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Titel
Stadtnomaden. Mobilität und die Ordnung der Stadt: Berlin und Prag (1867–1914)


Autor(en)
Schaub, Felizitas
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Erschienen
Göttingen 2023: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
267 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Templin, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Universität Osnabrück

Die hohe Mobilität von Teilen der städtischen Bevölkerung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ist bereits seit den 1970er-Jahren zum Gegenstand sozialhistorischer Studien geworden. Felizitas Schaub knüpft in ihrer Dissertation, die an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden ist, an die Befunde dieser Forschung an, erweitert aber die Perspektive, indem sie Wahrnehmungs- und Erfassungs-, Regulierungs- und Aushandlungsweisen zeitgenössischer Mobilitäten in die Analyse einbezieht. Mit Blick auf innerstädtische Umzüge ebenso wie regionale und internationale Migrationsprozesse fragt sie, „wie gesellschaftliche Ordnung unter den Bedingungen dieser Fluktuation (obrigkeitlich) angestrebt wurde“ und wie „Vergemeinschaftung […] im Alltag funktionierte“ (S. 13) – etwa über Netzwerke und „die Etablierung formeller und informeller Strukturen“ (S. 21), die wiederum räumlich verortet waren und so als Ankerpunkte von Mobilitäten dienten (S. 23–25). Damit knüpft die Autorin an Impulse der Mobility Studies an, die in den letzten Jahren auch vermehrt in der Historischen Migrationsforschung aufgegriffen worden sind, ohne dass diese theoretischen Bezüge allerdings intensiver diskutiert würden. Explizit nennt Schaub dagegen raumtheoretische und sozialanthropologische Ansätze als Bezugspunkte ihrer Studie.

Die Studie folgt einer akteurszentrierten Perspektive, die nach den Strategien und Praktiken unterschiedlicher Akteursgruppen im Umgang mit Mobilitäten fragt und deren Aushandlung untersuchen will. Gegliedert ist ihre Arbeit in sechs Hauptkapitel, die jeweils das „(Er)leben“, „Erforschen“, „Kontrollieren“, „Ermöglichen“ und „Aushandeln“ von Mobilität zum Gegenstand haben. Dabei bieten die einzelnen Kapitel unterschiedliche Fallstudien, etwa zur statistischen Wissensproduktion, zu Arbeitsnachweisen, zu migrantischen Netzwerken chinesischer und italienischer Gewerbetreibender sowie zum Straßenhandel. Dieses Vorgehen ist angesichts der Breite des Themas „Mobilität“ nachvollziehbar, die Auswahl der Fälle wird allerdings nur ansatzweise begründet. Das gilt auch für die Wahl der zwei Großstädte Berlin und Prag, die im Fokus der Arbeit stehen und aufgrund der Quellenlage nicht systematisch, sondern „mit einem perspektivischen Vergleich“ (S. 17) untersucht werden. Ihre Auswahl begründet Schaub mit den unterschiedlichen „politischen Möglichkeiten“ der deutschen Reichshauptstadt und der Hauptstadt Böhmens, eines Kronlandes Österreich-Ungarns.

In Kapitel 2 bietet Schaub einen Überblick über Mobilitäts- und Migrationsprozesse der beiden Großstädte, ihre zeitgenössische Wahrnehmung und die Herausforderung der Stadtverwaltungen durch diese. Berlin wie Prag erlebten um 1900 ein rapides Bevölkerungswachstum, wobei Zuzüge primär auf Binnenmigration beruhten. Internationale Migration war in der deutschen Reichshauptstadt, in der das „Fremde“ als Teil des „weltstädtischen“ Charakters inszeniert wurde (S. 41–44), aber deutlich präsenter als in Prag. Demgegenüber dominierten in Prag Nationalitätenkonflikte zwischen deutschen und tschechischen Bevölkerungsgruppen, wobei sich die Mehrheitsverhältnisse im Untersuchungszeitraum aufgrund der ausgeprägten tschechischen Zuwanderung verschoben. Die Bedeutung der hohen Mobilität als administrative Herausforderung arbeitet die Autorin schließlich kurz am Beispiel der Einschulungspraxis in Berlin und der Gesundheitspolitik in Prag heraus.

Wie Zuwanderungen, Abwanderungen und innerstädtische Wanderungen zeitgenössisch zu erfassen versucht wurden, beleuchtet Schaub in Kapitel 3 mit Blick auf die administrative Wissensproduktion. Dabei zeigt sie, wie die zeitgenössisch erst im Aufbau befindliche Statistik versuchte, Mobilität sowie unterschiedliche Gruppen und Charakteristika der mobilen Bevölkerung zu erfassen und zu kategorisieren. So unterschied man in Berlin zunächst zwischen „stabiler“ und „flottierender Bevölkerung“ (wobei ein eigener Haushalt als Unterscheidungskriterium galt). In Prag war dagegen das sogenannte Heimatrecht, das auf die lokale Herkunft verwies, aber auch vererbt wurde, zur Trennung „Einheimischer“ von „Ortsfremden“ ausschlaggebend (S. 74–79). Schaub zeigt in diesem Kapitel anschaulich, wie alte Verfahrensweisen verschwanden und neue Kategorien und Differenzierungen aufkamen, wobei man als Leser mitunter Erklärungsansätze für entsprechende Umbrüche vermisst. Schließlich analysiert das Kapitel – allerdings nur für Berlin, anhand von Veröffentlichungen des Statistikers Hermann Schwabe – zeitgenössische bürgerliche Deutungen der hohen Bevölkerungsmobilität, die als bedrohlich und destabilisierend galt.

Das vierte Kapitel wendet sich der Kontrolle von Mobilität zu und untersucht entsprechende Strategien und Institutionen am Beispiel des Meldewesens sowie des Umgangs mit Obdach- und Arbeitslosigkeit. Die Revision des Meldewesens, die Anpassung der offiziell festgelegten Umzugstermine oder – in Prag – die Abschiebung von Binnenmigrant:innen, die fürsorgebedürftig wurden, in ihre Herkunftsgemeinden, bildeten verschiedene kommunale Strategien, Mobilität zu regulieren. Ausführlicher untersucht Schaub Arbeitsnachweise und kommerzielle Stellenvermittlungsbüros. Über erstere erhofften sich die Kommunen, aber auch andere Akteursgruppen, unter anderem eine Lenkung und Regulierung der Zuwanderung – Bemühungen, die in der Praxis nicht selten scheiterten, etwa an der Nutzung alternativer, informeller Vermittlungskanäle (S. 130f.), wenn Vermittlungsbemühungen ins Umland nur auf geringe Resonanz bei den Arbeitssuchenden stießen (S. 120f.) oder eine geplante Dezentralisierung der Arbeitsnachweise nicht zustande kam (S. 133f.). Auf der anderen Seite gab es Befürchtungen, durch die Schaffung eines städtischen Arbeitsamtes die Zuwanderung nach Berlin zu befördern. Schaub zeigt in diesem Kapitel, wie die entstehende kommunale Sozialpolitik eng mit Bemühungen um die Regulation und Einschränkung von Mobilität und Zuzug verknüpft war.

Das fünfte Kapitel dreht die Perspektive um und nimmt „informelle Strukturen der Migration“ in den Blick, wobei mit chinesischen Händlern und italienischen Gipsfigurenmachern nun erstmals internationale Migranten im Fokus der Untersuchung stehen. In der ersten Fallstudie (die hier näher vorgestellt werden soll) knüpft Schaub an bestehende Studien von Lars Amenda und Dagmar Yu-Dembski zur chinesischen Migration in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert an und erweitert diese um eine faszinierende Mikrostudie zum „chinesischen Viertel“ rund um den Schlesischen Bahnhof. Dieses diente über mehrere Jahre als Anlaufstation für reisende, in ein internationales Netzwerk eingebundene chinesische Händler. Die Autorin kann hier zeigen, wie die Migranten einerseits auf stabile Infrastrukturen angewiesen waren, zu denen auch ein kleiner Kreis deutscher Vermieter:innen zählte, während ihre hohe Mobilität andererseits auch dadurch bedingt war, dass sie bürokratische Regularien gezielt unterliefen, indem sie etwa Pässe und Handelslizenzen untereinander weitergaben – ein Befund, der auch zeitgenössische statistische Erhebungen, auf die die historische Forschung immer wieder rekurriert, in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Die Akteursgruppe der Straßenhändler wird dann in Kapitel 6 mit Blick auf die Aushandlung von Mobilität einer genaueren Analyse unterzogen. Der mobile Straßenhandel galt sowohl in Berlin als auch in Prag als öffentliches Ärgernis – zumindest galt dies für bestimmte Gruppen des Mittelstandes, etwa Laden- und Hausbesitzer:innen, die sich über unliebsame Konkurrenz oder Lärm beschwerten. Während das „fliegende Gewerbe“ in Prag strenger reglementiert war, griff Ende des 19. Jahrhunderts auch die Berliner Polizei verstärkt zu restriktiven Maßnahmen. Diese richteten sich besonders gegen ausländische Händler:innen, denen der Straßenverkauf 1890 auch in Berlin verboten wurde.

Insgesamt bietet die Studie interessante Einblicke in den vielfältigen Umgang mit Mobilität in zwei mitteleuropäischen Großstädten um 1900 – auch wenn sie den Rezensenten nicht in allen Punkten überzeugen konnte. Dies betrifft zunächst den von Schaub gewählten Städtevergleich. Zu oft bleiben Befunde zu den beiden Großstädten nebeneinander stehen, ohne wirklich miteinander verglichen zu werden (erst das Fazit sticht hier positiv hervor). Ausführungen zu Prag fallen oft kurz aus und fehlen in Kapitel 5 fast vollständig (abgesehen von S. 169f.). Auch bei einer disparaten Quellenlage ist es bedauerlich, dass lokale Spezifika nicht aufgegriffen wurden, um das Fallbeispiel Prag stärker zu konturieren. So stellt Schaub den Nationalitätenkonflikt mit Verweis auf bestehende Forschungen und ihre Absicht, „nicht nur auf die ethnische Zugehörigkeit der Migranten zu fokussieren“ (S. 21), nur überblicksartig vor (S. 45–47), ohne entsprechende Ethnisierungsprozesse in die Analyse der Aushandlung von Mobilitäten systematisch einzubeziehen.

Interessante Befunde, aber auch offene Fragen liefert die Studie mit Blick auf das Verhältnis der unterschiedlichen Formen von Mobilität zueinander. Wie verhielt sich etwa die Frage der Zuwanderung zum ständigen Wohnungswechsel? Und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestanden zwischen innerstädtischen, regionalen und internationalen Mobilitäten? Schaub konturiert die informellen Netzwerke sehr kleiner Gruppen internationaler Migrant:innen, vernachlässigt aber die viel größeren Zuwanderergruppen aus Deutschland bzw. Österreich-Ungarn selbst (was sie im Fazit einräumt und mit der schwierigen Quellenlage begründet), so dass der Charakter und Stellenwert solcher Netzwerke – aber auch nicht angesprochener formeller Strukturen, etwa regionaler Landsmannschaften – mit Blick auf die mobile und migrierte Stadtbevölkerung generell letztlich offen bleibt. Gelungener in dieser Hinsicht ist das letzte Kapitel, in dem die internationale Mobilität einer kleinen Gruppe migrantischer Händler:innen und ihre besondere Stigmatisierung zur alltäglichen Mobilität des Straßenhandels ins Verhältnis gesetzt wird – und das so den Mehrwert einer Einbeziehung unterschiedlicher Mobilitätsformen in die Analyse aufzeigt. Ungeachtet der genannten Kritikpunkte hat Felizitas Schaub eine anregende Studie zur Geschichte urbaner Mobilitäten und ihrer Erfassung, Regulierung und Aushandlung vorgelegt, die viele Impulse für weitere Forschungen in diesem Feld liefert.

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