B. Aschmann (Hrsg.): Katholische Dunkelräume

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Titel
Katholische Dunkelräume. Die Kirche und der sexuelle Missbrauch


Herausgeber
Aschmann, Birgit
Erschienen
Paderborn 2022: Brill / Schöningh
Anzahl Seiten
XXVII, 273 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ute Gause, Lehrstuhl für Reformation und neuere Kirchengeschichte Evangelisch-Theologische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum

Birgit Aschmann, Professorin für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität, verantwortet diesen Sammelband, der aus einer Tagung der Kommission für Zeitgeschichte im Oktober 2020 in Bonn hervorgegangen ist. Einleitend gibt sie „Denkanstöße für eine historiographische Aufarbeitung“ mit vier Zielen, die die Tagung verfolgt habe: Erstens sollte die Thematik gesellschaftspolitisch verankert werden, das heißt das Thema gesellschaftlich wahrgenommen und aufgearbeitet werden. Zweitens sollte die Bearbeitung interdisziplinär sein, unter anderem in Zusammenarbeit mit Geschichtswissenschaft, Psychologie, Pädagogik und Jura. Drittens sollte die Frage nach einem „katholischen Spezifikum“ gestellt werden, also ob es signifikante Unterschiede zu anderen Räumen gibt, in denen Missbrauch stattfindet (wie innerhalb der Familie, in Sportvereinen oder anderen Institutionen). Viertens sollen die Potentiale eines historiographischen Zugangs ausgelotet werden, wie beispielsweise die Einordnung in einen breiteren Kontext des gesellschaftlichen Wertewandels, der politischen Rahmenbedingungen und der religiösen Deutungsmuster.

Die drei Teile des Sammelbandes widmen sich jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten. In Teil I geht es um den Kontext, das heißt die „Aufmerksamkeitskonjunkturen“, die das Thema erfuhr; Teil II fragt nach den Bedingungsfaktoren in Justiz, Pädagogik und Psychologie; Teil III zeigt beispielhaft – meist an Einzelfällen – wie die Geschichtswissenschaft an der Aufarbeitung von Missbrauch beteiligt war und ist.

Der Kirchenhistoriker Wim Damberg gibt – in Teil I – in seinem Beitrag „Missbrauch. Die Geschichte eines internationalen Skandals“ einen Überblick, wann und wo erste Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche publik gemacht wurden. Auch wenn in Irland erste Aufarbeitungen bereits in den 1990er-Jahren begannen, kam es erst 2002 mit dem Bostoner Missbrauchsskandal zum „point of no return“ der Aufmerksamkeit. 2010 nahm dann in Deutschland – wie auch in Belgien und den Niederlanden – ein Aufarbeitungsprozess an Fahrt auf. In Rom richtete Papst Franziskus 2013/14 eine Päpstliche Kommission zum Schutz Minderjähriger ein. Thomas Großbölting behandelt den „Sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche als Skandal“ und charakterisiert Skandale als „,Orte der Konfrontation‘, an denen Machtstrukturen aufeinanderprallen“ (S. 29). Anhand zahlreicher Beispiele macht er sichtbar, wie spät Missbrauchsopfer katholischer Geistlicher es wagten, an die Öffentlichkeit zu treten. Gleichzeitig stellt Großbölting einen Konnex zwischen Pastoralmacht / Seelenführung und dem bisherigen Schweigen der Betroffenen her. Hans Zollner stellt „Mentalitätengeschichtliche Betrachtungen zum Missbrauch in der katholischen Kirche“ an.

Teil II beginnt mit dem Beitrag von der Strafrechtlerin Frauke Rostalski zur „Entdeckung des Missbrauchs in der Rechtspraxis“. Sie artikuliert eingangs, wie wichtig die Bestrafung von Tätern ist, um den Opfern zu bestätigen, dass auch die übrigen Gesellschaftsmitglieder die Straftat entschieden verurteilen. Sie argumentiert deshalb, dass durch die MHG-Studie ein Anfangsverdacht entstanden sei, dem die Justiz mit ihren Ermittlungen nur in Teilen gerecht geworden ist. Auch Durchsuchungen als verbreitetes Ermittlungsinstrument der Strafverfolgungsbehörden seien nicht eingesetzt worden. Die Kirchenrechtlerin – die 2018 Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen wurde – Myriam Wijlens untersucht „Entwicklungen im kanonischen Recht zwischen 1983 und 2020“. Rechtsmaßnahmen und Änderungen kirchlicher Gesetze würden als Reaktion auf Erkenntnisse erfolgen, nicht als selbständiges Agieren der Kirche. Sie betrachtet beispielhaft Gesetzesänderungen des Kirchenrechts (Codex Juris Canonici und Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium) zwischen 1983 und 2000 und zeigt damit eine Dynamik auf. Die Sozialpädagoginnen Sabine Andresen, Andrea Pohling und Nina Schaumann befassen sich mit „Vertrauen, Verletzbarkeit und Verantwortung als Erkenntniskategorien für Aufarbeitung sexueller Gewalt in pädagogischen Kontexten“. Konstatiert wird, dass auch in der Erziehungswissenschaft sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche bis zum Jahr 2010 „randständig behandelt“ wurde (S. 100). Peter Beer gibt in seiner Darstellung „Missbrauch an katholischen Schulen“ einen Überblick über die Genese und spezifischen Mentalitäten katholischer Schulen. Ein „katholisches Spezifikum“ (S. 128) ist seines Erachtens nicht festzustellen, weil Abschottung, Machtverhältnisse und unklare Rollenverständnisse Faktoren sexuellen Missbrauchs darstellen, die sich auch in anderen Schulen feststellen lassen. Jörg M. Fegert untersucht „Veränderungen der medizinischen Wahrnehmung und des Umgangs mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder“. Er konstatiert, dass „hören, verstehen, einordnen und Position beziehen“ als psychiatrisches Handwerkszeug zur Traumabewältigung des sexuellen Missbrauchs dient.

Teil III behandelt historische Fallstudien zu sexuellem Missbrauch. Dagmar Lieske eröffnet mit einem Beitrag zum „Umgang mit sexuellem Missbrauch im Nationalsozialismus“. Es wird deutlich, dass zwar eine Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs härter bestraft werden konnte als während der Zeit der Weimarer Republik, was aber nichts mit Kinderschutz zu tun hatte. Hans Günter Hockerts wendet sich in einer Relektüre den „Sittlichkeitsprozessen gegen katholische Ordensleute und Priester in der NS-Zeit“ zu, da er diese bereits 1971 untersucht hatte. Er urteilt, dass die Sittlichkeitsprozesse im Nationalsozialismus gerade nicht die Kirche für das Thema sensibilisiert haben, sondern eher im Gegenteil die Haltung stützten, dass die Aufdeckung von Missbrauchsfällen eine Attackierung der Kirche zu Folge haben würde. Einen konkreten Fall vertuschten Missbrauchs in den Jahren 1924 bis 1936 im Erzbistum Freiburg stellt Dominik Burkhard dar. Die als 20-Jährige von einem Priester mutmaßlich vergewaltigte Ottilie G. beging 1942 Suizid. Eine weitere Mikrostudie liefert Christine Hartig, die „Sexuelle Gewalt eines Klerikers im Feld von Theologie, Psychiatrie und Justiz (1950er–1970er Jahre)“ untersucht. Dabei wird deutlich, dass in dieser Zeit ein „Klima der Akzeptanz von sexueller Gewalt existierte, das von einer Negierung der Betroffenenperspektive gekennzeichnet war“ (S. 228). Bernhard Frings schließlich fügt eine weitere Einzelfallstudie hinzu, indem er den „Umgang mit einem pädophilen Priester im Bistum Münster (1958–1972)“ rekonstruiert, das sogenannte „Menetekel“ des Falls Pottbäcker. Klaus Große Kracht fragt abschließend danach, inwiefern geschichtswissenschaftliche Forschung zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen in der katholischen Kirche beitragen kann.

Der Sammelband bietet ein informatives Spektrum von Zugängen, das nicht nur für den kirchlichen Bereich Anregungen zu weiterer Forschung gibt. Unterbelichtet bleibt die eingangs gestellte Frage nach dem „katholischen Spezifikum“. Am ehesten bietet Große Kracht einen Ansatz, wenn er von „spezifisch katholischer Vulnerabilität“, katholischem Sündenpessimismus (Ernst Troeltsch) und einer kirchlichen Hierarchie ausgeht, die das Selbstbewusstsein von katholisch sozialisierten Kindern massiv geschädigt habe.

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