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Titel
Primat der Praxis. Bernhard Harms und das Institut für Weltwirtschaft 1913–1933


Autor(en)
Eiling, Lisa
Erschienen
Tübingen 2023: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
369 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Laetitia Lenel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Bis heute versteht sich das Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel als „das Forschungsinstitut für Globalisierungsfragen in Deutschland“, wobei dieses Selbstverständnis wesentlich auf der Beratung von Entscheidungsträger:innen aus Politik und Wirtschaft beruht.1 Wie diese Ausrichtung zustande kam, zeigt die Historikerin Lisa Eiling in einer erhellenden Studie auf.

In der auf ihrer Gießener Dissertation beruhenden Arbeit „Primat der Praxis. Bernhard Harms und das Institut für Weltwirtschaft 1913-1933“ untersucht sie Gründung und Aufbau des Instituts sowie wissenschaftspolitische, unternehmerische und rhetorische Strategien des Gründungsvaters Bernhard Harms. Wie, so fragt Eiling, konnte „sich das Institut für Weltwirtschaft vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis in die frühen 1930er Jahre als neuartige Denkfabrik etablieren […], obwohl Bernhard Harms nicht gerade zu den Vordenkern seines Faches zählte. Wie konnte Bernhard Harms zu einem gefragten Wirtschaftsexperten werden, dem kaum ein Fachkollege fundierte ökonomische Expertise zugestand?“ (S. 2). Im Mittelpunkt von Eilings Studie steht somit der wechselseitige und einander begünstigende Zusammenhang zwischen der „Selbstkonstruktion des Wissenschaftsunternehmers Bernhard Harms und [der] wissenschafts- und wirtschaftspolitische[n] Bedeutung des Instituts für Weltwirtschaft“ (S. 5).

In fünf Kapiteln zeichnet die Autorin konzise nach, wie der theoretisch eher unbegabte Nationalökonom Bernhard Harms (1876–1939) am Vorabend des Ersten Weltkriegs ein „praxisorientierte[s] Wissenschaftsverständnis“ ausbildete, das die Bereitstellung vermeintlich „objektiver Erkenntnisgrundlagen“ für wirtschaftliches und politisches Handeln versprach, dieses „im Verlauf der 1920er Jahre wissenschafts- und wirtschaftspolitisch anschlussfähig machte“ (S. 2) und dabei sowohl die eigene wirtschaftspolitische Expertise als auch das Institut erfolgreich profilierte. Ihren Zuschnitt erklärt sie mit der zeitgenössischen Wahrnehmung einer engen Verzahnung zwischen der Person Bernhard Harms’ und dem Institut für Weltwirtschaft. Indem sie die Ansätze der intellektuellen Biographie und der wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung der Entwicklung des Instituts für Weltwirtschaft als Ort der Wissensproduktion verknüpft, möchte Eiling zugleich Harms’ eigenes Selbstverständnis hinterfragen, der eine strikte Trennung zwischen „objektiver“, wertfreier ökonomischer Theorie und privatem Denken bzw. seiner Tätigkeit als wirtschaftspolitischer Experte postulierte. Quellenbasis von Eilings Untersuchung bilden Korrespondenzen, persönliche Notizen und Tagebücher sowie Harms’ wissenschaftliche Publikationen und Vorträge. Um Lücken über Harms’ Lektüren sowie die Debatten und Diskurse, die sein Denken prägten, zu füllen, ergänzt Eiling diese Grundlage durch zeitgenössische deutschsprachige Texte, „in denen vergleichbare Motive und Kategorien im Zentrum standen“ (S. 13). Diese lässt sie „in einen Dialog“ mit Harms’ Denken treten (S. 13).

Nach der Darstellung ihres Forschungsdesigns in der Einleitung (zugleich Kapitel eins) zeichnet Eiling in einem aufschlussreichen zweiten Kapitel die Entwicklung von Harms’ Denken zwischen 1902 und 1912 nach. Sie beschreibt, wie sich der Fokus des Ökonomen insbesondere durch den Eindruck einer achtmonatigen Ostasienreise im Jahr 1910 von dem sozialpolitischen Motiv einer Versöhnung der Interessen von Arbeiter- und Unternehmerschaft „zu einem liberal-imperialistischen Ideal deutscher ‚Weltpolitik‘“ verlagerte (S. 27). Dadurch habe Harms „seine Versöhnungsideen an die Ränder der Welt [verschoben], indem er sich durch imperiale Expansion eine Entschärfung der sozialen Spannungen im Reich erhoffte“ (S. 92). Dies habe sich unter anderem in seiner Weltwirtschaftslehre von 1912 manifestiert, die zugleich „den epistemologischen Grundstein“ des Instituts für Seeverkehr und Weltwirtschaft (IfW) an der Universität Kiel gebildet habe (S. 73). Das Buch erntete scharfe Kritik von Kollegen, stieß jedoch auf reges Interesse bei Unternehmern sowie Mitgliedern des Hauptverbands deutscher Flottenvereine im Ausland, die die Gründung des Instituts finanziell unterstützten. Wie Eiling resümiert, habe Harms’ Weltwirtschaftslehre „einen eklektischen Versuch dar[gestellt], dem Unternehmertum theoretisch-methodisch entgegenzukommen, von dem Harms sich die Finanzierung seiner Forschung erhoffte“ (S. 82). Geprägt durch seine Begegnungen mit deutschen Unternehmern in den fernöstlichen Kolonien habe er sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit unternehmerische Standpunkte zu eigen gemacht und darauf aufbauend versucht, eine praxisorientierte „Weltwirtschaftslehre“ zu begründen, die zugleich Grundlage für den Ausbau deutscher Handelsmacht bilden könnte – ein Vorhaben, für das Kollegen wie Moritz Julius Bonn nur Spott übrighatten.2

Das umfangreiche dritte Kapitel „Praxis“ beschreibt in drei Phasen die institutionelle Entwicklung des IfW unter der Leitung von Berhard Harms zwischen 1913 und 1933. In Teil A, „Zukunft“, zeichnet Eiling Harms’ Bemühungen um den Aufbau und Ausbau des Instituts vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis 1920 nach und zeigt durch akribische Quellenarbeit den Einfluss zeitgenössischer Werke und Diskurse auf Harms’ Selbststilisierung und Rhetorik auf. Besonders Schumpeters Konzept des dynamischen Unternehmers stellt die Autorin als zentral für Harms’ Selbstdarstellung heraus. Harms erscheint als findiger Redner, der geschickt an Patriotismus, Imperialismus und Profitstreben deutscher Unternehmer appellierte und dadurch auch in Kriegs- und Krisenzeiten große Summen für sein Institut mobilisieren konnte. Die Umdeutung des Ersten Weltkriegs als Kampf um weltwirtschaftliche Einflussnahme und das Versprechen eines exklusiven, international aufgestellten ökonomischen Nachrichtendienstes, dem im Wirtschaftskrieg eine zentrale Rolle zukomme, bildeten dabei wichtige Strategien. In Teil B, „Krisen“, zeigt Eiling die ökonomischen Folgen von Krieg und Inflation für das IfW zwischen 1920 und 1923 auf, das in dieser Zeit die Nachrichtenabteilung aufgeben musste. Zugleich habe es Harms’ abermals geschickt verstanden, zeitgenössische Diskurse, insbesondere die verbreitete Krisenrhetorik, zu nutzen, um die politische und ökonomische Bedeutung des Instituts herauszustreichen und seinen Fortbestand zu sichern. Dabei verabschiedete sich Harms auch von dem bisherigen Prinzip einer vornehmlich privaten Finanzierung des IfW und bemühte sich erfolgreich um staatliche Gelder. Teil C, „Strukturwandlungen“, beschreibt, wie Harms nach dem ökonomischen Scheitern des wirtschaftlichen Nachrichtendienstes und dem Wandel der Finanzierungsstruktur begann, einen neuen Forschungsschwerpunkt am Institut zu etablieren. Mit der Gründung der „Abteilung für statistische Weltwirtschaftskunde und internationale Konjunkturforschung“ (AstWiK) avancierte die Konjunkturforschung seit 1926 zum „neuen Markenkern des IfW“ (S. 216), der dem Institut zu internationalem Renommee verhalf. Dadurch gewann auch Harms als wirtschaftspolitischer Experte an Prestige, wobei er die Mitarbeiter:innen der AstWiK intensiv für seine Tätigkeit in der Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung, der Wirtschaftsenquete des Reichswirtschaftsministeriums und der Friedrich List-Gesellschaft einspannte. Eiling betont, dass Harms’ eigene Arbeiten eklektisch und inkonsistent blieben (S. 217) und er zudem sowohl inhaltlich als auch in seinem pragmatischen Wissenschaftsverständnis deutlich abwich von den Ideen seiner Mitarbeiter:innen. Dank der innovativen und theoretisch anspruchsvollen Arbeit der AstWiK-Mitglieder um Adolf Löwe sei es ihm in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre jedoch erneut gelungen, die eigene Expertise und das Institut zu profilieren. Schwere Krankheit, das nach der Weltwirtschaftskrise angeschlagene Ansehen der Konjunkturtheorie und die veränderten politischen Kräfteverhältnisse seit 1933 hätten diesem „Höhepunkt seines Erfolgs“ ein Ende gesetzt (S. 301).

Führende Mitglieder der AstWiK wurden 1933 zur Emigration gezwungen, die AstWiK selbst wurde aufgelöst. Auch Bernhard Harms wurde zum Rücktritt als Direktor des IfW gezwungen. Wie Lisa Eiling im vierten Kapitel argumentiert, verhielt Harms sich auch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme opportunistisch. Erneut versuchte er, seine eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen durch Anbiederung an die neue politische Führung zu verbessern. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Eilings Darstellung von Harms’ Antrittsrede als Honorarprofessor in Berlin aus dem Jahr 1935 und ihr Bericht über den anschließenden Briefwechsel zwischen Harms und seinem Kollegen Werner Richter. Der jüngere Kollege kritisierte Harms’ Neigung „unter allen Umständen mit dem jeweiligen Staate und seinem System ausgesöhnt zu sein“ und warf ihm vor, aus Konformismus seine gesellschaftliche Verantwortung als Gelehrter zu verraten (S. 317) – ein Vorwurf, den Harms zwar verneinte, aber letztlich nicht auszuräumen vermochte. Im fünften Kapitel, das zugleich den Schluss bildet, zeichnet Eiling noch einmal die vielfältigen Wandlungen und Anpassungsleistungen von Bernhard Harms zwischen 1902 und 1933 nach.

Lisa Eiling hat mit ihrer Arbeit eine aufschlussreiche und innovative Untersuchung vorgelegt. Mitunter hätte die Studie durch eine stärkere Verortung in wissensgeschichtlichen Diskursen gewinnen können. So hätte man beispielsweise gern erfahren, wie Eiling ihre Erkenntnisse in wissenshistorische Untersuchungen zur Zirkulation von Wissen im Allgemeinen und dem Verhältnis zwischen dem Reisen und der wirtschaftswissenschaftlichen Wissensproduktion im speziellen einordnet.3 Auch eine vergleichende Bezugnahme auf das in den letzten Jahren gewachsene Forschungsfeld zu wissenschaftlichen Großprojekten und der Figur der/s Wissenschaftsorganisators/in wäre interessant gewesen.4 Und schließlich hätte die Arbeit profitiert von einem Rückgriff auf die zahlreichen Studien, die in den letzten Jahren versucht haben, den unsichtbar gemachten Anteil von Frauen an der Wissensproduktion und dem Nachleben wissenschaftlicher Werke sichtbar zu machen.5 In ihrem Epilog bezeichnet Eiling es als „Herausforderung“, ein zeitgemäßes Buch zu schreiben, das fast ausschließlich von Männern handelt (S. 337). Umso mehr erstaunt, dass die Autorin zu Beginn ihrer Studie erklärt, dass Bernhard Harms’ Familie in ihrem Buch keine Rolle spielen werde, weil das Buch „die intellektuelle Biographie des Nationalökonomen und Institutsgründers in den Mittelpunkt stellt“ (S. 24). Auch hier wäre denkbar gewesen, die Lücken in der Überlieferung zum Beitrag von Frauen zur Forschung am Institut und zu Harms’ eigenem wissenschaftlichen Arbeiten durch Rückgriffe auf andere Quellen und Forschungsbeiträge zu schließen.

Diese Kritikpunkte sollen jedoch nicht davon ablenken, dass es Lisa Eiling durch eine akribische Quellenarbeit und kluge Analyse, die stets den breiteren intellektuellen Kontext einbezieht, gelingt, das Wechselverhältnis zwischen der Selbststilisierung Harms’, den zeitgenössischen Entwicklungen in der Wirtschaftswissenschaft, den wirtschaftspolitischen Herausforderungen der Zwischenkriegszeit sowie Entwicklung und Erfolg des IfW herauszuarbeiten. Auch ihre These, dass Harms’ Erfolg in erster Linie auf sein praxisorientiertes Wissenschaftsverständnis und sein ausgeprägtes unternehmerisches Handeln zurückzuführen sei, bietet einen anregenden Ausgangspunkt für künftige wissenshistorische Untersuchungen zur Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften, der Rolle von Wissenschaftsorganisator:innen und der Geschichte des Instituts für Weltwirtschaft nach 1945.6

Anmerkungen:
1https://www.ifw-kiel.de/de/institut/ueber-das-ifw-kiel/ (24.01.2024).
2 Vgl. Moritz J. Bonn, Eine neue Wissenschaft?, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 33,3 (1911), S. 842–852.
3 Vgl. den inzwischen klassischen Artikel von James A. Secord, Knowledge in Transit, in: Isis 95,4 (2004), S. 654–672; zum Verhältnis zwischen Reisen und der wirtschaftswissenschaftlichen Wissensproduktion, siehe Mauro Boianovsky / Harro Maas, Introduction: Roads to Economic Knowledge: The Epistemic Virtues of Travel across the History of Thought, in: History of Political Economy 54,3 (2022), S. 383–392.
4 Vgl. beispielsweise Torsten Kahlert, Unternehmungen grossen Stils. Wissenschaftsorganisation, Objektivität und Historismus im 19. Jahrhundert, Berlin 2017; Tommy Stöckel, Wissenschaftsorganisatoren in den Sozialwissenschaften 1890–1940, Wiesbaden 2022.
5 Vgl. mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung Theresa Wobbe, Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2003; David Kuchenbuch, Zum Diktieren in den Geisteswissenschaften 1800–1989, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 869 (2021), S. 27–40; Cléo Chassonnery-Zaïgouche / Evelyn L. Forget / John D. Singleton, Women and Economics: New Historical Perspectives, in: History of Political Economy 54,S1 (2022), S. 1–15; Jennifer Burns, Hidden Figures: A New History of the Permanent Income Hypothesis, in: History of Political Economy 54,S1 (2022), S. 43–68; Christian Flow, Encountering Huberia: Positioning an Eighteenth-Century Professor in Time, in: Journal for the History of Knowledge 4 (2023), S. 73–99.
6 Zur Geschichte des Instituts während des Nationalsozialismus, vgl. Gunnar Take, Forschen für den Wirtschaftskrieg. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft im Nationalsozialismus (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 25), Berlin 2019.

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