J. Ehms: Revolutionärer Syndikalismus in der Praxis

Cover
Titel
Revolutionärer Syndikalismus in der Praxis. Die Betriebsratsarbeit der Freien Arbeiter-Union Deutschlands von 1918 bis 1933


Autor(en)
Ehms, Jule
Erschienen
Anzahl Seiten
371 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel van der Linden, International Institute of Social History (IISH), Amsterdam

Die (relative) Blütezeit deutscher anarchistischer und rätekommunistischer Arbeiterorganisationen wie der „Freien Arbeiter-Union Deutschlands“ (FAUD), oder der „Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands“ (AAUD), fiel in die frühen Jahre der Weimarer Republik. Bedeutende Studien zu diesen und verwandten Organisationen wurden seit den späten 1960er-Jahren veröffentlicht, angefangen bei Pionieren wie Hans Manfred Bock, Erhard Lucas und Ulrich Linse, später gefolgt von produktiven Historikern wie Hartmut Rübner, Dieter Nelles und Helge Döhring. Damit wurde „die Organisationsgeschichte der FAUD weitestgehend erforscht“ (S. 44), wie Jule Ehms in ihrer hervorragenden Dissertation (Ruhr-Universität Bochum, 2021) feststellt.

Dennoch ist es der Autorin gelungen, ein interessantes und innovatives Buch über die FAUD zu schreiben. Ihre Studie enthält zwei Hauptkomponenten. Einerseits fasst sie die umfangreiche Literatur zu ihrem Thema zusammen und fügt darüber hinaus regelmäßig eigene Analysen hinzu. Dabei bezieht sie sich häufig und kenntnisreich auf anarchosyndikalistische Originalpublikationen aus der Zwischenkriegszeit. Andererseits geht sie ausführlich auf einen bisher eher stiefmütterlich behandelten Aspekt ein, nämlich die alltägliche Betriebsarbeit der FAUD.

Was den ersten Aspekt betrifft, verweist Ehms auf die Vorläufer der FAUD zu Beginn des Jahrhunderts, als sich Anarchismus und Syndikalismus in Deutschland noch parallel entwickelten und eigene Verbände schufen, die jedoch mehrfach miteinander verbunden waren. Die FAUD war das Ergebnis eines Zusammenschlusses beider Strömungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die Organisation wuchs zunächst schnell, von etwa 6.000 Mitgliedern vor 1914 auf 110.000 Mitglieder im Jahr 1919. Erfolgreich war die FAUD in den ersten Jahren insbesondere im Ruhrgebiet, aber auch in Berlin, Hamburg, im Rheinland und in Mitteldeutschland. Relativ war sie am stärksten in der Bau- und Metallindustrie. Bereits vier Jahre später (1923) begann die Organisation jedoch auf nationaler Ebene zu „erodieren“ und es setzte ein drastischer Mitgliederverlust ein. „Viele Ortsgruppen wurden 1924 zerbrochen, 1925 umfasste die FAUD nur noch 25.000 Arbeiter:innen.“ (S. 73) Bis zu Hitlers Machtübernahme schrumpfte sie auf etwa 4.300 Anhänger:innen, von denen die überwiegende Mehrheit arbeitslos war. Arbeiter:innen anderer Nationalitäten wurden nicht bewusst organisiert. Ehms zeigt, dass Frauen in der FAUD stets eine sehr untergeordnete und quantitativ unbedeutende Rolle spielten. Es gab zwar seit 1920 einen separaten Syndikalistischen Frauenbund, dieser verwendete jedoch ein archaisches Frauenbild und schrieb den Frauen vor allem die Rolle von Hausfrau und Mutter zu.

Sehr wichtig ist, was Ehms zum Zusammenhalt der Basis zu sagen hat. Die FAUD habe eine doppelte Funktion als unmittelbare Interessenvertretung und als Wegbereiterin der Revolution gehabt. Diese grundsätzliche Ambivalenz hätte zur Folge gehabt, dass es fast nie gelang große Gruppen von Arbeiter:innen dauerhaft an sich zu binden. Viele Mitglieder seien aus Unzufriedenheit mit den etablierten Gewerkschaften beigetreten und nicht aus politischer Überzeugung. Versuche, solche Mitglieder an die syndikalistische Ideologie zu binden, seien mühsam und nur teilweise erfolgreich gewesen. Darüber hinaus war das gewerkschaftliche Handeln der Organisation „wiederholt“ von Dilettantismus geprägt und der politischen Linie fehlte Eindeutigkeit. Der basisdemokratische, föderale und nicht zentralisierte Charakter der Organisation ermöglichte es den Anhänger:innen untereinander widersprüchliche Ansichten zu äußern, zum Beispiel über gewaltsame Kämpfe. Die Organisationsstrukturen vor Ort konnten sehr verschieden sein und die Vernachlässigung des Erfahrungsaustauschs war „typisch für die FAUD-Struktur“ (S. 107). Eine zentrale Streikkasse existierte in der FAUD nicht. Andererseits wurde großen Wert auf propagandistische Aktivitäten gelegt, über 80 Zeitungen herausgegeben und weitreichende Agitationstouren organisiert.

Ehms' wohlwollende, aber auch kritische Herangehensweise spiegelt sich gut in dem pièce de résistance dieser Studie wider: der originellen Analyse der FAUD als Interessenvertretung im Arbeitskampf und ihrer Haltung zum Betriebsrats-, Tarif- und Schlichtungswesen. In Ermangelung einer klaren politischen Linie bei der FAUD kann Ehms nur maximal eine „prototypische syndikalistische Streikpraxis“ (S. 171) erahnen. Sie begnügt sich daher mit einer Rekonstruktion von vier unterschiedlichen Arbeitskonflikten: Hamborn 1918/19, Berlin 1925, Krefeld 1927 und Düsseldorf 1932. Die geschilderten Fälle zeigen, dass die Syndikalisten keineswegs, wie oft geglaubt wird, Handlungsspielräume ignorierten. Die FAUD-Verbände folgten vorwiegend einem gemäßigten Kurs, konzentrierten sich bewusst auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Arbeiter:innen und nicht auf das Bewirken eines prärevolutionären oder sogar revolutionären Zustandes. „Sie forderten mitunter Tarifverträge, kalkulierten den Verlauf und die Chancen eines Streiks und sahen von Arbeitskämpfen unter Umstände ab“ (S. 225). Die gestellten Forderungen wichen daher in der Substanz nicht grundsätzlich von denen der etablierten Gewerkschaften ab, wenngleich Forderungen eher radikalisiert wurden und man, wo möglich, versuchte, Arbeitskämpfe räumlich und quantitativ auszuweiten.

Auch die Haltung der FAUD gegenüber dem Staat war nicht sehr eindeutig. Obwohl ein „unerschütterlicher Anti-Etatismus“ (S. 241) die Organisation prägte, schloss sie die Nutzung der Arbeitsgerichte nicht aus. In der Frage, ob das 1920 verabschiedete Betriebsratsgesetz akzeptiert werden sollte oder nicht, blieb die Bewegung ein Jahrzehnt lang tief gespalten. Erst im Jahr 1930 gelang es den Befürworter:innen, eine Mehrheit zu gewinnen. Aber auch hier blieb Uneindeutigkeit Trumpf, denn es gab „für die tatsächliche Arbeit in den Betriebsräten keine Richtlinien“ (S. 255). Dass die Syndikalisten:innen bei den Betriebswahlen durchweg extrem schlecht abschnitten, ist deshalb wohl nicht erstaunlich. Ein letzter Zankapfel war das „Tarif(un)wesen“ (S. 272), das zwar als „Fessel“ der Gewerkschaftsbewegung galt, weil auf einen Kollektivvertrag notwendigerweise eine Friedenspflicht folgte, dessen Ablehnung aber in der Praxis zu unangenehmen Problemen führte, da die etablierten Gewerkschaften versuchten, FAUD-Anhänger:innen von bestehenden Tarifverträgen auszuschließen. So konnte es passieren, dass ab 1932 Kollektivverträge nicht mehr abgelehnt wurden.

In ihrem Bemühen, unabhängige Arbeiterkämpfe zu fördern, stand die FAUD oft fast völlig allein; eine „geplante und koordinierte Bündnispolitik“ (S. 228) betrieb sie nicht. Vielleicht durch diese relative Isolation im eigenen Land angeregt, richtete die Organisation ihre Aufmerksamkeit teilweise auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Daraus entwickelte sich die 1922 in Berlin gegründete Internationale Arbeiter-Assoziation, der unter anderem die spanischen, italienischen, französischen und argentinischen Syndikalisten angehörten. Auf die alltägliche Praxis der FAUD hatte dieses Bündnis jedoch kaum Einfluss.

Zwei kleine Wermutstropfen enthält die Arbeit: die „niederländischen Orte Middleburg und Flushing“ heißen nur im Englischen so; zuhause werden sie Middelburg und Vlissingen genannt. Und auch das Fehlen eines Registers ist sehr bedauerlich. Insgesamt zeigt Ehms überzeugend, dass die FAUD zwar keineswegs „ziellos, sektiererisch oder wirklichkeitsfremd“ war (S. 326), es ihr aber trotzdem nicht gelang, politischen Pragmatismus und linken Radikalismus überzeugend zu verbinden. Ehms steht der Organisation sehr kritisch gegenüber, findet aber in ihr so viel Inspiration, dass sie dafür plädiert, „die Geschichte der FAUD als eine politische Antwort auf einen angeblich ‚organisierten‘ Kapitalismus zu diskutieren, der Impulse für aktuelle Bewegungen bereitstellt.“ (S. 326)

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