität, ohne Schriftstellerverband, dafür aber mit einem gut entwickelten Verlagsmarkt eingetreten (S. 262).

Abschließend präsentieren Gun-Britt Kohler und Kristina Kromm das „Mnemotop Vil'nja in der belarusischen Literatur“. Die traditionelle belarusische Schreibweise der Stadt Vilnius habe eine tiefgreifende Bedeutung – die Stadt gelte in Opposition zu Minsk „als Wiege der belarusischen nationalen Wiedergeburt“ (S. 275), als „geistiges Mekka der zeitgenössischen belarusischen Literatur“ (S. 300). Die symbolische Anbindung der belarusischen Geschichte an das Großfürstentum Litauen sei im Kontext der Suche nach Ursprüngen der Staatlichkeit vor der sowjetischen Zeit zu verstehen.

Die romantisch-national und die sowjetisch geprägten Geschichtsschreibungen sind ein schwerwiegendes Erbe im „historischen Litauen“. Die sich nach mehreren politischen Umbrüchen immer wieder neu formierenden Staaten der Region brauchten stets eine legitimierende Symbolik, die oft in erfundenen Traditionen gesucht wurde. Dieser Prozess dauert an. Der Sammelband liefert dafür wertvolle Beispiele. Wer die „Traditionensuche“ nicht der Tagespolitik überlassen will und nach Inspirationen für neue Themen im nach wie vor selten erforschten „historischen Litauen“ sucht, dem ist die Lektüre des Bandes sehr zu empfehlen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Robert Kindler / Tobias Rupprecht / Sören Urbansky, Osteuropas Geschichte dekolonisieren, aber wie? in: Karenina. Petersburger Dialog Online, 15.8.2022, URL: <https://www.karenina.de/wissenschaft/osteuropas-geschichte-dekolonisieren-aber-wie/> (30.09.2022).
2 Auch wenn die Debatte über die Bezeichnungen von Belarus erst in ihren Anfängen steht (siehe: URL: <https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/„Belarussisch“-oder-„belarusisch“>), ist aus Sicht der Rezensentin, ähnlich wie aus Sicht der Autorinnen und Autoren des Sammelbandes sowie der Belarusisch-Deutschen Geschichtskommission (URL: <https://dgo-online.org/neuigkeiten/aktuelles/belarusisch-deutsche-geschichtskommission/>) empfehlenswert, von „Belarus“ und „belarusisch“ zu sprechen.